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XXI.
Eine Erinnerung an den Krieg

Washington, den 5. Dezember

Eine Untersuchung der Lage, welche sich in Europa zwischen Frankreich, England und Deutschland entwickelt hat, führt uns zu ganz denselben Schlußfolgerungen wie eine Untersuchung der Lage am Stillen Ozean. Es gibt keine andere Alternative: Entweder muß die Sache durchgefochten und die entschiedene Vorherrschaft irgendeiner Macht anerkannt werden, oder es muß ein Bündnis geschlossen werden, das auf einer ausdrücklichen Vereinbarung beruht, ein Bündnis nämlich, welches eine gemeinsame ausführende Kommission unterhielte, um die Befolgung des Abkommens zu bewachen und zu erzwingen. Es führt kein Weg aus dem Krieg außer dem eines organisierten Friedens. Washington hat das deutlich erwiesen. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, einen in Konferenzen tätigen Völkerverband sich zu einem organisierten System von Weltaufsichten für Weltangelegenheiten und für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens entwickeln zu sehen, oder wir müssen uns gefaßt machen auf eine Fortsetzung des Krieges. Darum also ist es wohl der Mühe wert zu bedenken, wie diese Fortsetzung des Krieges aussehen wird. Wenn ihr den Frieden nicht durch irgendein derartiges Bündnis organisieren wollt, dann organisiert den Krieg, denn der Krieg wird bestimmt wiederkehren, zu euch oder zu euren Kindern.

Aus Gründen, die ich in früheren Artikeln dargelegt habe, Gründe, die durch diese Washingtoner Konferenz in ausgiebiger Weise bestätigt worden sind, kann eine Einschränkung der Rüstungen wenig mehr als eine strategische Waffenruhe bedeuten. Sie kann sogar die Streichung kostspieliger Posten ermöglichen und dadurch den Krieg verbilligen und erleichtern.

Ich möchte nebenbei bemerken, daß die Berechtigung des Verlangens nach irgendeinem Völkerverband, zur Verhandlung und Beaufsichtigung der gemeinsamen Interessen der Menschheit, auf einer breiteren Grundlage beruht, als es die bloße Verhinderung des Krieges wäre; die wirtschaftlichen und sozialen Streitigkeiten der Menschen geben auf die Länge der Zeit vielleicht ein stärkeres und abschließenderes Argument für die Notwendigkeit der menschlichen Eintracht ab als das bloße Kriegsübel; aber in diesem Artikel will ich die zur Diskussion stehende Frage auf den Begriff des bloßen Krieges beschränken und den Leser bitten, sich die mutmaßliche Art des Zukunftskrieges vorzustellen, wenn die Entwicklung der Kriegführung nicht durch eine entschlossene und bewußte Anstrengung der Menschen gehemmt wird.

Ich will mich nicht aufhalten bei dem schlecht ausgerüsteten Halsabschneiderkrieg, der gerade beendigt ist und der sich dank der Streitigkeiten und Rivalitäten zwischen Frankreich und England wahrscheinlich noch eine Weile in Osteuropa fortsetzen wird, oder bei den Kriegen der kleinen selbstherrlichen Nationen, welche der Vertrag von Versailles aufeinander losgelassen hat, oder den Raubzügen der Polen in der Ukraine und der Rumänen in Ungarn und der Serben in Albanien; dies altmodische, durch Räuberei und Brandschatzung belebte Spiel, das vor langer Zeit im Dreißigjährigen Krieg seine höchste Vervollkommnung erfuhr. Das sind nicht so sehr Kriege als Energiekrämpfe, Zustände beschleunigter Zerstörung in dem faulenden Körper der osteuropäischen Zivilisation.

