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XI.
Frankreich in voller Beleuchtung

Washington, den 21. November

In der ersten Sitzung der Washingtoner Konferenz wurden uns vor allem, um mich in der Sprache der Kinematographenreklame auszudrücken, der Präsident Harding und Herr Staatssekretär Hughes vorgeführt. Der zweite Tag war der Tag des Mr. Balfour, diese dritte Sitzung, von der ich gerade jetzt komme, war die Sitzung des M. Briand.

Diese vier Personen stehen in einem sehr auffallenden Kontrast zueinander. Präsident Harding sah sehr stattlich aus, als er eine sehr stolze Rede nach bester amerikanischer Art hielt, Hughes war hart, genau, scharf und sehr ernst und klar, Balfour, schlank und etwas vornübergeneigt, mit silbergrauem Haar und urbanen Formen, sprach aus dem Stegreif, in sehr vorsichtig gewählten Worten und mit einer Sorgfalt, die keinen Satz unvollendet ließ und keine Bresche für einen Applaus bot. Alle drei sind größer und sehen soignierter aus als Briand, dessen mächtiger Haarschopf sein Haupt wie eine Löwenmähne umwallte, dessen ausdrucksvoll bewegliche Züge und lebhafte Gesten den erregenden Klang seiner wunderbaren Stimme unterstützten. Seine Beredsamkeit war derart, daß viele Kongreßmitglieder in der oberen Galerie, die kein Wort Französisch verstanden, durch die bloße Anmut und die melodische Schönheit der Aufführung zum Applaus verleitet wurden.

Aber die Beredsamkeit genügte doch nicht, die Sache zu retten. Briand sprach zu einer Versammlung, die der Sache, welche er vortrug, durch und durch skeptisch gegenüberstand. Ich beobachtete die ruhigen, abwägenden Mienen der sechs Männer, denen er während seiner Rede gegenüberstand – Root, Lodge und Hughes saßen in unbeirrbarer Ruhe wie Richter da; Balfour gab sich alle Mühe, wie ein teilnahmsvoller Bundesgenosse auszusehen, angesichts eines Vortrags, der Großbritannien in beleidigender Weise als einen Faktor der europäischen Lage ignorierte; Lord Lee lag halb zusammengesunken auf seinem Sitz und schien vorsichtig zu prüfen; Geddes trug mit seinem leisen Lächeln die Maske des Ungläubigen zur Schau.

Die Stimme des Redners hob und senkte sich, sie dröhnte ihnen in die Ohren, plädierte, versuchte sie in Harnisch zu bringen – wie Meereswogen über Felsen fluten. Auf ihren stillen und unbeweglichen Gesichtern lag dauernd ein harter oder höflicher Ausdruck, als ob sie einem Plaidoyer zuhörten, dem Plaidoyer eines Advokaten von schäumender Beredsamkeit in der Verteidigung einer unerträglich schlechten Sache.

Briand machte der Konferenz überhaupt keine bestimmten Vorschläge. Nach der prachtvollen Rede Hughes' mit ihrem wiederholten »Wir sind bereit zu der Aufgabe von –« bildete Briands Rede eine Antiklimax. Frankreich war zu gar keiner Aufgabe bereit. Frankreich weiß überhaupt nicht, wie man irgend etwas aufgeben kann. Es hat nichts gelernt und nichts vergessen. Das ist sein größtes Unglück. Briand erklärte die Lage Frankreichs in einer melodischen, aus Rechtfertigungen und Entschuldigungen gemischten Rede. Der französische Beitrag zu der Abrüstungskonferenz ist der feste Entschluß Frankreichs, nicht abzurüsten. Es ist im Begriff, die militärische Dienstpflicht von drei auf zwei Jahre herabzusetzen. In einem Europa nicht militärisch geschulter Männer ist das keine Abrüstung, sondern eine Ersparnis.

