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III.
Die Spur von Versailles. Zwei große Mächte schweigen und sind abwesend

Die Reiseführer berichten, daß Washington von dem Major Pierre Charles L'Enfant nach dem Vorbild von Versailles angelegt worden ist. Wenn das stimmt, so hat es sich inzwischen von seinem Vorbild entfernt. Ich kenne Versailles recht gut und ich habe in Washington umsonst nach einer entfernten Ähnlichkeit gesucht. Washington macht einen durchaus europäischen Eindruck, das gebe ich zu, es hat etwas italienisch Weitläufiges, so als hätte man einem römischen Stadtbild Luft und unbegrenzte Ausbreitungsmöglichkeiten gegeben. Es ist eine Großstadt in erweitertem römischen Stil. Es hat nichts von dem senkrechten In-die-Höhe-streben einer echten amerikanischen Stadt. Aber Versailles!

Versailles war die Heimat und Verkörperung der altfranzösischen souveränen Monarchie und einer auswärtigen Politik, deren Ziel es war, sich die ganze Welt zu unterwerfen, sie zu französisieren und zu »versaillisieren«. Ein Besuch in Versailles gehört zur Weltbildung eines Menschen, vor allem ein Besuch bei der etwas fadenscheinig gewordenen, recht prätentiösen Pracht seiner Terrasse, in dem über und über mit kleinen oblongen Spiegelscheiben beklebten und einst sehr bewunderten Spiegelsaale, in seinen muffigen, geheimnisvollen königlichen Gemächern mit ihren bequemen Hintertreppen und in dem armselig törichten Spieldörfchen der Königin, dem Petit Trianon. Vor anderthalb Jahrhunderten war das französische Volk erschöpft und gebrochen durch unaufhörliche Angriffskriege, angeekelt von seiner Regierung, die es als unerträgliche Last empfand und die der Störenfried von ganz Europa war. Wutentbrannt zog es nach Versailles und zerrte die französische Politik für eine Weile aus Versailles hervor.

Unglücklicherweise kehrte sie dorthin zurück.

Im Jahr 1871, als Deutschland den flitterhaften Imperialismus Napoleons III. zu Boden geworfen hatte (der übrigens auch den Versuch machte, Kaiserreiche in der Neuen Welt zu gründen), waren die Deutschen geschmacklos genug, das neue deutsche Kaiserreich im Spiegelsaale zu proklamieren. Dadurch wurde Versailles mehr als je das Symbol des jahrhundertealten, trübseligen, erbärmlichen Streites der Franzosen und Deutschen um das Erbe des »Imperiums«, eines Streites, der seit den Tagen Karls des Großen im Gang ist. Dort hatte die Ruhmessonne der Franzosen geschienen, dort war die Ruhmessonne von Frankreich erloschen. Ich sah Versailles an einem Herbsttag des Jahres 1912. Es erschien mir als eine etwas verschimmelte, traurige, leere und malerische Sehenswürdigkeit. Es webten darin die Erinnerungen an leichte Rokokogewänder, an Perücken und rote Absätze, daneben machte sich aber auch der stärkere und weniger angenehme Geruch des späteren preußischen Triumphs geltend.

Das war nun zweifellos der ungeeignetste Ort für den Abschluß des Weltfriedens im Jahr 1919. Es war unvermeidlich, daß die Frage der Rheingrenze dort an Bedeutung die asiatische Frage ganz in den Schatten stellte und daß man das deutsche Volk vor der Tür stehen ließ in Erwartung rachsüchtiger Strafen, die das siegreiche Frankreich über es zu verhängen beabsichtigte.

Der Friede von Versailles war kein Friede für die Welt, sondern die Krönung der französischen Revanche. Und da Rußland bereits aus dem Gesichtskreis von Versailles verschwunden war, so war es unvermeidlich, daß das russische Volk, welches im Jahr 1914 die Franzosen vor einer völligen Niederlage gerettet hatte, welches weit mehr Tote in diesem Kriege zu verzeichnen hatte, als Frankreich und Amerika zusammen genommen, und das endlich von den furchtbarsten Kriegsmühen aufs äußerste erschöpft zusammengebrochen war, lediglich als bankrotter Schuldner aufgefaßt wurde. Die russische Regierung war große Verpflichtungen eingegangen, eben in der Vorbereitung auf diesen Krieg, welcher den Franzosen ihr ehemaliges ruhmreiches Übergewicht über Deutschland zurückerobert hatte. Und jetzt erklärte eine neue unliebenswürdige russische Regierung nicht nur, daß sie zahlungsunfähig sei, sondern sie weigerte sich auch so zu tun, als ob sie jemals beabsichtigt hätte, ein unmögliches Kunststück zu vollbringen. Mit einer solchen Regierung konnte man nicht verhandeln. Das deutsche Volk und das russische Volk erhielten keine Stimme in Versailles, und die Weltgeschicke wurden mit einer erhabenen Nichtachtung dieser ausgestoßenen und gefallenen Mächte geordnet.