Ich meine den Krieg, der kommen wird, wenn Frankreich demnächst England angreift, oder wenn Amerika und Japan sich auf einen tüchtigen, langen, gründlich zerstörenden Ringkampf einlassen. Man mag sagen, daß ein Krieg zwischen Frankreich und England undenkbar ist, doch haben einige würdige Leute in Frankreich schon ernstlich an diese Möglichkeit gedacht. Ganz ernstlich, aber nicht sehr einsichtsvoll. Sie verstehen die moralische Unmöglichkeit eines Krieges der Briten gegen die Amerikaner nicht, sie haben nie von Kanada gehört, sie haben nicht den Wortlaut des englisch-japanischen Bündnisses gelesen, und darum träumen sie von einer herrlichen Zeit, wenn Amerika gegen England und Japan Krieg führen wird und wenn Frankreich mit großartigen Gesten und seinen Unterseebooten und den endlich ruhmreich gerechtfertigten Senegalesen Amerika »zu Hilfe kommen wird«. So will Frankreich durch Unfrieden zur Herrschaft gelangen und zu schwindelnden Geschicken emporklettern. Errötende und verlegene amerikanische Staatsmänner haben schon, wie ich vermute, auf einige hinterlistige Einflüsterungen hören müssen. Selbst mitten in unserem Elend hat doch der Gedanke etwas Belustigendes, wie der heiße Atem der Diplomatie der Alten Welt die frische amerikanische Wange berührt. Ich sage nicht, daß dies die Gedanken und Taten Frankreichs sind oder auch nur eines sehr großen Bruchteils des französischen Volkes, aber sie sind ganz bestimmt die Gedanken und Handlungen einer lärmenden nationalistischen Minderheit in Frankreich, die sich dort gegenwärtig in einer gefährlichen Machtstellung befindet.

Dennoch, abgesehen von der Tatsache, daß die Engländer sich immer weigern werden, gegen Amerika zu kämpfen, scheint doch kein wirklicher Grund vorzuliegen, warum, in Ermangelung eines sich entwickelnden Friedensbündnisses, das dies verhindern könnte, nicht der eine oder der andere der von mir erwähnten Konflikte zum Austrag kommen sollte. Auf die Dauer kann man den Krieg nicht vermeiden, wenn man umfassende Bündnisse und feste Abkommen vermeidet zur Regelung von Differenzen mit den Leuten, die man sonst bekriegen muß.

Laßt uns also den Versuch machen, uns einen Krieg zwischen einem Paar der vier Mächte in etwa fünf bis zehn Jahren vorzustellen. Sie haben alle gefahrbringenden Bündnisse oder Abkommen oder Begelungen vermieden, haben sich die Freiheit des Handelns bewahrt und sind vollkommen – gerüstet. Wir dürfen uns nicht zu der Annahme verleiten lassen, daß diese Kriege den Richtlinien des Weltkrieges 1914–1918 folgen und daß wir einen schnellen Aufmarsch großer Heere hinter Schützengräben erleben werden, mit gedrängten Artillerieparks hinter ihnen, Tankangriffen und allem übrigen. Diese Art des Krieges ist bereits veraltet, und die Tatsache, daß diese Kriege, welche wir im Auge haben, Überseekriege sein werden, macht jede solche Erstarrung der Landheere zu einer Unmöglichkeit. Die Kämpfenden werden sich anstrengen müssen, einander auf ganz anderem Wege beizukommen.

Wir müssen uns an den Grundsatz erinnern, daß es der Zweck jedes Kämpfens ist, den Gegner in eine Gemütsverfassung zu versetzen, die zur Aufgabe des Ringens und zur Unterwerfung und Demütigung unter den Willen des Siegers führt. Die altertümlichen Kriege richteten sich nur gegen das kleine feindliche Heer und gegen die feindliche Regierung, aber in diesen demokratischen Zeiten ist der Wille zum Frieden oder zum Krieg auf das Volk übergegangen und hat sich unter ihm verbreitet, so daß es der Gemütszustand des ganzen feindlichen Volkes ist, weicher zum Zielpunkt des Krieges geworden ist. Der alte Gedanke eines einrückenden und gegen die Hauptstadt vorrückenden Heeres wird darum von einer anderen Vorstellung abgelöst, der Vorstellung des Angriffs auf dem Wege der Propaganda, durch Operationen, welche geeignet sind, furchtbare wirtschaftliche Not hervorzubringen, sowie durch Luftangriffe auf die feindliche Bevölkerung.