Der wesentliche Zug in der Rede Briands war, daß er so tat, als ob England in den europäischen Angelegenheiten gar keine Rolle spiele. Frankreich, um dessentwillen – wie Balfour in einigen sehr feinen Worten Briand erinnerte – das britische Imperium eine Million Tote gegeben hat – also fast soviel wie Frankreich selbst –, Frankreich, zu dessen Rettung vor dem Angriff der Deutschen Großbritannien, Rußland und später Italien und Amerika herbeigeeilt waren, dieses Frankreich, so behauptete Briand, stehe allein in der Welt, ohne Freunde und einer greuelvollen Behandlung seitens Deutschlands und Rußlands ausgesetzt. Unter der sinnlosen Voraussetzung dieser Isolierung Frankreichs entrollte Briand ein Plaidoyer, das entweder – ich weiß nicht genau, was ich denken soll – und wie soll ich nur die uralte Alternative ausdrücken? – ungenügend in seiner Darlegung und Berücksichtigung der vorliegenden Tatsachen war oder – nun, das halt das Plaidoyer eines Advokaten war.

Die Sache ist einfach die, daß Frankreich eine ungeheure Armee angesichts einer entwaffneten Welt unterhält, und daß es energische Vorbereitungen trifft für neue kriegerische Unternehmungen in Europa und für einen Unterseebootskrieg gegen Großbritannien. Um diese Handlungsweise zu entschuldigen, gab Briand einen märchenhaften Bericht über die deutschen Vorkehrungen zur Wiederaufnahme des Krieges; jeder Soldat in der sehr geringfügigen Truppenmacht, die Deutschland noch gestattet ist, sei ein Offizier oder ein Unteroffizier, so daß die deutsche Armee tatsächlich in der Lage wäre, sich jeden Augenblick um Millionen zu vermehren. Deutschland sei auch noch nicht moralisch entwaffnet, weil Ludendorff – Briand brachte lange Zitate aus seinen Schriften – noch immer schreibt und kriegerischen Unsinn redet.

Sogar Briand muß zugeben, daß die gegenwärtige deutsche Regierung ehrlich ist und die besten Absichten hat, aber es ist eine schwache Regierung. Aber darum handelt es sich hier nicht. Das wirkliche Deutschland ist nämlich das Deutschland, welches Briand braucht, um es seiner Beweisführung zugrunde zu legen. Hinter Deutschland aber steht Rußland. Er beschwor ein fürchterliches Schreckgespenst von Sowjet-Rußland herauf, das ganz Europa erobert hätte, wenn das französische Heer und Polen nicht gewesen wären. Jener schmachvolle Angriff der Polen auf Rußland im vorigen Mai war, so versicherte er seinen sechs ruhig und aufmerksam beobachtenden Zuhörern und uns übrigen, ein räuberischer Überfall der westlichen Kultur durch Rußland.

»Es gab Menschen in Deutschland,« so sagte er mit einer Stimme, die uns eine Gänsehaut über den Rücken jagte, »die sie zum Vorwärtsgehen ermutigten.« Davor haben uns die Franzosen bewahrt. Das französische Heer mit seinen ritterlichen Senegalesen ist der Friedensstifter und Beschirmer Europas.

Man hörte zu und traute seinen Ohren nicht. Man hörte weiter zu, weil man das Gehörte kaum glauben konnte, um es noch einmal durch den Dolmetscher zu vernehmen. Ja, es stimmte, er hatte das wirklich gesagt. Das arme, erschöpfte Rußland, das Paris gerettet hatte, das nichts wollte als Ruhe, ausgebeutet, verhungert, von gedungenen Banden ausgeplündert, den Einfällen von Esthen, Polen, Japanern in Murmansk, in der Krim, in der Ukraine, an der Wolga preisgegeben, dieses Rußland, das unaufhörlichen Angriffen ausgesetzt ist, zwingt Frankreich zu seiner Offensiv-Defensive.

