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XXIV.
Die Rolle Amerikas im Weltfrieden

Washington, den 9. Dezember

Ich bin hingegangen, um die Rede des Präsidenten bei der Wiedereröffnung des Kongresses zu hören. Er sprach vor einer gemeinsamen Sitzung des Senates und des Repräsentantenhauses, in dessen Saale als dem größeren von beiden Sälen sie abgehalten wurde. Bisher sind das Continental-Gebäude und das Pan-Amerikanische Gebäude, drüben bei dem Weißen Hause, der Mittelpunkt gewesen, um den sich meine Beobachtungen gedreht haben, und sie stehen in Zusammenhang mit den guten Absichten und den großen Vorsätzen, die wie große schillernde Seifenblasen rings um die Konferenz, die sich in dieser Region abspielt, glänzen und sich ausdehnen. Aber die Konferenz – soviel Gedankenfreiheit und Diskussionsfreiheit sie auch besitzen mag – hat keine Macht zu handeln. Bevor der Senat nicht mit einer Zweidrittelmehrheit den Vorschlägen des Präsidenten zugestimmt hat, sind die Vereinigten Staaten an kein Abkommen mit der Außenwelt gebunden. Das ist eine Tatsache, die in großen Buchstaben in Zeitungsredaktionen, diplomatischen Kanzleien usw. angeschrieben stehen sollte als eine fortwährende Warnung an die Europäer, welche über die auswärtigen Beziehungen der Vereinigten Staaten schreiben oder mit ihnen zu tun haben. Denn bei uns wird die Verfassung der Vereinigten Staaten ebenso ungenau gelesen und ebenso bedenklich mißverstanden wie das englisch-japanische Abkommen hier.

Durch jenes ganze, erste, unheilvolle Jahr des Friedens hindurch glaubte Europa, der Präsident wäre der Eigentümer von Amerika, anstatt dessen Leiter zu sein. Ich begab mich daher mit großem Interesse und großer Neugier zu dieser Versammlung auf dem Kapitol, um zu sehen, wie der Präsident mit seiner gesetzgebenden Körperschaft verhandelt. Hier galt es keine Anregungen, sondern Entscheidungen. Was hier durchgeht, ist vollbracht und getan, die hier gefällten Entscheidungen sind nur einem unterworfen – der Anerkennung durch den Obersten Gerichtshof, im Falle sie als nicht verfassungsmäßig angegriffen werden. Ich ging hin mit – wie soll ich sagen – einigen sehr vorurteilsvollen Erwartungen. Die Amerikaner haben in einem Punkte sehr große Ähnlichkeit mit den Engländern. Sie schimpfen ununterbrochen auf ihre eigenen Institutionen – Alkoholabwehrgesetz und Polizei –, aber diese liegen außerhalb meines Bereichs. Ich habe nicht ein gutes Wort über den Kongreß gehört, seit ich hier bin, und nach der einstimmigen Meinung aller Schwätzer der Vereinigten Staaten verbindet der Senat das Niedrige mit dem Teuflischen in einer besonders verabscheuenswürdigen Weise.

Sogar einzelne Senatoren gaben dies mit einer Art von unheimlich finsterem Stolz zu. Genau so redet man in London über das Parlament, wenn auch mit mehr Berechtigung. Aber diese Art von Äußerungen setzen sich fest in der Vorstellung des ahnungslosen Fremdlings, und wenn man sie auch nicht ernst nimmt, so macht das Ganze doch einen gewissen Eindruck. Ich hatte die Empfindung, daß ich im Begriff sei, einer Versammlung von Strandräubern beizuwohnen, die Amerika dauernd hindern würden, seine Stellung als leitende Macht der Welt, als die erste Verkörperung des neuen Denkens in den internationalen Angelegenheiten anzutreten.

Alle diese Vorstellungen werden aufgehoben, sobald man die beiden Körperschaften in ihrem eigenen Heim sieht und sobald man selbst mit diesen legendären Wesen, Repräsentanten und Senatoren, spricht. Man bemerkt gleich, daß sie keine im Entstehen begriffene bösartige Untergattung des Menschengeschlechts sind. Man entdeckt eine Versammlung von Männern, die sehr großes Interesse an der Politik des Auslandes haben und in bezug auf sie ganz unerwartet freidenkend sind. Sie betrachten neue Pläne und Gedanken mit kritischen, aber keineswegs feindlichen Blicken. Man bemerkt, daß der Kongreß nicht ein bloßes Hindernis ist, sondern ein Sieb, und wahrscheinlich ein sehr notwendiges Sieb für die neuen internationalen Gesinnungen der Amerikaner.

Das Zeremoniell der Versammlung war einfach und hatte die Würde der Einfachheit. Die große Tribüne für Besucher, die die britischen Beobachter immer durch ihre Größe überrascht, war besetzt mit Besuchern aller Art, vor allem Damen, und besonders voll war die Pressetribüne, welche sich über dem Sprecher und dem Sitz des Präsidenten befindet. Irgendein dunkler Rest meiner gründlichen religiösen Erziehung erinnerte mich, daß die Ersten manchmal die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden.