Ich will letzteres zuerst besprechen. Wenige Menschen haben gegenwärtig einen klaren Begriff von den Möglichkeiten des Luftkrieges. Die letzten Jahre des Weltkrieges haben der Welt nur einen leichten Begriff davon gegeben, was Luftexplosivgeschosse sein können. Immer waren die Luftangriffe nur bestimmt, die ungeheuren Landkämpfe der europäischen Kriegsunternehmungen zu unterstützen, sie hatten den Zweck, auszukundschaften, aufzureizen, zu überfallen, aber weder die Geldmittel noch die Kräfte waren vorhanden, um sie genügend auszubilden. In den möglichen Überseekriegen, welche wir jetzt ins Auge fassen, werden die Landheere und die großen Kanonen nicht der wichtigste Faktor sein, sondern die Luftschiffe und die Marine. Die Mächte, die wir erwähnt haben, werden daher ihre Luftkriegsausrüstung in ganz anderem Maßstabe betreiben, sie werden gezwungen sein, ihre Hauptschläge mit dieser Waffe zu tun; wir können bestimmt auf die größtmöglichen weittragenden Flugzeuge und auf die größten Bomben mit dem wirkungsvollsten Inhalt rechnen. Wir können auch bestimmt darauf rechnen, daß binnen drei oder vier Stunden nach der Kriegserklärung zwischen Frankreich und England riesige Bomben mit schrecklichen Explosivstoffen oder mit vergiftetem Gas oder Brandstoffen gefüllt durch die stets versagenden Schutz- und Abwehrvorrichtungen hindurchgelangt sein werden, um die Straßen von Paris und London zu belegen. Denn es ist die Eigentümlichkeit des Luftkrieges, daß er keine Fronten und keine wirksame Abwehr kennt. Man bewirft den anderen beinahe überall mit Bomben und er bewirft uns in gleicher Weise.

Viele Leute scheinen der Ansicht zu sein, Amerika und Japan wären zu weit voneinander entfernt für diese Sachen; ich glaube aber, daß diese Entfernungen einem Luftangriff keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bieten werden. Es wird eine Frage von Tagen, anstatt von Stunden sein, weiter nichts, bis die kleinen Kinder von Tokio oder San Franzisko die letzte neue Erfindung in Gasen einatmen. Das Ganze wird bloß etwas weitläufiger sein; es wird nötig werden, die Flugzeuge bis zu einem bequemen Ausgangspunkte zu dem gewollten Ziel durch die Vermittlung eines unter Wasser tauchenden Luftkreuzers zu transportieren; das ist der ganze Unterschied.

Alle Flotten der Welt könnten ein gut vorbereitetes Japan nicht daran verhindern, sich auf irgendeinen unbeschützten Punkt der kalifornischen oder der mexikanischen Küste zu stürzen, sich dort eine zeitweilige Luftschifferstation einzurichten und dann über einen Radius von tausend Seemeilen an die Arbeit zu gehen. Es könnte sogar eine Luftschifferstation auf dem offenen Meere unterhalten. Es würde ebenso leicht für Amerika sein, das gleiche in Japan zu tun. Der Bürger von Los Angeles, der in die Luft gesprengt wird oder der sich die Lungen heraushustet und erstickt, oder der zermalmt wird unter den stürzenden, brennenden Gebäuden, könnte sich, wenigstens mit dem Gedanken trösten, daß Amerika so gut gerüstet war, daß sein Mitmensch in Tokio sicher noch schlimmer daran ist und daß er selbst in Stücke zerrissen wird nach der guten amerikanischen Methode, ohne Verwicklungen durch irgendwelche Bündnisse mit dekadenten Mächten der Alten Welt. Außerdem braucht ein Luftkrieg zwischen Amerika und Japan nicht auf das Gebiet des Stillen Ozeans beschränkt zu sein. Ich sehe keinen Hinderungsgrund für Japan, wenn es den Wunsch haben sollte, mit Hilfe eines gefälligen Neutralen oder dergleichen in den Atlantischen Ozean bis Neuyork vorzudringen und die Festigkeit der großen Gebäude in der Stadt durch die Abwerfung einiger Bomben zu prüfen. Die Unterseeboote werden sicher imstande sein, die Landung irgendwelches Landheeres, das die Vorbereitung und Ausführung solcher Expeditionen hätte aufhalten können, auf beiden Seiten des Stillen Ozeans zu verhindern.

