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VIII.
China im Hintergrund

Washington, den 16. November

Die chinesische Propaganda in Amerika und Westeuropa scheint im ganzen zweckmäßiger geleitet zu werden als die der Japaner. Der chinesische Student kommt meines Erachtens in viel nähere Beziehungen zu dem gebildeten Amerikaner und Europäer, weil seine Gesinnung eine demokratische und keine aristokratische ist. Er hat einen ganz abendländischen Respekt vor der öffentlichen Meinung.

Die niederen Volksschichten in China mögen verarmt, unwissend und verkommen sein, aber in seinem Geistesleben ist der Chinese modern und nicht mittelalterlich, im selben Sinn, in dem der Japaner mittelalterlich und nicht modern ist. Die Chinesen »kommen« mit ihnen sozial gleichgestellten Abendländern »besser aus« als irgendein anderes asiatisches Volk. Immer zunehmende Scharen von Chinesen lernen heute Englisch, es ist die zweite Sprache der Chinesen.

Wenn nun Japan in Washington die Gestalt ist, auf welche die volle Bühnenbeleuchtung fällt, so ist China der Riese, der im Hintergrunde der Szene des sich jetzt abspielenden Stillen-Ozean-Dramas auftritt. Wir haben in letzter Zeit in den Zeitungen soviel über diese beiden Länder gelesen, es sind uns so viele Einzelheiten über sie berichtet worden, daß die meisten unter uns schon lange die wichtigsten, auf den Fall bezüglichen Tatsachen vollständig vergessen haben. Es wird eine Erholung sein, sie hier und jetzt noch einmal ins Auge zu fassen.

Wir wollen uns daran erinnern, daß China eine Einwohnerzahl hat, die mindestens doppelt oder dreimal so groß ist wie die der Vereinigten Staaten oder die von England und Frankreich zusammengenommen. Diese Bevölkerung ist im Besitz der ältesten bekannten Überlieferung ununterbrochener fleißiger Arbeit. Sie ist durch und durch zivilisiert, sie hat eine hohe Achtung vor Wissen und Kultur. Eine gemeinsame Literatur und eine uralte Tradition verbürgen die Einigkeit des Volkes.

In früheren Zeiten ist China öfter uneinig gewesen – immer nur, um sich wieder zu vereinigen. Es ist aber »altmodisch« geworden, bedenklich altmodisch, vielleicht gerade infolge seines Beharrungsvermögens. Es ist hinter der ganzen übrigen Welt zurückgeblieben in der Entwicklung seines Verkehrswesens und seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten. In bezug auf Mineralien und andere Naturprodukte sowie in bezug auf die Erwerbsfähigkeit seiner kräftigen und intelligenten Bevölkerung besitzt es mehr unverwerteten Reichtum als irgendein anderes Volk der Erde.

Aber erst seit ungefähr hundert bis zweihundert Jahren ist China zurückgeblieben. Vor wenigen Jahrhunderten war China ebenso zivilisiert wie Europa und politisch gefestigter. Binnen eines Jahrhunderts mag es von neuem die zivilisierteste und intelligenteste Macht der Erde sein, es mag in Friede und Eintracht mit den großen Staaten Amerikas und Europas zu neuer Blüte gedeihen.

Es kann sein – wenn China nicht in Stücke zerrissen und durch die Feindseligkeit äußerer Mächte nicht in einem Zustande von Schwäche und Unordnung erhalten wird.

Gegenwärtig befindet sich China in einem Stadium politischer Impotenz. Sein Mandschu-Imperialismus hat sich als hoffnungslos unzulänglich erwiesen, und China strengt sich jetzt an, sein Staatswesen nach modernen republikanischen Mustern offenbar in Nachahmung des amerikanischen Vorbildes neu zu gestalten. Vor einigen Jahrzehnten setzte Japan die ganze Welt in Erstaunen, als es sich nach preußischem Muster europäisierte. China macht jetzt, unter weit ungünstigeren Bedingungen, in einem viel größeren Land und mit einem viel weniger disziplinierten Volk den Versuch, sich zu amerikanisieren.

Es ist aber keine leichte Aufgabe, ein Volk mit einem Male von einer mittelalterlichen, autokratischen Staatsform zu einer modernen demokratischen hinüberzuleiten. Es ist sehr viel leichter sich zu verpreußen als sich zu amerikanisieren; denn im ersten Fall braucht man nur eine Klasse von Beamten auszubilden, im zweiten muß man ein ganzes Volk erziehen. China ist durch innere Unruhen zerrissen, der Süden verträgt sich nicht mit dem Norden. Es hat zwei oder noch mehr Regierungen, von denen jede den Anspruch erhebt, die chinesische Regierung zu sein; ganze Provinzen sind in die Gewalt militärischer Banden geraten. Es ist ein trauriger Anblick, aber es ist wohl ein unvermeidliches Übergangsstadium in der Entwicklung von Neuchina.

