Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.
Der unbekannte Krieger des Weltkrieges

Washington, den 11. November

Großbritannien, Frankreich, Italien und jetzt auch die Vereinigten Staaten haben die Leichen etlicher namenloser Kämpfer geehrt und begraben, ein jegliches Volk in Gemäßheit seiner nationalen Traditionen und Umstände. Kanada wird, wie ich höre, ein gleiches tun.

Damit spricht die Welt ihr Bewußtsein aus, daß in dem Weltkriege der eigentliche Held der gemeine Soldat war. Der arme Hans und der arme Iwan verfaulen noch unter der Erde von hundert Schlachtfeldern, noch warten Knochen und Verwesung, Fetzen beschmutzter Uniformen und Bruchstücke von Monturen auf Denkmäler und Reden. Und dennoch waren auch sie Söhne von Müttern, marschierten in gleichem Schritt, gehorchten den Befehlen, zogen singend in die Schlacht und erfuhren den eigenartigen Rausch soldatischer Kameradschaft und der Hingabe an etwas, das größer war als sie selbst.

Im Friedhof von Arlington liegen die Soldaten des konföderierten Südens ruhig neben den Toten des verbündeten Nordens. Recht und Unrecht ihrer Sache ist längst vergessen, und nur des Opfers, das sie brachten, wird noch gedacht. Es wird eine Zeit kommen, da wir aufhören werden, die Verbrechen, die Irrtümer, das Ungeschick der Regierungen an den gemeinen Soldaten und dem armen Volke Deutschlands und Rußlands zu rächen; unsere Bitterkeit wird eines natürlichen Todes sterben und dann werden wir sie betrauern, wie wir unsere eigenen Toten betrauern, als Menschen, die ihr Leben hingaben und Schweres ertrugen in einem allgemeinen Unglück.

Eine Zeit wird kommen, da diese gewaltigen Personifizierungen des Kampfes, der unbekannte britische Krieger, der unbekannte amerikanische Krieger, der unbekannte französische Krieger, aufgehen werden in dem Gedanken einer noch weit größeren Persönlichkeit, der Verkörperung von 20 Millionen einzelner Toten und vieler Millionen zerstörter Leben – dem unbekannten Krieger des Weltkrieges.

Es wäre wohl möglich, so manches über ihn festzustellen. Wir könnten sein Alter, seine Größe, sein Gewicht und dergleichen Einzelheiten ziemlich genau bestimmen. Wir könnten Zahlen und ungefähre Angaben zusammenstellen, auf Grund deren diese Dinge mit relativer Sicherheit zu ermitteln wären. Im wesentlichen würde er wohl die Züge der nordeuropäischen Rasse tragen. Nordrussische, deutsche, fränkische, norditalienische, britische und amerikanische Elemente würden sich alle vereinigen, einen ziemlich großen, blonden, wahrscheinlich blauäugigen Typus hervorzubringen. Er würde aber auch eine starke Dosis der Mittelmeerrassen in sich haben, indische und türkische Elemente, etwas mongolisches und eine geringe Beimischung afrikanischen Blutes – welch letzteres nicht nur auf die farbigen Truppen Amerikas, sondern auf die ausgiebige Verwendung von Senegalesen seitens der Franzosen zurückzuführen wäre.

Keiner dieser Faktoren wäre stark genug, um zu verhindern, daß er in der Hauptsache ein Nordländer bliebe, der ungefähr dieselben Rassenmerkmale aufwiese, die vermutlich der amerikanische Bürger von 1950 aufweisen wird. Es wäre ein Weißer, mit einem Zuschuß von asiatischem und schwarzem Blut. Jung würde er sein – etwa 21 bis 22 Jahre alt – noch knabenhaft, eher unverheiratet als verheiratet. Seine Eltern wären noch am Leben, und die Erinnerung an das Zuhause, in dem er geboren wurde, wäre noch frisch und lebendig in seinem Gedächtnis, als er fiel.

Wir könnten sogar im allgemeinen feststellen, wie er gestorben ist. Bei Tage wurde er zu Boden gefällt mitten in dem unheimlichen Lärmen und der Verwirrung eines modernen Schlachtfeldes, gefällt von etwas Unbekanntem – Kugel, Granatsplitter oder ähnlichem. Im Augenblick war er wohl ein wenig erschrocken – jeder Mensch erschrickt etwas auf dem Schlachtfeld –, aber er war mehr aufgeregt als erschrocken, und er gab sich alle Mühe, seine Ausbildung nicht zu vergessen und seine Pflicht ordentlich zu tun. Als er getroffen wurde, empfand er anfangs weniger Schmerz als Verwunderung. Ich glaube, die erste Empfindung eines Menschen, der auf dem Schlachtfelde schwer verwundet wird, ist nicht so sehr Schmerz als bittere Trauer.

Es wäre wohl möglich, anzugeben und sich zu vergegenwärtigen, wie lange es dauerte, bevor er starb, wie lange er gelitten und gestaunt, wie lange er da lag, ehe sein Geist abberufen wurde zu jener ungeheuren schweigenden Schar der Schatten, jenen Millionen seiner Art, die keinem Vaterland mehr zu dienen brauchten und keine Lebensjahre mehr vor sich hatten, die plötzlich abgeschnitten worden waren, wie er abgeschnitten wurde von allem Sichtbaren und Hörbaren, aller Hoffnung und aller Leidenschaft. Laßt uns lieber an die Beweggründe und Gefühle denken, die ihn veranlaßt hatten, kühnen Mutes und freudigen Herzens das Opfer seines Selbst zu bringen.

