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XVII.
Ebbe in Washington

Washington, den 28. November

Der Völkerbund war die erste amerikanische Initiative zu einem organisierten Weltfrieden. Seine Anfänge, die allgemeine und über die ganze Welt verbreitete Begeisterung für seine ersten Verheißungen, sein mühsamer Kampf ums Dasein, seine Irrtümer und Lücken und die nutzlose, unvollständige Körperschaft, die ihn jetzt in Genf vertritt, bilden den Stoff einer ungeheuren, sich widersprechenden Literatur. Für eine Weile ist der Völkerbund in den Hintergrund getreten. Er hat seinen Platz in der volkstümlichen Vorstellung der Menschen verloren.

Ich will hier nicht die Fehler und Streitereien berühren, die etwaige Arroganz, die etwaigen Eifersüchteleien, die unzweckmäßigen Kompromisse, die unnötigen Konzessionen, welche aus dem Völkerbund eine geringerwertige Einrichtung machen, als er ursprünglich zu werden versprochen hatte. Ich will nicht davon reden, warum ein so ganz amerikanisches Projekt, dem sich viele Staaten hauptsächlich nur Amerika zuliebe anschlossen, nicht die offizielle Unterstützung der amerikanischen Regierung behielt. Von solchen Dingen darf der Historiker oder der Romanschriftsteller schreiben, aber nicht der Journalist. Die Tatsache bleibt bestehen, daß das Projekt in seinen Anfängen ein edles und hoffnungsvolles Projekt war, etwas wirklich sehr Bedeutendes in der Menschengeschichte, eine Morgendämmerung in dem Dunkel des internationalen Konfliktes und des internationalen Wettbewerbs, ein Wagestück, das einen Schein von Größe um die Nation wob, die es versucht hatte, und um jenen großartigen und doch so menschlich beschränkten Mann, der vor allem mit den Verheißungen und dem teilweisen Versagen des Projektes identifiziert worden ist.

Es war, ich betone es noch einmal, im wesentlichen ein amerikanischer Gedanke, und nur Amerika hätte durch sein Freibleiben von den komplizierten und hasserfüllten Traditionen der europäischen Auswärtigen Ämter einen solchen Vorschlag in die Arena der praktischen Politik bringen können. Die amerikanische Nation ist ungewöhnlich frei von alten Traditionen des Imperialismus, der Vorherrschaft, der Ausdehnung, des Ruhmes und dergleichen. Sie wird von einem Traume verfolgt, einem eigensinnigen, immer wiederkehrenden Traume von einer ganzen, zum Frieden organisierten Welt. Sie kommt immer wieder mit beachtenswerter Konsequenz darauf zurück.

Der Völkerbund liegt jetzt, sozusagen, in der Schublade als ein Experiment, das nicht vollkommen geglückt, aber auch nicht ganz mißglückt ist und das einer genaueren Untersuchung binnen kurzem vorbehalten bleibt. Unterdessen hat der amerikanische Geist mit großer Frische und Kühnheit dieses zweite, auf einem ganz anderem Gebiete gelegene Experiment unternommen, die erste Washingtoner Konferenz zum Zwecke der Abrüstung. Der Völkerbund war zu scharf definiert und zu eng begrenzt in seiner Verfassung, zu unumschränkt in seinen Machtbefugnissen. Ein stehender Einwand gegen ihn und ein sehr vernünftiger war, daß Amerika durch ganz untergeordnete Mächte würde überstimmt und gezwungen werden können, Verantwortungen zu übernehmen, an denen ihm nichts gelegen wäre. Das zweite Experiment ist darum richtigerweise mit der lockersten Verfassung und den strengst definierten und begrenzten Zielen versucht worden. Wir fangen an einzusehen, daß es auch nur ein Experiment ist, das wahrscheinlich innerhalb seiner Grenzen erfolgreich sein, aber doch wieder nicht ganz befriedigen wird. An Stelle einer Weltverfassung haben wir eine Weltbesprechung bekommen.

Diese Besprechung ist von den öffentlichen Sitzungen der Konferenz auf die beiden Fünferkommissionen zur Beratung der Abrüstung zu Wasser und zu Land, und auf die Neunerkommission zur Beratung der Stillen-Ozean-Frage übergegangen. In allen diesen Kommissionen finden sich weitgehende Verschiedenheiten des Denkens und des Temperaments. Täglich werden der Presse Mitteilungen von dieser oder jener Kommission gemacht, von dieser oder jener Delegation, von einer Menge von Propaganden. Es ist wirklich nicht der Mühe des Durchschnittsbürgers wert, diesen Reibereien und Ausflüchten, Auseinandersetzungen und Aufregungen zu folgen. Gewisse allgemeine Grundsätze sind aufgestellt worden; der Durchschnittsbürger wird gut daran tun, sich fest an diese zu halten und darauf zu sehen, daß sie befolgt werden.