Bevor wir eine Beute der antichinesischen Propaganda werden, ist es gut, sich zu erinnern, wie lange es stets gedauert hat, bis die notwendigen Voraussetzungen gegenseitigen Verständnisses und gewohnheitsmäßiger Eintracht hergestellt waren, auf denen ein neues politisches System beruht. Frankreich z. B. war beinahe während der Dauer eines ganzen Jahrhunderts nach der großen Revolution von Aufruhr und politischen Unruhen erfüllt. Amerika nörgelte in einer schwächlichen und gefährlichen Weise durch mehrere Jahre nach den Freiheitskriegen hindurch, ehe es seine Bundesregierungen einsetzte. Es besiegelte seine Einigkeit erst nach riesenhaften Anstrengungen, es ist erst nach Ablauf eines Jahrhunderts zu wirklicher und dauerhafter Eintracht gelangt.

Während dieser langen Jahrzehnte der Prüfung predigten die auswärtigen Beobachter endlos über den Wankelmut der Franzosen und die politische Unfähigkeit der Amerikaner und weissagten mit absoluter Sicherheit den Zusammenbruch der Vereinigten Staaten, genau wie sie heute das junge China verhöhnen und die politische Auflösung der Chinesen vorhersagen. Wir müssen auch bedenken, daß die Kräfte des Wiederaufbaues und der Erneuerung in China gegen ganz besondere Schwierigkeiten und Einmischungen zu kämpfen haben, die ganz außerhalb der glücklicheren Erfahrungen Frankreichs und Amerikas liegen. Vor allem haben sie sich gegen ein ganz unerträgliches und lähmendes Übermaß auswärtiger Einmischung zu wehren.

Die Reihe glänzender Abenteuer und Zufälle, mittels welcher eine Londoner Handelsgesellschaft das Reich des Großmoguls als ein zwar effektvolles, aber etwas ungeschlachtes Juwel der britischen Krone einfügte, gab ein außerordentlich schlechtes Beispiel in den asiatischen Angelegenheiten. Ein unmöglicher Traum, das ganze Asien in ebensolche Gebiete zu zerteilen, bemächtigte sich dadurch des politischen Denkens in Europa. Das Reich des Mogul war selbst ein Raubstaat in einem von Kastengeist erfüllten Lande, und dies gab allen jenen europäischen Abenteurern das Ansehen von Angehörigen einer höheren Kaste, die großmütig genug war, untergeordnete Rassen aufzuzehren.

In diesem Geist hat Europa – Japan erscheint als hoffnungsvoller Schüler europäischer Methoden – fast ein Jahrhundert lang versucht, sich einzelne Portionen von China zu ergattern, sie zuzubereiten und zu tranchieren, indem es das bewundernswerte Volk ganz als untergeordnete Rasse behandelt. Das schlimmste, das man Japan hinsichtlich seines Verhaltens gegen China vorwerfen kann, ist, daß es gar zu europäisch gehandelt hat.

Man muß außerdem noch bedenken, was aus den Vereinigten Staaten geworden wäre, wenn in den Jahren der Uneinigkeit, die dem Bürgerkrieg vorausgingen, diese Schwierigkeiten noch durch folgende innere Verwicklungen kompliziert worden wären: Erstens, daß die meisten Ausländer, ausgenommen jetzt die Deutschen und die Österreicher, nicht den einheimischen Behörden unterstehen, so daß etwaige Streitigkeiten zwischen Ausländern und Chinesen an besondere auswärtige Gerichtshöfe verwiesen werden, daß diese Ausländer besonders bevorzugt werden in bezug auf Eigentumsschutz und Schiffahrt; zweitens, daß die chinesische Regierung keine Steuern erheben darf, die nach irgendeinem Tarif einen Durchschnittssatz von 5% überschreiten, und daß sie auch bei ihren inländischen Steuern von ausländischen (aber nicht chinesischen) Waren auf 2½% beschränkt ist, so daß die Chinesen in der Tat nicht imstande sind, genügende Abgaben zu erheben, um eine gut funktionierende Regierung zu unterhalten; drittens, daß fast alle chinesischen Eisenbahnen – und wie jeder Amerikaner weiß, ist das Verkehrswesen das eigentliche Lebensprinzip eines modernen Staates – im Besitze dieser oder jener fremden Nation sind.