Man wird an den Bahnarbeiter erinnert, der seine Frau durch Fußtritte tötete, um sich vor ihrer Gewalttätigkeit zu schützen.

(Es ist interessant, sich an dieser Stelle ins Gedächtnis zu rufen, daß der Kaiser zu einer Zeit, als Deutschland und nicht Frankreich den Ehrgeiz hatte, Europa zu beherrschen, seine deutschen Rüstungen besonders gern mit seiner Furcht vor der gelben Gefahr entschuldigte.)

Als Briand diese Aufführung durch Unterhaltungen mit den Journalisten vorbereitete, entschuldigte er den Wunsch Frankreichs nach zahlreichen Unterseebooten damit, daß es auf drei Küsten angegriffen werden könne; aber bei reiflicher Überlegung ließ er diese Betrachtung doch aus seiner Rede aus. Es wäre doch, sogar für eine amerikanische Zuhörerschaft, etwas zu stark aufgetragen gewesen. Und selbst Balfour in all seiner liebenswürdigen Rücksichtnahme auf einen Mit-Staatsmann hätte kaum umhin gekonnt, die deutliche Frage zu stellen: »Von wem erwartet Frankreich einen Angriff zur See?«

Die Gefahr eines Angriffs auf die drei französischen Küsten ist nicht größer als die Gefahr eines Angriffs auf die Vereinigten Staaten von Kanada aus. Frankreichs Schiffe sind ebenso sicher auf dem Meere wie ein Wanderer in der Fifth Avenue. Wenn es jetzt Unterseeboote baut, so baut es sie, um den britischen Handel anzugreifen, und aus keinem anderen Grunde. Alle Ludendorffs und Sowjets der Welt rechtfertigen nicht ein einziges Unterseeboot. Jedes Unterseeboot, das Frankreich vom Stapel laufen läßt, ist beinahe ein so unmittelbarer Friedensbruch mit England, wie wenn es anfinge, Übungen in der Beschießung des Hafens von Dover über den Kanal hinüber anzustellen, und jedermann in England wird den Zweck klar erkennen. Briand behauptete in seiner Unterredung mit den Journalisten, das französische Imperium wäre ebenso weitläufig ausgebreitet wie das britische, und deshalb wäre die Notwendigkeit eines Schutzes seiner Verbindungen ebenso groß. Das wurde ausgesprochen ungeachtet der Erinnerung Balfours, daß Großbritannien seine Bevölkerung nur sieben Wochen hindurch ernähren könne, wenn seine überseeische Zufuhr abgeschnitten werden sollte. Frankreich kann sich selbst ein Jahr lang ernähren. Das Argument wäre in einem Knaben-Debattierklub schwach erschienen, und Briand, der entschlossen ist, sonst nichts aufzugeben, war gut beraten, als er wenigstens dieses Argument aufgab. Ich gestehe, daß ich das Benehmen Frankreichs im gegenwärtigen Augenblick nicht begreifen kann. Ich verstehe nicht, wie es sich sein Verhalten in Europa motiviert, und ich verstehe auch seine Stellungnahme bei der Konferenz nicht. Warum konnte es sich nicht an der allgemeinen Arbeit der Konferenz beteiligen, anstatt eine Gelegenheit für Advokatenkunststücke darin zu sehen? Ich habe bereits gesagt, daß die Franzosen hier mehr das Ansehen von Ausländern haben als irgendein anderes Volk. Sie scheinen als Wortführer des Nationalismus hierher gekommen zu sein, als Advokaten, ohne einen Funken jenes leidenschaftlichen Wunsches, die Grundfeste eines Weltfriedens zu errichten, von dem sicherlich fast jede andere Delegation beseelt ist. Tatsächlich ist in Amerika eine große und anhaltende Begeisterung für Frankreich vorhanden. Marschall Foch erscheint in Amerika als der größte aller Helden, er ist die populärste Persönlichkeit. Er ist durch Gastfreundschaft und Ehrenbezeugungen beinahe erstickt worden. Die französische Flagge weht viel häufiger in Neuyork und Washington als die britische. Dies mag französische Besucher leicht zu der Annahme verleiten, daß sie hier besonders beliebt sind und daß Frankreich auf die Unterstützung der Amerikaner rechnen kann, wenn es ihm einfallen sollte, sich mit den Briten, den Deutschen oder den Russen zu entzweien.