Ich war an das Ende der Prozession meiner Mitberichterstatter geraten, als sie von ihrem eigenen Zimmer aus zum Repräsentantenhaus hinüber wanderten und befand mich so bei dem Überrest der Journalisten, die nicht auf die Tribüne gelangt waren, sondern bequem in dem Baum hinter den Repräsentanten sitzen konnten, so daß ich mir hier mehr als Kongreßmitglied vorkommen durfte, als es anderwärts möglich gewesen wäre. Auf der Rechten saßen die Kabinettsmitglieder. Der britische Besucher muß sich immer erst daran erinnern, daß sie weder Repräsentanten noch Senatoren sein dürfen.

Binnen kurzem traten ungefähr 90 Senatoren, paarweise, durch die Mitteltür ein und nahmen Platz gegenüber ihren Gastgebern, den Repräsentanten. Dann wurde geklatscht und ich sah, wie Sir Auckland Geddes und die anderen Mitglieder der britischen Delegation hinter dem Präsidentensitz hereintraten; denn die Delegierten waren auch eingeladen worden, von den Unwirklichkeiten der Konferenz herabzusteigen, und ihnen war die vorderste Stuhlreihe angewiesen worden. Die anderen Delegationen folgten und setzten sich.

Dann trat Ruhe ein. Es wurde geklatscht. Der Präsident kam herein und ging auf seinen Platz. Er sah genau so aus wie der Direktor einer Schule, der sich anschickt, zu Beginn des Schuljahres eine Ansprache an eine Schülerversammlung zu richten. Er hat im Äußeren mehr Ähnlichkeit, finde ich, mit Washington als irgendeiner der vorigen Präsidenten. Er las seine Ansprache mit seiner immer sehr ausdrucksvollen Stimme, die ohne Anstrengung überall vernehmbar zu sein scheint. Ich hörte aufmerksam auf jedes Wort, obgleich ich wußte, daß ich eine gedruckte Abschrift bekommen würde, sobald die Rede gehalten war. Wenn ich auch aufmerksam zuhörte, dachte ich mir dabei doch allerlei. Welcher Art ist diese sehr mächtige Versammlung, denn mächtig ist sie, die jetzt in eine Stellung von grundlegender Bedeutung für die Geschicke der Menschheit erhoben worden ist?

Die Beziehungen des Präsidenten Harding zum Kongreß sind, in Anbetracht der heutigen Zeit, ganz außergewöhnlich gute. Er beabsichtigt auch dies so bleiben zu lassen. In seiner Ansprache betonte er nachdrücklich die Ansicht, daß selbst die vollen verfassungsmäßigen Rechte des Präsidenten zu groß sind und daß er keine Absicht habe, sich ihrer zu bedienen, geschweige denn sie zu erweitern. Nichtsdestoweniger oder vielmehr infolgedessen ist er offenbar der Leiter seiner gesetzgebenden Körperschaft, und zwar sowohl seiner Anhänger wie seiner Gegner. Wenn er spricht, macht es den Eindruck, als ob Amerika ein Selbstgespräch führe. Seine Ansprache war eine Darlegung seiner Absichten. Es kommt mir vor, als ob der Präsident sich, amtlich, weniger als der Auserwählte von Amerika fühlte denn als die Stimme Amerikas, und anstatt sich zu bemühen, mit dieser Stimme charakteristische oder epochemachende Dinge zu sagen, versucht er den nationalen Gedanken und den nationalen Willen so deutlich wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Was Harding heute sagt, wird Amerika morgen tun.

Er hat aber doch auch etwas Menschliches und Drolliges getan. Er versagte es sich nicht, sein so häufig beanstandetes Wort – »Normaligkeit« (»normalcy«) – anzubringen; offenbar beabsichtigt er, die gebräuchliche Form »Normalität« (»normality«) aus dem Englischen zu verdrängen.

Vom Standpunkt desjenigen, der sich um die schweren Leiden der außeramerikanischen Welt Sorge macht, war es, glaube ich, eine sehr hoffnungsvolle Ansprache. Sie bestärkte mich in dem Eindruck, den ich bereits vom Präsidenten Harding empfangen hatte, als eines Menschen, der seinen Weg zu großen Zielen vorsichtig, aber stetig vorwärts tastet. Amerikas wachsende Einsicht seines »unabweisbaren Zusammenhangs mit den Weltfinanzen und dem Welthandel« kam gleich im Anfang zur Sprache, und seine leise Ermahnung bezüglich der Notwendigkeit, im Handel mit dem Ausland zu geben und zu nehmen, war eine Ermahnung, die jetzt in jeder der Hauptgeschäftsstraßen von Amerika wiederholt wird.