Und nun ist eine entschiedene Ebbe in dem frischen Geisteszustand der Konferenz eingetreten. Diese Zänkereien über Einzelheiten sind sehr ermüdend gewesen. Die Aufmerksamkeit läßt nach und die Heldentat Briands hat den allgemeinen Geisteszustand für eine Weile erschüttert und verwirrt. Das amerikanische Volk war in einem Zustande reiner und einfacher Begeisterung für den Frieden und die Abrüstung und ganz unvorbereitet auf die Heldentat Briands. Wie alle ernsten Erschütterungen hat auch diese nicht gleich ihre volle Wirkung gehabt.

Die Stimmung hier war so liebenswürdig, so begeistert für eine warmherzige, gefühlvolle Menschheitsverbrüderung, daß, als Frankreich in der Person Briands dem bloßen Gedanken an Abrüstung ein Schnippchen schlug und eine zwanzig Jahre alte abgestandene Stelle aus der Schrift eines toten deutschen Feldmarschalls zitierte, um eine riesige Armee und ein aggressives Marineprogramm angesichts eines erschöpften Europas zu rechtfertigen, ein großer Teil der amerikanischen Presse die rührende Neigung zeigte, diese Aufführung als irgendwie auch förderlich für unsere Friedensanstrengung zu begrüßen. Nur wenige unter uns nannten sofort das Kind beim Namen und weigerten sich, so zu tun, als ob die Ironie und die zurückgehaltene Entrüstung Balfours und Signor Schanzers »Zustimmungen« zu Briands unerhörten Ansprüchen wären, daß Frankreich mit seinen Unterseebooten und seinen Senegalesen in Europa tun und lassen könne, was es wolle.

Die Tatsache, daß die beißenden und zurückhaltenden Äußerungen dieser Herren so ausgelegt werden konnten und daß die Londoner »Daily Mail« den Versuch machen durfte, meine Bemerkungen zu der französischen Stellungnahme umzuändern und zu verstümmeln, bewiesen gegen jeden Zweifel die Notwendigkeit der größten Deutlichkeit in der Besprechung dieser Angelegenheiten. Die Sachlage hat sich jetzt aber sehr geklärt. Die Luft ist schon reiner infolge des Gewitters. Frankreich muß, das sehen wir klar, aufhören, Deutschland zu mißhandeln und Italien zu bedrohen; Europa kann nur durch den ehrlichen und rückhaltlosen Zusammenschluß Italiens, Frankreichs und Großbritanniens zu gemeinsamer Hülfe und gegenseitiger Sicherstellung gerettet werden.

Die Rückwirkung des franko-britischen Zusammenstoßes machte sich sofort auf den anderen Gebieten der Konferenz fühlbar. Die tatsächliche Weigerung Frankreichs, sich an den großmütigen Verzichtleistungen Amerikas und Englands zu beteiligen, das Gefühl der Unsicherheit, welches in Westeuropa hervorgerufen wurde, schwächte die Fähigkeit Englands, im Stillen-Ozean-Gebiet an einer Sicherung Chinas und einer Hinderung des möglichen Imperialismus der Japaner zu arbeiten. Großbritannien kann das nicht zustande bringen, solange ihm ein feindlicher Nachbar im Rücken und ein nicht ganz zuverlässiges Amerika zur Seite steht. Dadurch wurden die Aussichten auf ein freies China und auf eine wirksame Beschränkung der japanischen Seemacht bedenklich gefährdet. Die japanischen Forderungen wurden größer: »Zehn zu sechs«, sagte Amerika; »zehn zu sieben«, antwortete Japan.

Das hatte auf das, was ich die Washingtoner Gemütsstimmung der ganzen Welt nennen möchte, einen deprimierenden Einfluß. Das leichte Vorwärtsstürmen der ersten Tage war gehemmt. Hier lagen harte Arbeit und Komplikationen vor uns; die Tradition und die Denkweise zweier großer europäischer Völker waren miteinander in Konflikt geraten, irgendwie mußte ein Ausgleich geschaffen werden, wenn wir vorwärtskommen sollten – die anglo-französische Entente war, wie wir entdeckten, in einem sehr unbefriedigenden Zustande; sie mußte plötzlich in die Wäsche gegeben werden und sie mußte an der Öffentlichkeit gewaschen werden. Dazu geschah dies gerade in einer Ernüchterungsphase. In der Ebbe der großen Begeisterung wurden allerhand begrabene Felsen und Sandbänke wieder sichtbar. Die Parteipolitik trat von neuem hervor und blieb an der Oberfläche.