Sie wurden so großzügig und so schlecht geordnet, daß die Washingtoner Konferenz, welche Beschränkungen sie sich auch immer auferlegen mag, jetzt genötigt ist, das dort getroffene ungeheuerliche Abkommen nochmals zu untersuchen und es womöglich wieder gutzumachen oder durch ein anderes zu ersetzen. Die Washingtoner Konferenz hat ganz einfach die Aufgabe, das Urteil von Versailles in frischerer Luft und mit weiterem Blick zu überprüfen.

Ich weiß nicht, in wieweit zukünftige Historiker behaupten werden, daß die Washingtoner Konferenz als eine Nachahmung der Versailler Konferenz gedacht war, aber sie beginnt in der Tat mit einer unglückseligen Ähnlichkeit. Man scheint in gleicher Weise von der stillschweigenden Annahme auszugehen, daß es möglich ist, die Weltangelegenheiten zu ordnen, ohne daß das deutsche und das russische Volk bei der Konferenz vertreten sind. Die Japaner, die Italiener, die Franzosen, die Amerikaner und die Engländer, unterstützt durch die bescheidene Mitwirkung solcher kleinen Bruchteile der Menschheit wie China und das spanische Amerika, schicken sich bereits an, allerhand Maßnahmen zu ergreifen, welche einer Ordnung der Weltangelegenheiten gleichkommen werden, ohne daß diese beiden großen Völker auch nur gefragt würden, geschweige denn, daß sie um ihre Zustimmung und Mitarbeit gebeten worden wären. Dies widerspricht doch zweifellos dem Grundsatz sowohl der amerikanischen wie der britischen Politik – dem Grundsatz nämlich des Regierens mit der Zustimmung der Regierten –, und es ist in jeder Hinsicht eine tief beklagenswerte Absicht. Irgendwie werden diese beiden großen Völker bei einer endgültigen Ordnung doch berücksichtigt werden müssen, und es wird viel schwerer sein, ihre Zustimmung zu Maßnahmen und Einrichtungen zu erlangen, bei denen sie nicht einmal formell mitgewirkt haben.

Wir müssen uns an einige elementare Tatsachen in bezug auf Deutschland und Rußland und ihre heutige Stellung in der Welt erinnern. Diese Tatsachen kennt jeder, aber sie scheinen in den Diskussionen der Washingtoner Konferenz in erstaunlicher Weise vergessen worden zu sein.

Zuerst wollen wir uns einiges auf Deutschland Bezügliche ins Gedächtnis zurückrufen. Das deutsche Volk nimmt die Mitte Europas ein, es übertrifft an Zahl jedes andere europäische Volk mit Ausnahme der Russen, sein Bildungsniveau war ein ebenso hohes oder noch höheres als das irgendeines anderen Volkes; die Deutschen sind als Volk ehrlich, fleißig und intelligent, auf ihrer sozialen und politischen Wohlfahrt beruht das wirtschaftliche Gedeihen von Großbritannien, Skandinavien, Rußland, Italien und – wenn auch in geringerem Maße – das Frankreichs. Es ist unmöglich, ein solches Volk zu vernichten, es ist unmöglich, es von der Landkarte zu streichen, aber es ist möglich, es wirtschaftlich und sozial zu ruinieren. Wenn aber Deutschland ruiniert wird, so wird der größte Teil Europas ruiniert.

Deutschland ist im Weltkriege niedergerungen worden, und es wird gut sein, sich hier an einige elementare Tatsachen dieses Krieges zu erinnern. Durch ein besonders aufdringliches und beleidigendes imperialistisches System gerieten die Deutschen in Konflikt mit fast der ganzen zivilisierten Welt. Es wurde aber wiederholt von Engländern und Amerikanern, wo nicht von anderen Kriegsteilnehmern, erklärt, daß sie nicht gegen das deutsche Volk Krieg führten, sondern gegen den deutschen Imperialismus. Die britische Kriegspropaganda vor allem tat ihr Möglichstes, um Deutschland mit dieser Überzeugung zu durchdringen und ihm eine großmütige Behandlung und eine völlige Wiederherstellung der alten Freundschaft zu versprechen, vorausgesetzt, daß Deutschland dem Imperialismus und Militarismus entsagte.