Er sprach von Rußland und kam auf diesen Gegenstand zurück. »Wir haben die Tradition der russischen Freundschaft nicht vergessen«, war ein gutes Wort, das sich manche europäischen Länder wohl auch merken dürften. Es ist sehr zu beachten, daß man in Amerika mehr und mehr zu der Ansicht neigt, es müßte möglich sein, durch die Vermittlung amerikanischer Beziehungen zu den Verwaltungsorganen nach Rußland hineinzugelangen und dort mit den wieder erstehenden Genossenschaften Rußlands von neuem Handelsbeziehungen anzuknüpfen ... Obgleich der Völkerverband nicht direkt als solcher erwähnt wurde, fielen doch Andeutungen hinsichtlich der »Hoffnungen der ganzen Welt, die auf diese Stadt gerichtet sind«, und des allgemeinen Wunsches nach einem dauernden Frieden. Und während ich zuhörte, dachte ich auch an all diese gerade vor mir sitzenden Männer, es waren derer zwischen 400 und 500, einschließlich der 96 Senatoren, die die Macht haben, zu entscheiden, welche Rolle Amerika in der Welt zu spielen bestimmt ist. Inzwischen habe ich eine Anzahl von ihnen kennengelernt und habe mit ihnen gesprochen, besonders auch mit einigen recht charakteristischen Mitgliedern der senatorischen Körperschaft, und bin zu der Ansicht gelangt, daß diese Körperschaft viel besser geeignet ist, im gegenwärtigen Augenblick die internationalen Zwecke zu betreiben, als ich nach allem, was ich von ihr gelesen hatte, bevor ich nach Washington kam, hätte annehmen können. Wir hören in Amerika zu viel von der Herrschaft der Geschäftsinteressen in Washington. Zweifellos geht dergleichen hier vor wie in jeder gesetzgebenden Körperschaft; aber wir dürfen nicht vergessen, daß das sehr wenig Bedeutung für die internationale Lage hat. Es geht die Welt im allgemeinen nichts an. Ich zweifle, ob in den Wandelgängen von Washington so viele Geschäfts- und Finanzintrigen gesponnen werden wie in den Wandelgängen von Westminster. Aber wie dem auch sei, was hier vorgeht, ist im wesentlichen eine häusliche Angelegenheit. Sowohl die Repräsentanten wie die Senatoren befassen sich mit den internationalen Dingen als verhältnismäßig unabhängige, wenn auch unerfahrene Menschen.

Wahrscheinlich ist bisher die einzige starke, dauernde Kraft in den internationalen Angelegenheiten die antibritische Stimme gewesen, welche auf dem Haß der Iren gegen die Engländer beruht. Wenn das irische Abkommen diesen schwächt oder ausrottet, so wird der Kongreß die Weltangelegenheiten ohne irgendwelche Voreingenommenheit behandeln können. Der durchschnittliche Senator ist ein wohlhabender, intelligenter, amerikanisch fühlender Mensch, der aus politischen Gründen, die ohne irgendwelchen Bezug auf internationale Dinge sind, in den Senat gewählt worden ist. Hinsichtlich der internationalen Fragen ist er ein Dilettant. Wenn sich im Innern die politische Lage unangenehm zuspitzt, so ist er imstande, sich der internationalen Angelegenheiten zu irgendeinem beliebigen Zwecke zu bedienen. Das war die Lage während der letzten Jahre unter Wilson. Das arme, vom Krieg zerschlagene Europa wurde zu einem Pfand in einem Verfassungskampf; aber das Harding-Regime bedeutet ein Zusammenarbeiten mit dem Senat, und dadurch wird die Würde des Senats wieder hergestellt.

Aus diesen und anderen Gründen ist diese verschiedenartig zusammengesetzte Versammlung energischer Amerikaner jetzt im Begriff, zu den internationalen Fragen entschlossen Stellung zu nehmen, mit aller Frische und aller Tatkraft tüchtiger Dilettanten und ohne eigennützige Hintergedanken. Das Gefühl der Verantwortung ist im Wachsen, und die alten friedfertigen Traditionen Amerikas sind stark beteiligt. Wenn nur dieser Senat die Dinge nicht auf die lange Bank schiebt. Ich zweifle, ob diejenigen, die das Verlangen nach einem organisierten und gesicherten Weltfrieden haben, jemals in Meinungsverschiedenheiten mit dem Senat der Vereinigten Staaten geraten könnten. Das Schlimmste, was ich vom amerikanischen Senat befürchte, jetzt, nachdem ich ihn in einzelnen Persönlichkeiten und als Körperschaft etwas kennengelernt habe, ist die Teilnahmslosigkeit, die er als Unbeteiligter bei der Behandlung der internationalen Angelegenheiten beobachten wird.

Der Präsident schloß seine Rede, und die Unruhe der Verhandlung begann. Ich war Zeuge gewesen, wie Amerika seine Stellung in der Welt einer Prüfung unterzog. Der Vorgang erschien mir einfach, groß und würdig. Ich verließ das Kapitol in einer Stimmung mir selbst ganz unerwarteter Hochachtung.


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