Ich bin der reine Waisenknabe auf dem Gebiete der amerikanischen Politik; ich weiß, daß meine harmlosen Anmerkungen zu diesen Dingen ein unerhörtes Wagnis bedeuten. Ich entnehme aber den selbstverräterischen Äußerungen einiger einflußreichen Persönlichkeiten, daß die Dinge tatsächlich ungefähr wie folgt liegen: Die Demokraten haben die Empfindung, bis jetzt hinsichtlich der Konferenz fast »übernatürlich brav« gewesen zu sein. Sie haben kein Wort der Kritik gesagt, sie haben begrüßt und geholfen, gelächelt und ermutigt. Dennoch – wenn die Dinge eine Wendung nehmen sollten, daß eine gewisse Unzulänglichkeit offenbar würde, und wenn die Auffassungen der Menschen sich daraufhin doch wieder dem Gedanken eines demokratischen Völkerbundes zuwenden sollten, der jetzt ganz unter einer Wolke verborgen scheint, so würde es geradezu übermenschlich sein, wenn man nicht ein leises Gefühl der Freude empfände und vielleicht sogar einen ganz sanften Anstoß in der Richtung des Entwicklungsprozesses gäbe.

Andererseits verrät sich hin und wieder eine leichte Nervosität in dem Eifer der eher loyalen als guten Republikaner, alles und jedes, was geschieht, als Erfolg zu bezeichnen und sich zu entrüsten, wenn, wie im Falle der Rede Briands, das Kind beim Namen genannt wird. Mehr und mehr tritt auch jene kindische, würdelose und erbärmliche Tendenz gewisser amerikanischer Typen hervor, alle auswärtigen Mächte im allgemeinen und Großbritannien im besonderen so anzusehen, als ob sie dauernd in teuflischen Machinationen gegen den Frieden und die Reinheit des amerikanischen Lebens begriffen wären. Es ist ein offener, wenn auch unzusammenhängender Pressefeldzug im Gange gegen die Abrüstung, gegen die Engländer, gegen Ausländer im allgemeinen, gegen – alle nur denkbaren lästigen Dinge.

Das sind Erscheinungen der Ebbe. Dies sind die Schwächen unserer armen Menschlichkeit unter der Einwirkung der Müdigkeit. Nichtsdestoweniger müssen diese Dinge ausgedroschen werden, und sie werden auch ausgedroschen werden. Wie ich zu Anfang sagte, es ist nicht leicht, immer auf dem Posten zu bleiben.

Darum also war es hohe Zeit, daß der Präsident, der in so hohem Maße die Einfachheit und die Kraft jenes echten Amerikas verkörpert, an das ich so fest und so unerschütterlich glaube, wieder auf die Bühne hinaustrat, von der er sich zurückgezogen hatte, nachdem er, am Eröffnungstage der Konferenz, seine große Rede gehalten und den Vorsitz abgegeben hatte. In der indirekten Art, die hier den Präsidenten geläufig ist, hat er einige sehr wichtige Erklärungen abgegeben.

Mein Freund Mr. Michelson hat vor einigen Tagen den Entwurf einiger sehr wichtiger Vorschläge veröffentlicht, die bereits sehr große Zustimmung bei den zwanglosen Beratungen, die in ganz Washington gepflogen werden, gefunden haben. Dieser Entwurf bezieht sich auf die teilweise Aufhebung der Schulden der Alliierten unter gewissen Abrüstungsbedingungen und wäre durch eine zweite, demnächst einzuberufende Konferenz zu beraten. Des weiteren hat der Präsident ein drittes Experiment in Gestalt einer zweiten Washingtoner Konferenz zur Erledigung der noch offenstehenden Fragen vorgeschlagen. Er hat auch noch von einer dritten Konferenz gesprochen, welche die Abrüstungsabkommen bestätigen und weiterführen sollte, einer Konferenz, bei der, wie es scheint, die Deutschen und die spanisch redenden Mächte, vielleicht auch Rußland, eine Stimme haben sollen. Eine derartige periodische Wiederholung der Konferenz würde sie allmählich zu einer dauernden Einrichtung gestalten und würde sie darum langsam und naturgemäß zu jenem Völkerverband entwickeln, den wir alle suchen.

Dies sind erfrischende Versprechungen in diesen Tagen der Ebbe; sie zeigen, daß der Antrieb, der vor vierzehn Tagen so großartig einsetzte, nicht erstorben ist, daß die Flut, die einer Weltberatung und einem organisierten Weltfrieden zuströmt, bald wiederkehren wird, mächtiger und kraftvoller als das erste Mal. Inzwischen müssen diese offenen Besprechungen über die verschiedenen Stellungnahmen und über Einzelheiten fortgehen, sie dürfen nicht zu unheilbaren Zwistigkeiten und unübersteigbaren Schwierigkeiten vergrößert werden. Sie sind unvermeidliche und notwendige Dinge, aber sie sind nicht die großen, die wesentlichen Dinge. Wenn die Flut sich verläuft und unsere wichtigsten Pläne gestrandet sind in dieser Bucht, die vielleicht zum Ozean des Friedens führt, so werden sie wohl mit nach oben gekehrtem Kiel daliegen und etwas beschädigt aussehen; uns bleibt nichts anders übrig, als unsere Kiele zu reinigen, die lecken Stellen auszubessern und zu warten, bis die Flut wiederkommt.


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