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XV.
Der mögliche Zusammenbruch der Zivilisation

Washington, den 26. November

In einem früheren Artikel habe ich die einfachen Tatsachen über die Lage von Zentral- und Osteuropa berichtet. Es ist ein Zusammenbruch des modernen Zivilisationssystems, der auf den Zusammenbruch des Geldes zurückzuführen ist, ohne welches ein organisiertes städtisches Leben, der Fabrikbetrieb, das Unterrichtswesen und ein geordnetes Verkehrswesen unmöglich sind. Geht dies ungehindert bis zum naturgemäßen Ausgange weiter, so werden Mittel- und Osteuropa das Schicksal Rußlands erleiden. Sie werden in eine Verfassung geraten, in der die Städte ausgestorben, verödet und in Ruinen daliegen, die Eisenbahnen unbrauchbar werden. Nur wenige Menschen werden am Leben bleiben, außer unwissenden und verkommenden Bauern, die ihren Lebensunterhalt selbst produzieren und eine gewisse primitive Ordnung unter sich aufrechterhalten werden. Auf allen diesen Gebieten erwartet uns ein Rückfall in die Barbarei. Sie werden bald auf das Niveau des ländlichen Kleinasiens und der Balkanstaaten herabsinken.

Wieweit wird sich dieser Verfall erstrecken?

Wir wollen uns von vornherein klar werden, daß er sich nicht weiter auszubreiten braucht. Es ist kein unabwendbarer Prozeß. Er könnte aufgehalten werden, er könnte gehemmt werden und eine Wiederherstellung der erschütterten Zivilisation könnte sofort in Angriff genommen werden, wenn die leitenden Weltmächte, ihren politischen Ehrgeiz eine Weile außer acht lassend, sich ehrlich zusammentun wollten zu einer Regelung des Bankrotts, wodurch die verarmten Nationen von ihrer Schuldenlast befreit und der Wert des Geldes wiederhergestellt würde. Wären sie erst wieder im Besitz eines vollgültigen Geldes, das vertrauensvoll angenommen und ohne Verlust aufgespart werden könnte, so würden die Dinge schon wieder in erfreulicher Weise vorwärtsgehen. Das Unterrichtswesen ist noch nicht ganz herabgekommen, die Gewohnheit der Arbeit, des Erwerbes und des Verkehrs sind noch nicht so verloren gegangen, daß nicht eine Gesundung möglich ist.

Ausgenommen vielleicht Rußland; Rußland wird in allem, soweit wir es beurteilen können, schon zu tief gesunken sein.

Wird aber keine energische Weltanstrengung gemacht, so werden bald die Stände der Handeltreibenden, der Qualitätsarbeiter, der Techniker, der Gelehrten, der Lehrer vernichtet und zersprengt sein. Diese Stände sind relativ leicht zu vernichten, aber sehr schwer wiederherzustellen. Die moderne Zivilisation wird dann wirklich zerstört sein, wenn nicht auf immer, so doch für lange Zeit und auf einem großen Gebiet, wenn diese Stände untergehen.

Dieser Prozeß ist vorläufig noch in ständiger Ausdehnung begriffen; wenn er sich auf Deutschland ausdehnt – und es scheint, daß er sich auf Deutschland auszudehnen im Begriff ist –, so wird wahrscheinlich auch Italien angesteckt werden. Italien ist sowohl wirtschaftlich wie finanziell sehr eng mit Deutschland verbunden. Der Tod Deutschlands würde eine Erstarrung der wirtschaftlichen Säfte Italiens zur Folge haben. Italien hat den brennenden Wunsch, zu Land und zur See abzurüsten. Aber Italien kann nicht abrüsten, solange Frankreich eine große Armee unterhält und zur See rüstet. Frankreichs Weigerung abzurüsten, verhindert die Abrüstung Italiens. Die Lira schwankt und fällt, ihr Wert fluktuiert, vielleicht nicht ganz im gleichen Maße wie die Mark und die Krone, aber viel zu stark für eine gesunde industrielle Entwicklung oder eine soziale Sicherheit. Italien leidet außerdem schwer unter seinen unruhigen Nationalisten, einem lärmenden, fahnenschwingenden Haufen posierender Abenteurer, ohne Voraussicht oder echte Vaterlandsliebe. Geschieht nichts, so gebe ich Deutschland ungefähr sechs Monate und Oberitalien zwei Jahre, bevor ein revolutionärer Zusammenbruch erfolgt.

Und Frankreich?

Dieses neue rhetorische Frankreich, das in voller Rüstung stehenbleibt, während niemand es bedroht, das neue Schiffe baut, um nicht vorhandene deutsche Heere zu bekämpfen, und das sich vor den Drohungen längst verstorbener deutscher Generäle zu schützen sucht – eines der haarsträubendsten Zitate Briands steht in der »Encyclopaedia Britannica« und muß mindestens zwanzig Jahre alt sein –, das wiederaufblühende Frankreich, das Italien und England anrempelt und glaubt, daß es den Amerikanern dauernd Sand in die Augen streuen kann; während es diese Dinge tut, wird dieses Frankreich sicher durch das allgemeine Unglück hindurchsteuern? Wird es seine ehrgeizigen Pläne verwirklichen können, sich zur allesbeherrschenden Machtstellung in Europa aufzuschwingen, einer Machtstellung des einzigen Überlebenden, des Hahns auf dem Düngerhaufen der allgemeinen Verwesung? Ich bezweifle es.