Es könnte keinen größeren Irrtum geben. Die Begeisterung für Foch ist meist persönlicher Natur, er war der General aller Alliierten. Die Begeisterung für Frankreich ist bis zu einem gewissen Grade traditionell und erstreckt sich nicht auf die französischen Nationalisten und die Gegenwart. Amerika liebt Frankreich, wie alle freidenkenden und intelligenten Menschen der ganzen Welt Frankreich lieben müssen, jenes Frankreich, das als der große Befreier des Menschengeistes dasteht, das Frankreich der großen Revolution, das Frankreich der Kunst und des Lichtes, das schöne und ritterliche Frankreich. Es ist schwer, mit bitteren Worten über ein Land zu schreiben, das der Welt einen weisen und lächelnden Anatole France geschenkt hat oder einen so tapferen und gerechten Mann wie den verstorbenen Robert d'Humiers. Aber wo ist heute dieses Frankreich? Dieses Frankreich ist nicht bei der Konferenz in Washington erschienen. Hier ist nur ein unbußfertiger Apologet eines dreijährigen Sündigens gegen den Weltfrieden, ein Apologet nationalistischer Angriffsbereitschaft unter der Maske der Angst und der wüsten Gier unter der Maske der Vorsicht.

Hier in Neuyork und in Washington beobachte ich denselben allmählichen Wandel in der öffentlichen Meinung hinsichtlich Frankreichs, der auch in London bemerkbar ist. Ich möchte das so deutlich machen wie irgend möglich. Ich möchte es meinen Freunden in Frankreich mitteilen, weil ich Frankreich sehr geliebt habe und weil ich nicht glaube, daß das französische Volk ahnt, was unter den englisch redenden Völkern heute vorgeht. Jedermann hat hier den Wunsch, daß Europa sich endlich erholen möge, und man fängt an einzusehen, daß das hauptsächlichste Hindernis einer Gesundung Europas der eigensinnige Entschluß der Franzosen ist, das Festland zu beherrschen, die veraltete und unmögliche Politik Ludwigs XIV. wieder aufzunehmen und durchzuführen, einen alten und unerträglich langweiligen Streit aufrechtzuerhalten und allenthalben Unfrieden zu stiften, um durch den Zwiespalt zu herrschen, anstatt sich ehrlich an einer europäischen Verbrüderung zu beteiligen.

Hinsichtlich Deutschlands und Österreichs wandelt sich die öffentliche Meinung, sogar noch schneller als in England, in ein Gefühl des Mitleids und der Entrüstung. Die Auffassung hinsichtlich Rußlands schlägt dieselbe Richtung ein. Man bemerkt diese Unterströmungen des Empfindens bei Leuten, von denen man es am wenigsten erwartet hätte. Den Menschen ist das Frankreich Napoleons III. wieder eingefallen, jenes unruhige und bösartige Frankreich, das in Mexiko so nahe an einen Konflikt mit Amerika geriet und während eines Vierteljahrhunderts Europa in einem Fieberzustand erhielt. Es ist ein ungeheurer Verlust für die Washingtoner Konferenz, es ist ein ungeheurer Verlust für die ganze Welt, daß die großen Eigenschaften der Franzosen, ihr logischer Verstand, ihre machtvolle und doch gesunde Phantasie augenblicklich ganz unter der Herrschaft der rhetorischen und Gefühlsseiten des französischen Charakters zu stehen scheinen.


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