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XIX.
Ein Völkerverband

Washington, den 2. Dezember

Die Undurchführbarkeit von Rüstungsbeschränkungen oder irgendwelcher Beschränkung in der Kriegführung als mögliches Heilmittel für die augenblickliche Not der Menschheit ohne irgendeine Art dauernder Beilegung der Interessen- und Ehrgeizkonflikte, welche die Wurzeln des Krieges sind, ist mit jedem Arbeitstage der Washingtoner Konferenz klarer geworden. Und auch die Überzeugung, daß keine dauernde Regelung der Verhältnisse denkbar ist ohne ein bindendes Bündnis zur Aufrechterhaltung dieser Regelung, wird täglich stärker. Um Sicherheit und Frieden im Stillen-Ozean-Gebiet herzustellen, ist ein Bündnis mindestens Amerikas, Englands und Japans unerläßlich, und England kann sich daran nicht tatkräftig beteiligen, wenn nicht Europa auch sichergestellt ist durch ein bindendes Bündnis mindestens zwischen Frankreich, Deutschland, England und Amerika. Um den wirtschaftlichen Verfall der Welt aufzuhalten, ist ein noch umfassenderer Bund vonnöten.

So führt uns also die unbeugsame Logik der Tatsachen zurück auf das Problem des Weltbundes und einer Weltgarantie. Der Völkerbund war der erste Versuch einer Lösung dieses Problems. Die Konferenz wird wieder auf dies größere Problem hingedrängt trotz der strengen Beschränkung seiner Geschäftsordnung. Nach dem »Bund« (League) des Präsidenten Wilson kommt der »Verband« (Association) des Präsidenten Harding. Der Senator Borah, der bisher während der Konferenz in Schweigen verharrte, erhebt sich voller Entsetzen, um zu erklären, daß dieser »Verband« nur ein anderer Name für den »Bund« sei. Darüber sind wir anderer Meinung. Verband und Bund ähneln sich darin, daß sie suchen den Weltfrieden zu organisieren; aber in jeder anderen Hinsicht sind es verschiedene Pläne, verschieden in den Zielen, dem Machtbereich und dem Geist.

Der erste Unterschied ist, daß, während der Bund eine sehr klare bestimmte Sache war, die von Anfang an als etwas Vollständiges gedacht war, eine Sache, die ebenso präzis und unveränderlich gewesen wäre wie die Verfassung der Vereinigten Staaten, das Harding-Projekt nur ein Versuch, ein Experiment sein will, das weitgehender Anpassung durch Prüfung und durch Beseitigung von Irrtümern fähig ist, ein biegsames und lebendes Ding, bestimmt, zu wachsen und sich in Anlehnung an die Bedürfnisse unserer seltsamen und unberechenbaren Welt zu verändern.

Der Hardingsche Gedanke, so wie er sich allmählich in der Auffassung der Menschen in Washington gestaltet, scheint etwa folgender zu sein: Auf die gegenwärtige Konferenz sollen andere folgen, welche in einer Art von genetischem Verwandtschaftsverhältnis zu ihr stehen, veränderlich in ihren Befugnissen, ihren Beratungsgegenständen und in der Zahl der zur Teilnahme geladenen Staaten. Eine Nachfolgerin der gegenwärtigen scheint schon vorgesehen zu sein in Gestalt einer Konferenz zur Beratung der wirtschaftlichen und finanziellen Umgestaltung der Welt. Eine solche Konferenz würde wahrscheinlich deutsche und spanische, möglicherweise auch russische Vertreter einbegreifen, und sie könnte zu ihren wirtschaftlichen Beratungen etwelche von der jetzigen Konferenz noch unerledigte Fragen wieder hinzunehmen.

Diese Washingtoner Konferenzen werden hoffentlich zu einer Art internationaler Gewohnheit werden, sie werden sich zu einer Weltinstitution auswachsen, in welcher aus der Erfahrung sich Gebräuche herausbilden, die zu Gewohnheitsrechten werden. Allmählich wird daraus ein Weltparlament entstehen mit einer Autorität, die zunehmen oder abnehmen wird, je nach dem Erfolg oder dem Mißlingen seiner Verordnungen.