Ich weiß nicht, wie die amerikanische Bevölkerung wiederholtes Bombenwerfen aushalten würde. Im letzten Krieg ist der Luftkrieg nicht ein einziges Mal in das häusliche Leben der Amerikaner eingedrungen. Das Brummen des Gothaflugzeuges und das lange Crescendo der Abwehr, während das Ding näher kommt, stand nicht auf der Liste vertrauter Kriegsgeräusche. Einige europäische Völker, die diesen Sachen ausgesetzt waren, wurden arg durchgerüttelt, und dennoch lag, wie ich bemerkte, nicht die volle Kraft der europäischen Kriegsteilnehmer in diesen Luftkriegen. Eine Folge davon war – in beinahe jedem Lande – der Ausbruch des Spionenwahns; jeder Mensch, der einen ausländischen Namen trug oder ausländisch aussah, geriet in England z. B. in Verdacht, »signalisiert« zu haben. Daraus sind viele Gemütsleiden entstanden. London besitzt jetzt eine große Zahl von Luftangriffsirrsinnigen und durch Luftangriffe minderwertig gewordener Kinder, und das sind nur die extremsten Beispiele einer weitverbreiteten Überreizung. Im weiteren Verlaufe des Krieges wurde die Nervenanspannung durch die Gefahren der Luftangriffe verwoben mit der argen Not, welche im öffentlichen Leben durch die Entwicklung der Propaganda erzeugt wurde. Das öffentliche Leben in Frankreich, Deutschland und England wurde durch die Propaganda immer irrsinniger. Die Angst vor hinterlistigem, flüsterndem Unheil, welche überall umging, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Angst vor der Hexerei, bis es endlich gefährlich erschien, irgend etwas zu äußern außer den blutgierigsten Bedrohungen und Anschuldigungen des Feindes. Eine Art von Mißtrauenskrankheit hemmte sogar die Anwendung neuer Erfindungen.

All diese geistige und moralische Verwirrung und Verschlechterung ist unvermeidlich in jedem hoch organisierten Gemeinwesen, das sich wieder in einen gut vorbereiteten Krieg begibt. Der ganze Unterschied wird sein, daß sie größer, intensiver, bitterer und verwerflicher sein werden. Ich will gar nicht erst den Versuch machen, auszuführen, welches die Folgen des wirtschaftlichen Angriffs durch die Unterseeboote auf die Schiffahrt und durch die Überfälle der Luftschifferflotte sein würden, die, vielleicht unterstützt durch Spione und Verräter, sich auf die Brücken, die Fabriken, die Depots, die Getreidespeicher, die Häfen usw. richten würden.

Wenn solche Dinge heute im Stillen-Ozean-Gebiet noch nicht ausführbar sind, so werden sie es in zehn Jahren sein.

Aber der Gegenstand meiner Ausführungen in Washington ist der Friede und nicht der Krieg. Ich glaube, es war Nevinsons kürzlich erschienener Bericht über die neuesten Errungenschaften an vergifteten Gasen, der meine Phantasie angeregt hat, mir die Möglichkeiten gefahrbringender Verträge und schwieriger Abmachungen auszumalen, die die »große Entscheidung« mit sich bringen wird. Ich werde in meinem nächsten Artikel auf gewisse vernachlässigte Probleme der Friedenskonferenz zurückkommen.


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