Beobachtet nur einmal den Franken an der Börse, während euch die wirkliche Bedeutung des französischen Bedürfnisses nach »Sicherheitsgarantien« allmählich zu dämmern beginnt. Beobachtet die Zeichnungen auf die nächste französische Anleihe zur Bezahlung von weiteren Unterseebooten und weiteren Senegalesen. Es mag sich doch als ein gar zu schweres Unternehmen für Frankreich erweisen, das ganze übrige Europa zu zerstören, den europäischen Handel zu vernichten durch die Vernichtung der Käufer und sich dann noch selbst zu retten. Wenn Frankreich einmal anfängt auseinanderzufallen, dürfte der vollkommene Zerfall ein sehr schneller sein. Unter der Oberfläche dieses übermäßigen französischen Patriotismus fließt ein tiefer Strom des Kommunismus, roh und rot und voll der Logik des Irrsinns.

Wir hören und reden von dem vernünftigeren, ernsteren Frankreich, dem wirklichen Frankreich, welches sich hinter der Rhetorik Briands und den fahnenschwingenden französischen Nationalisten verbirgt, von einem Frankreich, das großmütig genug ist, dem gefallenen Feinde wieder aufzuhelfen, und groß genug, um an die Wohlfahrt des Menschengeschlechts zu denken. Ich wünschte, wir hörten etwas mehr von diesem vernünftigeren Frankreich. Und zwar bald. Ich kann beim besten Willen nichts sehen als einen kriegerischen Volksredner, der, dumm und boshaft, Frankreich und ganz Europa der Vernichtung zuführt. Ich kann nicht einsehen, wie es für ein Frankreich der Rüstungen und der Abenteuer möglich sein sollte, am Rande des Abgrunds zu tanzen, ohne hineinzufallen.

Wenn wir uns von dem festländischen System ab- und dem atlantischen zuwenden und die Lage Großbritanniens ins Auge fassen, so sehen wir ein Land mit einer stabileren Währung und einer Tradition des sozialen Gebens und Nehmens, die stärker und festgewurzelter ist als die irgendeines anderen Landes in Europa. Aber dieses Land kann sich nicht selbst erhalten. Die Millionen seiner Einwohner leben zum großen Teil vom überseeischen Handel. England ist ganz hilflos abhängig von der Wohlfahrt anderer Länder, vor allem Europas. Eine Ebbe im Wohlergehen des Auslandes bedeutet eine Ebbe im Wohlergehen des Inlandes. Kein anderes Land empfindet die wirtschaftliche Ohnmacht Deutschlands so schwer wie England, kein anderes Land leidet so unter dem unruhigen Treiben der Franzosen. England versucht sich jetzt mit ungeheuren Massen erwerbsloser Arbeiter durchzuschlagen, und der Zustand der Dinge im Auslande bietet keine Hoffnung auf eine Verminderung dieser Last. Die Wohnungsverhältnisse der zahlreichen Bevölkerung haben sich seit dem Beginn des Krieges sehr verschlechtert. England kann sein Volk nicht mehr so ernähren, kleiden und unterrichten wie früher, wenn nicht der Verfall Europas aufgehalten wird.

Ich weiß nicht, welche politische Gestalt die Äußerung einer großen Verzweiflung in England annehmen würde. Die Neigung zu revolutionären Gewalttaten ist beim britischen Charakter nicht sehr stark, aber Menschen, die schwer in Bewegung geraten, sind oft schwer aufzuhalten. Der langsam wachsende Zorn der Engländer wird sich vielleicht nicht in einer Revolution äußern und dürfte sich vielleicht nicht im Innern austoben. Sie könnten vielleicht auf Frankreich erzürnt sein – vielleicht wäre auch Deutschland gerade auf Frankreich erzürnt. Ich muß aber gestehen, daß ich nicht weiß, was ein schwer leidendes England tun oder nicht tun könnte. Ganz klar ist es mir aber, daß der Schatten, der so schwarz über Petersburg liegt, sich bis London erstreckt.

Das ist in Kürze die heutige Lage Europas. Der Leser wird mir zugeben, daß hier ganz ehrlich nur solche Tatsachen angeführt wurden, die jedermann bekannt sind. Das ist nicht das Europa der Diplomaten und der Publizisten, es ist das wirkliche Europa und das Europa des gemeinen Mannes. Vor unseren Augen vollzieht sich ein Zersetzungsprozeß und ein Verfall, der schneller vorwärts schreitet und weiter um sich greift als die Zersetzung und der Verfall des römischen Reiches im 4. und 5. Jahrhundert. Seine unmittelbare Ursache ist die Zerstörung des Geldsystems unter der Last der Kriegsausgaben und der Kriegsschulden. Und die einzige Hoffnung, daß er sich noch aufhalten läßt, liegt in einer sofortigen und machtvollen Weltkonferenz zum Zweck der Aufhebung aller Kriegsausgaben, (sogar einschließlich, jener französischen Kriegsausgaben, die Briands Bewunderer so gerechtfertigt finden), und zum Zwecke der Schuldentilgung und der Wiedereinführung eines sicheren Geldwertes.

Es hat noch nicht das Aussehen, als ob die Washingtoner Konferenz diese Aufgabe in Angriff zu nehmen gedächte oder auch nur berücksichtigen wollte. Meine Hoffnung ist heute sehr gering und ich sehe dem Ergebnis, selbst einem engbegrenzten Ergebnis der hiesigen Dinge weniger vertrauensvoll entgegen. Ich zweifle mehr und mehr, ob die Konferenz die Stille-Ozean-Frage auch nur soweit regeln wird, wie ich dies vor wenigen Tagen hoffte.


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