Das erschöpfte und geschlagene Deutschland unterwarf sich im Jahr 1918 auf Grund dieser Versprechungen und auf Grund ähnlicher Versprechungen, welche in den 14 Punkten des Präsidenten Wilson enthalten waren. Die angeblichen Kriegsziele waren erreicht. Der Kaiser lief fort und Deutschland sagte sich öffentlich und unzweideutig von ihm los.

Aber die Konferenz von Versailles behandelte diese, den Deutschen gemachten Versprechungen als bloßen »Fetzen Papier«. Der Friede, welcher der jungen deutschen Republik auferlegt wurde, war ein Straffriede, genau so hart strafend, wie wenn sich noch ein Kaiser in Berlin befunden hätte; er war eine rachsüchtige Umkehrung des Französisch-Deutschen Vertrags von 1871, ohne einen Funken Anerkennung oder Duldung für das geläuterte Deutschland, das seinen Siegern gegenüberstand. Die Deutschen wurden behandelt als ein Geschlecht moralischer Ungeheuer, obgleich niemand, der bei Vernunft ist, wirklich glaubt, daß sie sich im einzelnen sehr wesentlich von Franzosen, Engländern und Amerikanern unterscheiden. Jeder Deutsche wurde persönlich für den Krieg verantwortlich gemacht, obgleich jeder Franzose, Engländer und Amerikaner weiß, daß, wenn unser eigenes Land Krieg führt, er ebenso mit in den Krieg ziehen und ganz naturgemäß für sein Vaterland kämpfen muß, ob es recht hat oder nicht. Jetzt setzte mittels drückender Besetzungen, Zerstückelungen und unerfüllbarer Forderungen ein unaufhörlicher, noch heute dauernder Angriff auf die zerschmetterte deutsche Zivilisation ein, die mindestens ebenso wertvoll ist wie die französische. Die britische und französische nationalistische Presse bekennen offen, daß sie nicht beabsichtigen, Deutschland eine Möglichkeit der Wiederherstellung zu lassen. Die europäischen Alliierten sind seit drei Jahren damit beschäftigt, das ohnmächtig am Boden liegende Deutschland mit Füßen zu treten, binnen kurzem werden sie nach einem toten Körper treten, und da sie geographisch mit ihrem Opfer zusammenhängen, und zwar fast so eng, wie die siamesischen Zwillinge zusammenhingen, so werden sie mit ihrem Opfer zugrunde gehen.

Es ist höchste Zeit, daß dieser barbarische Wahnsinn, dieses Weiterspinnen des Krieges nach der Unterwerfung des Gegners aufhöre und daß die besten Verstandes- und Willenskräfte Deutschlands, wie die sehr vernünftige republikanische Regierung, die es eingesetzt hat, zur Beratung hinzugezogen werden. Ich möchte wünschen, daß Washington sich soweit über Versailles erhöbe, daß es diese Aufforderung bald erließe. Früher oder später muß es dazu kommen, wenn der Weltfriede wiederhergestellt werden soll.

Das Fehlen Rußlands auf der Washingtoner Konferenz ist ein noch böserer Fehler. Man scheint ganz vergessen zu haben, daß das russische Volk den ersten Ansturm des Krieges in den ersten Jahren ausgehalten hat. Seine schnelle Offensive im Jahr 1914 rettete Paris und bewahrte das kleine englische Heer vor einem verhängnisvollen Rückzuge zum Meer. Der Dank, den Großbritannien und Frankreich dem »Namenlosen Krieger« Rußlands schulden, jenem armen, ungeehrten Helden und Märtyrer, ist unberechenbar. Wäre Rußland nicht gewesen, so hätte Deutschland wahrscheinlich den Krieg ohne weiteres noch vor Ende 1916 gewonnen. Durch das Blut und das Leiden des russischen Volkes wurde den Alliierten der Sieg gewonnen. Diese unerhört tapferen Soldaten fochten häufig ohne Artillerieunterstützung, ohne Munition, ohne Stiefel, ohne Nahrung, unter Bedingungen, welche dem gut ausgerüsteten Franzosen, Engländer und Amerikaner der Westfront ganz undenkbar erschienen wären. Ihre Verlustliste übersteigt bei weitem die aller anderen kriegführenden Nationen. Im Jahr 1917 brach Rußland zusammen, es war ausgeblutet und es blieb halb tot am Boden liegen, trotz der emsig erteilten Fußtritte seiner Verbündeten, die es zu weiteren Anstrengungen anspornen sollten. Der unerträgliche Rasputin-Zarismus ging in dem Zusammenbruch unter. Nach einer Phase größter Unordnung und teilweise infolge des britischen Zauderns, die Kerensky-Regierung energisch auf der Ostsee zu unterstützen, gelangte die harte, tyrannische, doktrinäre bolschewistische Regierung ans Ruder.