Dies sind die offenbaren Nachteile der Lage, aber unter diesen leicht ersichtlichen Nachteilen liegt noch ein ungeheures verworrenes Netz von Interventionen zwischen Chinesen und chinesischen Angelegenheiten: Pläne weiterer Ausbeutung, finanzielle Verwicklungen, weitläufige Konzessionspläne und Projekte für »Einflußsphären« für diese oder jene eindringende Nation, und dieser auswärtige Einfluß ist nicht der Einfluß einer einzigen fremden Macht, die eine bestimmte einheitliche Politik betriebe, sondern der Einfluß einer Anzahl sich befehdender Mächte, die alle verschiedene Zwecke verfolgen und von denen jede an einem anderen Strange zieht. Wie wäre irgendein Land imstande, sich zu reorganisieren, während es in ein solches Netz äußerer Einmischungen verwickelt ist? Kein Volk der Erde könnte das.

Die nackte Tatsache ist die, daß, wenn China sich wieder aufrichten soll, dieses Netz zerschnitten werden muß. Es genügt nicht, Japan aus China auszuweisen oder eine »offene Tür« für China zu verlangen. Die offene Tür ist ganz zweckmäßig, um ein Gemach zu lüften, aber außerdem muß es auch von allem Unrat in seinem Inneren befreit werden. Dieser Unrat ist aber nicht wesentlich japanischer Herkunft.

Die fünf Großmächte sitzen bei der Konferenz an einem hufeisenförmigen grünen Tisch, und die vier kleinen Mächte sitzen an einem rechteckigen Tisch, der quer vor dem großen Tische steht, wie das Stück Eisen am hufeisenförmigen Magneten hängt. Links an der Ecke sitzen die drei chinesischen Vertreter neben den Japanern. Ich vermute, daß man ihnen gestatten wird, bei der Konferenz »Schantung« zu sagen, in bescheidenem Maße, aber nicht Tibet oder Tonkin noch die ostchinesische oder überhaupt irgendeine Eisenbahn zu erwähnen. Ich zweifle, ob Balfour und Briand genügenden Mut haben werden, diese verpönten Worte auszusprechen. Aber ein verantwortungsloser Journalist kann sie schreiben.

Wenn dem Kriege wirklich ein Ende gemacht werden soll, so muß China der uneingeschränkten Herrschaft der Chinesen ausgeliefert werden, und das bedeutet den Erlaß einer den eigenen Vorteil hintansetzenden Vorschrift seitens aller Großmächte. Für Amerika und Italien wird es leicht sein, diese zu befolgen, aber es wird ein arg schweres Opfer sein für jene beiden in der Aufteilung Chinas ergrauten Führer, Großbritannien und Frankreich. Keines dieser Völker ist wirklich bösartig, aber sie haben von alters her im Orient schlechte Gewohnheiten angenommen. In dieser Zeit führen aber schlechte Gewohnheiten sehr schnell ins Unglück.

Sobald irgendeine Frage aufkommt, deren Lösung eine Behauptung oder eine Verleugnung des Grundsatzes »Hand weg von China« involviert, wird es sich erweisen, wes Geistes Kind die Konferenz ist. Sind die Chinesen der Mühe wert, so muß die Konferenz diesen Grundsatz aufstellen. Amerika kann die Aufstellung dieses Grundsatzes nicht beantragen, weil Amerika so wenig aufzugeben hat. Er kann aber auf den Antrag sowohl Englands wie Frankreichs aufgestellt werden.

Es scheint mir klar, daß das offizielle Amerika auf irgendein Vorgehen in dieser Richtung von Seiten dieser Mächte wartet. Wenn der Grundsatz eines freien China bei der Washingtoner Konferenz proklamiert wird, so ist die Bahn freigegeben, auf welcher in der nächsten Zukunft die gesunden und kraftvollen Vereinigten Staaten von China sich entwickeln können als eine große, moderne, friedliebende und fortschrittliche Macht. Wenn ich »China« schreibe, so meine ich das, was jeder vernünftige Mensch meint, wenn er »China« schreibt. Ich meine alle asiatischen Gebiete, in welchen die chinesischen Elemente vorherrschend sind. Ich rechne hierzu mindestens die südliche Mandschurei, die ebenso zweifellos chinesisch ist, wie Texas amerikanisch ist und die ebensowenig irgendeiner anderen Macht »gegeben« werden kann, wie mein Überrock von einem zufälligen Passanten dem anderen gegeben werden kann.

Die Kehrseite eines befestigten und wieder aufblühenden Chinas ist die Zerstückelung unter die einfallenden Mächte nach der Melodie des volkstümlichen amerikanischen Liedchens »Die offne Tür« und damit die Demoralisierung und Zersetzung der Chinesen, internationale Raufereien, Wettbewerb, Zänkereien unter den Mächten, die sich China »geteilt« haben, und endlich der nächste große Krieg – in den Amerika ebensosicher hineingezogen werden wird wie in den Weltkrieg 1914–1918.


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