Ein Vorteil des Experimentierens wird sich sofort jedem aufdrängen, der bei den Plenarsitzungen der gegenwärtigen Konferenz anwesend war. Die Methode des Versuchs und des Irrtums wird Gelegenheit geben, die ernsten Nachteile der Sprachenschwierigkeit zu beachten. Es ist klar, daß, wo in drei Sprachen verhandelt wird: Französisch, Japanisch und Englisch, der Geschäftsgang leicht sehr schleppend werden kann; es gibt keine wirkliche Debatte, keine Möglichkeiten, eine Frage oder eine Bemerkung einzuwerfen, keine echte und lebhafte Diskussion. Das wirkliche Debattieren geschieht durch Noten und Gegennoten, in vorbereiteten Reden, Mitteilungen an die Pressevertreter u. dgl.

Die Plenarsitzungen haben nur den Zweck, anzukündigen oder zu bestätigen. Sie sind ihrem Wesen nach Zeremonien. Es scheint unvermeidlich, daß dies in jeder vielsprachigen Versammlung der Fall sein wird. Diejenigen, welche die Verfassung des Völkerbundes ausgearbeitet haben, sind offenbar viel zu sehr beeinflußt worden durch die Analogien mit einsprachigen regierenden Körperschaften, in denen spontane Diskussionen häufig und gestattet sind. Weltkonferenzen werden wahrscheinlich ihren Zweck am ehesten erreichen durch übersetzte Korrespondenzen und private Sitzungen vorbereitender Kommissionen, und sie werden am besten daran tun, wenn sie ihre allgemeinen Versammlungen nur für Ankündigungen, Bestätigungen und Bestärkungen benutzen.

Aber die vorbereitenden Kommissionen sind nur die ersten durch die Konferenz zu entwickelnden Organe. Gewisse andere Organe werden vermutlich als notwendige Hilfsmittel ihres richtigen Funktionierens aus ihr hervorgehen. Welche Abkommen hier auch immer getroffen werden mögen, sei es hinsichtlich der Rüstungsbeschränkungen oder der dauernden Regelung der chinesischen und Stillen-Ozean-Angelegenheiten, so ist es doch klar, daß diese bald zu Treibbeeten unangenehmer Mißverständnisse und widersprechender Auslegungen werden müssen, wenn nicht in jedem Fall irgendeine Art von dauernder Körperschaft geschaffen wird, die von den vertragschließenden Machthabern aller beteiligten Länder mit sehr weitgehenden Befugnissen ausgestattet werden muß, die Vereinbarungen des Abkommens auszulegen, zu verteidigen und anzuwenden. Solche dauernden Kommissionen scheinen von der praktischen Logik der Situation gefordert zu werden. Ganz abgesehen von den späteren Konferenzen, die Präsident Harding versprochen hat, scheint eine stehende Marine-Rüstungs-Kommission und eine Stille-Ozean-Kommission mit sehr großen Machtbefugnissen eine notwendige Folge der Washingtoner Konferenz zu sein.

Aber diese beiden Kommissionen werden nicht alle Gebiete beherrschen können. Diese Konferenz kann die europäische Abrüstung und die europäische Lage nicht in dem gegenwärtigen zerfetzten und zerlumpten Zustande liegen lassen. Nichts ist bemerkenswerter gewesen, nichts verdient ein eingehenderes Studium durch die denkenden Amerikaner als das Schwanken der britischen Delegation bei der Konferenz im Hinblick auf eine Regelung der Stillen-Ozean-Frage. Ich sehe, daß ein kluger Schriftsteller über chinesische Angelegenheiten, Dr. John Dewey, diese Wandlung in der Stellungnahme bemerkt und Andeutungen einer starken Unaufrichtigkeit seitens der Engländer macht. Aber die Gründe dieses Schwankens liegen auf der Hand. Sie sind in der europäischen Lage zu suchen.

Wenn Großbritannien in Europa sicher und auf seinen Mittelmeerwegen unbedroht wäre, so könnte es das Amt eines starken Beschützers amerikanischer Ideale in China übernehmen. Es scheint tatsächlich willens dazu zu sein – trotz seiner Vergangenheit. Aber solange es in Europa bedroht ist, kann es nichts dergleichen anfangen. Es kann nicht einen Arm ausstrecken, um China zu beschützen, während man ihm ein Messer an die Kehle hält. So werden die Stille-Ozean-Frage und die Mittelmeerfrage und die Küsten von Frankreich miteinander vermengt und es wird offenbar, daß eine Friedenskommission für Europa als dritte notwendige Konsequenz aus dieser Konferenz hervorgehen muß, wenn sie als ein Erfolg betrachtet werden soll.