Was glaubte wohl der unbekannte Krieger zu tun, als er starb? Was hatten wir, die wir ihn in diesen Weltkrieg hinausgeschickt haben, wir, die wir noch im Besitz seiner Welt sind, ihm eingeredet? Und welche Verpflichtungen sind wir ihm gegenüber eingegangen, seinen Tod zu sühnen, das Leben und den Sonnenschein zu ersetzen, die ihm genommen sind?

Er war noch zu jung, um sich über seine Beweggründe klar zu sein. Sich vorzustellen, was ihn bewegte und was er wollte, ist ein schwieriges und kaum durchführbares Unternehmen. Herr Georg Noblemaire hat kürzlich in einer Zusammenkunft der Völkerbunds-Versammlung behauptet, daß er französische Jünglinge habe »Vive la France« flüstern hören, ehe sie starben. Er meinte, es wäre möglich, daß deutsche Jünglinge gestorben wären mit den Worten: »Herr Oberst, sagen Sie meiner Mutter: Deutschland soll leben.« Möglich. Vielleicht. Aber die Franzosen sind schärfer auf Patriotismus gedrillt als andere Leute. Ich bezweifle, daß dies die allgemeine Stimmung war. Es war ganz sicher nicht die allgemeine Stimmung unter den Engländern.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß viele englische Jungen mit ihrem letzten Atemzuge noch »Rule Britannia« oder »King George for Merry England« gesagt haben sollten. Einige unserer jungen Leute fluchten und jammerten aus Mißmut; manche, es waren nicht immer gerade die allerjüngsten, wurden wieder zu Kindern und weinten bitterlich nach der Mutter, viele behielten bis zuletzt den ironischen Humor unseres Volkes bei, viele starben in der Art eines jungen Bergmannes aus Durham, den ich eines Morgens in den Schützengräben bei Martinpuich sprach, Schützengräben, die über Nacht schwer »gestraft« worden waren. Der Krieg, meinte er, wäre eine ekelhafte Sache, aber »hier muß jetzt halt aufgeräumt werden«. Das ist der Geist des Rettungsbootsmatrosen und des Feuerwehrmannes. Das ist der große Geist. Ich glaube, das kam dem wahren Empfinden des unbekannten Kriegers sehr viel näher als irgendwelches blecherne Vivatgerufe, auf welche Fahne, Nation oder Reich es auch sei.

Ich glaube, wenn wir die Beweggründe verallgemeinern, welche die jungen Leute, die im Weltkriege gefallen sind, zur Aufgabe ihres Lebens veranlaßten, und zwar zur Aufgabe ihres Lebens zu einer Zeit, wo das Leben am schönsten leuchtet, so werden wir finden, daß das treibende Motiv sicher keine engherzige Hingabe an den »Ruhm« oder an die »Ausbreitung« irgendeines besonderen Landes war, sondern eine hochsinnige Feindschaft gegen alle Ungerechtigkeit und Bedrückung. Das geht deutlich hervor aus der Art, wie in den einzelnen Ländern die Aufrufe verfaßt wurden, die den Mut der Soldaten anfeuern sollten.

Wären nationalistische Ruhmsucht und Patriotismus die ausschlaggebenden Motive gewesen, dann hätte sich offenbar die Propaganda vor allem mit der Nationalehre und dem Fahnengötzendienst befassen müssen. Das tat sie aber nicht. Heutzutage nehmen sich Fahnen besser auf der Parade aus als auf dem Schlachtfelde. Die Kriegspropaganda betonte unablässig und bestimmt die Bosheit und Gemeinheit des Gegners, die Gefahren, welche ein Sieg der fremden Tyrannenmacht mit sich brächte, und die Tatsache, daß der Feind den Krieg gewollt und begonnen hätte. Diese jungen Leute kämpften darauf am besten – überall.

Soweit das Verständnis des gemeinen Soldaten jeder kriegführenden Nation reichte, war also der Weltkrieg ein Krieg gegen das Unrecht, gegen die Gewalt, gegen den Krieg an sich. Was auch die Diplomaten davon halten mochten; so dachten die jungen Burschen, die fielen. In der Vorstellung dieser jungen und großherzigen Millionen, welche sich in dem unbekannten Krieger des Weltkrieges verkörpern, in der Vorstellung der Deutschen und der Russen, die so tapfer kämpften, war der Krieg – genau wie für die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen und Italiener – ein Krieg, der den Zweck hatte, den Krieg auszurotten.

Hierin liegt unsere Verpflichtung.

Jede Rede, die an den Gräbern dieser unbekannten Krieger gehalten wird, die jetzt in der Kameradschaft des jungen Sterbens beieinander liegen, jede Rede, welche den Patriotismus über den Frieden erhebt, die Reparationen und Racheakte fordert, welche nach armseligen Bündnissen ruft, um die Tradition des Kampfes aufrechtzuerhalten, welche die nationale Sicherheit über das allgemeine Wohl erhebt, welche angesichts der allgemeinen Tapferkeit und der Tragödie der Menschheit die »ruhmreichen Fahnen« dieser oder jener Nation flattern läßt, ist eine Beleidigung und eine Schmähung des toten Jünglings, der unter der Erde liegt. Er suchte Gerechtigkeit auf Erden, wie er diese Dinge verstand; und wer sich auch immer seiner Ruhestätte nähert, ohne den Willen, bei der Aufstellung eines Weltgesetzes und einer Weltgerechtigkeit mit zu helfen, wer gemeine und heuchlerische Schlagworte eines fadenscheinigen Patriotismus vorbringt und Konflikte aufrechtzuerhalten bestrebt ist, um deren Beendigung er sein Leben gab, begeht eine ungeheure Lästerung und sündigt an der ganzen Menschheit.


 << zurück weiter >>