Diese Regierung ist eine schlechte Regierung; ihre Fehler sind zwar andere, aber im ganzen muß ich zugeben, daß sie beinahe ebenso schlecht ist wie die ehemalige Zaren-Regierung, die sie verdrängt hat. Wir müssen uns aber auch in bezug auf sie an einige ganz einfache Wahrheiten erinnern. Sie ist bis heute in Kraft geblieben, weil sie eine russischsprechende Regierung ist, die für ein ganzes und ungeteiltes Rußland eintritt. Die Russen unterstützen sie, weil sie Rußland gegen die gedungenen Räuberbanden von Frankreich und Großbritannien, gegen die Polen, die Esthländer, die Japaner und gegen jede Art des Angriffs auf ihr zu Tode ermattetes Vaterland schützt. Sie ziehen diese Fanatiker den Ausländern und die Bolschewisten den Räuberbanden vor. Franzosen und Amerikaner, die in der gleichen grauenvollen Lage wären, würden wahrscheinlich dieselbe Wahl treffen. Die Entente, die Polen, eine Horde von Abenteurern haben den Russen keine Zeit gelassen, ihre eigene Regierung nach ihren eigenen Bedürfnissen einzurichten. Augenblicklich stehen Millionen von Russen infolge einer noch nie dagewesenen Dürre in den durch Koltschak, Denikin und Wrangel verwüsteten Gebieten vor dem Hungertod – während Kanada und Amerika genötigt sind, Korn und Weizen zu verbrennen. Sogar in einem Teil von Rußland selbst ist Überfluß an Nahrungsmitteln vorhanden, aber ohne äußere Hilfe sind keine Transportmöglichkeiten vorhanden, um sie den hungernden Provinzen zuzuführen. Der Westen aber läßt diese Millionen von Russen verhungern wegen des doktrinären Eigensinns der Moskauer Regierung, welche sich eine Zeitlang weigerte, Schulden anzuerkennen, die Rußland – in der Hauptsache für die militärischen Vorbereitungen, welche Europa gerettet haben – aufgenommen hatte, Schulden, die Rußland jetzt wegen der erbarmungslosen Härte seiner Gläubiger unmöglich zahlen kann. Dennoch kann das Leiden Rußlands den Wucherern des Westens nichts nützen, sie befriedigen lediglich ihre Rachsucht.

Aber selbst wenn einige Millionen Russen, Männer, Frauen und Kinder, in diesem Winter sterben und der Summe jener hinzugezählt werden, die bereits durch den Krieg vernichtet worden sind – diesen Krieg, der Paris vor Berlin rettete –, so folgt daraus noch nicht, daß Rußland sterben wird. Dieses Unglück ändert nichts an der Tatsache, daß die Russen das zahlreichste Volk Europas sind und zugleich ein Volk von beispielloser Begabung und Ausdauer. Sein großartiger Widerstand gegen äußere Einmischung seit 1914 und seine Duldung der bolschewistischen Regierung, – eine Teilung wäre damals für Rußland ebenso verhängnisvoll gewesen, wie sie es für China war – beweist seine Solidarität und instinktive politische Klugheit. Es gibt ebenso viele Russen, wie es Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika gibt, und sie bewohnen ein Gebiet, das ebenso groß und viel reicher an noch nicht ausgenützten Hilfsquellen ist. Trotz des ungeheuerlichen zaristischen Regimentes, welches das Volksschulwesen als eine Gefährdung des Staates behandelte, stehen die Prosaliteratur, das Drama, die Musik, die bildende Kunst, sogar die Wissenschaft, innerhalb dieser letzten hundert Jahre mindestens ebenso hoch wie die der Vereinigten Staaten. Diese Russen sind in der Tat eines der allerbedeutendsten Völker und sie haben tragische Schicksale erlebt, die wohl genügt hätten, jede andere Rasse zu vernichten. Washington hat aber die Absicht, wie ich sehe, den Frieden Europas, Asiens und der Gebiete des Stillen Ozeans ohne sie wiederherzustellen.