Nehmen wir einmal an, daß die gegenwärtig stattfindende Konferenz die beiden ersten Kommissionen, die ich skizziert habe, ausschiede, und einer zweiten Konferenz mit einer vollständigeren Vertretung der europäischen Mächte Platz machte, die ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Beruhigung und Abrüstung Frankreichs, Deutschlands und Englands richten würde, einer zweiten Konferenz, deren Resultate endlich in dieser dritten, von mir angeregten Kommission verkörpert werden könnten, und nehmen wir weiter an, daß eine internationale Schulden- und Valutakonferenz demnächst ernsthaft an die Arbeit geht, so dürfen wir doch gewiß behaupten, daß der erhoffte Völkerverband auf gutem Wege zur Kristallisation ist.

Auf einfache und natürliche Weise, Schritt vor Schritt, wird der Präsident der Vereinigten Staaten der offizielle Einberufer eines rudimentären Weltparlaments geworden sein. Ist erst einmal dieses Stadium erreicht, so wird eine Reihe wesentlicher Fragen über Einzelheiten der Organisation der Lösung harren. Jede ausführende Kommission, wie diese aus den sich folgenden Konferenzen hervorgehen werden, wird in ihrem jeweiligen Gebiet Agenten, Beamte, ein Sekretariat, ein Archiv, ein Budget brauchen. Diese Konferenzen können sich nicht dauernd versammeln, ohne daß sich aus den Kommissionen, die sie notwendig hervorbringen müssen, eine lebendige und dauernde Körperschaft der Weltverwaltung entwickelt. Vermutlich wird diese Körperschaft hauptsächlich um und in Washington erwachsen. Wenn dies geschieht, so wird sie die erstaunlichste Ergänzung des Kongresses sein, die man sich vorstellen kann, sie wird das freiwillige und allmähliche Aufbauen einer Art von lockerem Weltimperium rings um das Denkmal George Washingtons sein.

Ich sehe aber nicht ein, warum alle diese Kommissionen und Parlamente in Washington sitzen müssen oder daß dies wünschenswert wäre. Eine Weltkommission für die Abrüstung auf dem Lande könnte in Paris oder in Rom arbeiten, eine Kommission für das Finanzwesen in Neuyork oder London. Unterdessen wird der Völkerbund, diese erste konkrete Verwirklichung des amerikanischen Geistes, in Genf oder in Wien, wohin er vielleicht verlegt werden sollte, seinen eigenen etwas engherzigen und allzu scharf begrenzten Geboten folgen.

Auch dieser Völkerbund wird Weltorganisationen ausgeschieden haben, die sich mit der Gesundheitspflege oder anderen Weltinteressen beschäftigen, wie z. B. dem Mädchenhandel usw. Er wird europäische schiedsrichterliche Verfahren einführen und wird Grenzkommissionen und anderes Derartiges einsetzen. Irgendwo wird auch eine Art von Oberstem Weltgerichtshof sich an die Bearbeitung rechtlicher internationaler Schwierigkeiten begeben.

Auf diese Weise, behaupte ich, wird die Welteinigkeit wahrscheinlich aus unseren Träumen in die Wirklichkeit übergehen, und diese teilweise, zerstreute, experimentelle Art des Wachstums ist vielleicht der einzige Weg, auf dem sie werden kann. Das ist keine so prächtige und eindrucksvolle Vision wie die des Weltparlaments als einer vervollkommneten Liga, die plötzlich in Erscheinung träte und die Leitung der Welt übernähme. Sie wird nicht wie ein Pavillon aufgestellt werden, sondern sie wird wachsen wie ein Baum. Aber sie ist eine Wirklichkeit und sie naht; der Völkerverband wächst vor unseren Augen. Unterdessen aber liegt eine ungeheure Aufgabe vor Lehrern und Schriftstellern, Eltern und Rednern und vor allen denen, welche die öffentliche Meinung belehren, schaffen und beeinflussen. Es ist die Aufgabe, einen neuen Geist in die Herzen und einen neuen Traum in die Gedanken zu bringen, den Traum einer großen Welt, die für immer befreit wäre von der Qual der Kriegführung und des internationalen Ringens, einer großen Welt sich ruhig und sicher entwickelnder Eintracht, in welcher allen Rassen und allen Menschen die Möglichkeit gegeben sein sollte, eine jegliche ihr Scherflein beizutragen zu den sich mehrenden Errungenschaften und Taten der Rasse.


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