Ich weiß wohl, daß Washington eine recht triftige Entschuldigung hat, die bestehende russische Regierung nicht einzuladen. Ich bin der letzte, der die Schwierigkeit unterschätzt, welche die bolschewistische Regierung einem ehrlichen Verkehr mit den Westmächten in den Weg legt. Sie ist durch ihre kommunistischen Theorien genötigt, diese Westmächte nicht anzuerkennen und so zu tun, als ob sie deren Umsturz erstrebte. Außerdem ist Moskau neben seiner allgemeinen theoretischen Starrköpfigkeit noch durch einen pedantischen, streitsüchtigen und in jeder Hinsicht unheilvollen Minister des Auswärtigen, Tschitscherin, belastet. Aber die Not der Stunde kennt keine Theorien, und die bolschewistische Regierung wäre jetzt froh, solange sie sich nur irgendwie formell rechtfertigen kann, von den Westmächten anerkannt zu werden und mit diesen in Verhandlungen einzutreten.

Ich begreife nicht, warum die westlichen Regierungen in Anbetracht der Notlage Rußlands versuchen müssen, die Bolschewisten an Eigensinn, Pedanterie und Grausamkeit noch zu übertreffen und warum sie nicht einen ehrlichen Versuch machen, mit dieser de-facto-Regierung auszukommen, bis sie sich von selbst zu etwas anderem entwickelt haben wird. Eine derartige Entwicklung wird sofort eintreten, wenn erst ein gewisser Friedenszustand hergestellt sein wird. Ist dieser erst vorhanden und wird Rußland zugleich von einer ganz unmöglichen Schuldenlast befreit, so wird in dem auf immer von dem schwarzen Fluch des Zarismus erlösten Lande der Ackerbau wieder beginnen, die Bergwerke werden von neuem in Betrieb gesetzt werden, die Städte werden wieder erstehen. Es wird ein demokratisches Land werden, dessen nächste Analogie in der Geschichte die freien, armen, Ackerbau treibenden, aufstrebenden und sich ausdehnenden Vereinigten Staaten vom Jahr 1840 sind.

Solange Rußland die bolschewistische Regierung aushält, sollte meiner Ansicht nach Washington sie auch aushalten. Vielleicht gehe ich hier aber über die Grenzen des Möglichen hinaus. In diesem Fall schlage ich vor, daß Washington einen gut informierten Rechtsanwalt und irgendein Bureau einsetzt, das die Sache Rußlands bei der Konferenz vertritt. Wenn man Rußland keine entscheidende Stimme gewähren will, so sollte man es doch zum mindesten anhören.

Bedenkt, was die Zukunft dieses großen Volkes sein muß, und achtet auf die ungeheuerliche Torheit, Schmähungen und Leiden auf dieses Land zu häufen. Seht es euch auf der Karte an, schlagt es in einer Enzyklopädie nach. Meßt es aus, wie groß dieses uns unbekannte Gebiet ist. In ungefähr 20 Jahren wird Rußland vielleicht ein neu aufblühendes, ebenso lebensfähiges Land sein wie die Vereinigten Staaten von 1840. In einem Jahrhundert wird es vielleicht ebenso groß, ebenso mächtig und ebenso zivilisiert sein wie irgendein Staat der Welt. Daß Frankreich, Großbritannien und Japan ihre Beratungen über die Weltgeschicke ohne Rußland abhalten, ist so, als ob sie in den schweren Jahren 1863 und 1864 über die Zukunft Amerikas beraten hätten, ohne die Vereinigten Staaten zu den Beratungen hinzuzuziehen. Es geschah übrigens in jener düsteren Zeit auch etwas Derartiges; es fällt mir ein, daß Frankreich damals Truppen und Munition nach Mexiko sandte, genau wie es jetzt Truppen und Munition nach Polen und Südrußland gesandt hat. Irgendwo auf Erden findet sich auch ein Grab, das Grab einer »weißen Hoffnung«, einer Marionette der Reaktion, die Mexiko dem europäischen System eingliedern sollte – diese Marionette war der Freund Kaiser Napoleons III., der Kaiser Maximilian.

Als ich in meiner Kindheit die Grundbegriffe der Geographie lernte, wurden mir die beiden Hemisphären der Erde gezeigt, die Alte und die Neue Welt. Mehr als einmal hat Amerika seinen Anspruch auf diesen Titel gerechtfertigt. Wird Washington dieser großen Tradition treu bleiben und aus der verworrenen Engherzigkeit von Versailles einen Rettungsweg ins Freie öffnen? Sollen Deutschland und Rußland zugrunde gehen unter den unheilbaren Zänkereien der Alten Welt oder sollen sie das Heil in der Neuen Welt finden?


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