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VII.
Was ist Japan?

Washington, den 13. November

Von allen nationalen Delegationen, welche hier versammelt sind, ist die am schärfsten beobachtete, am meisten besprochene und wahrscheinlich am wenigsten verstandene die der Japaner. Das Bühnenlicht fällt hell auf sie, weniger aus Gründen einer besonderen Hochachtung wie infolge einer ungebührlichen Neugier.

Es gibt nur noch ein einziges Volk, von dem man – ich schreibe als Zuschauer von jenseits des Meeres – so sehr die Empfindung hat, daß es Möglichkeiten unerwarteter dramatischer Aktionen bietet, und das sind die Amerikaner. Wir fühlen, daß wir die Japaner noch nicht erkannt haben, und wir fühlen, daß die Amerikaner sich selbst noch nicht erkannt haben. Die Amerikaner haben der Konferenz bereits eine gründliche Überraschung bereitet. Großbritannien, Frankreich, Italien und die anderen hier anwesenden Mächte sind relativ berechenbar – wenigstens was ihre Vertretung anbelangt. Aber mit Japan ist es anders. Es ist von Natur anders veranlagt und es befolgt andere Gesetze.

Am Sonntag abend war ich bei dem Presseempfang im japanischen Hauptquartier. Der Gesandte ist ein jovialer Weltmann, der sehr gut englisch spricht und sich in einer amerikanischen Pressegesellschaft vollkommen zu Hause fühlt. Aber viel japanische Physiognomien, die ihn umringten, gaben mir Stoff zum Nachdenken. Ich versetzte sie in meiner Phantasie wieder in faltenreiche Gewänder, in deren Schärpen die Doppelschwerter stecken, so wie ich sie vor langer Zeit auf japanischen Stichen zuerst gesehen hatte und die ihnen so viel besser gestanden hätten.

Admiral Kato sprach japanisch, Prinz Tokugawa englisch; sie begrüßten den Antrag Hughes' mit warmen allgemeinen Phrasen und mit Friedenshoffnungen – wie wir alle den Frieden erhoffen –, aber ohne genügende Einzelheiten. Ich konnte mit keinem Japaner ins Gespräch kommen, sie sprachen überhaupt nicht mit uns, es war ein Empfang mit herzlicher Höflichkeit, aber ohne Gedankenaustausch. Ich griff auf ältere Eindrücke zurück.

Vor einigen Wochen hatte ich zu Hause in meinem Garten eine sehr aufschlußreiche Unterhaltung mit zwei japanischen Besuchern, Mr. Mushiko und Mr. Negushi, die gekommen waren, um verschiedene Erziehungsfragen mit mir zu besprechen. Von ihnen erfuhr ich Dinge, die mir sehr wesentlich in diesen Fragen erschienen. »Wir erziehen unsere Kinder,« sagte Mr. Mushiko, »nach einem dem euren diametral entgegengesetzten Plan. Wir weisen sie nach der entgegengesetzten Richtung. Gehorsam und Selbstaufgabe sind unsere leitenden Gesichtspunkte. Unser Denken, unsere Geschichte, unsere Dichtungen, die Tradition von Jahrhunderten lehren Treue, blinde, bedingungslose Treue, der Frau gegen ihren Mann, des Mannes gegen seinen Herrn, des Untertanen gegen seinen Monarchen.

Diese Treue ist eine Religion. In Hinblick auf politische und soziale Fragen ist sie grundlegend. Aber eure Erziehung fördert die Unabhängigkeit, das freie Denken, die schonungslose Kritik von Vorgesetzten, Institutionen, Verwandtschaft. Vielleicht ist sie schließlich die bessere und gesündere, aber sie erscheint uns wild und gefährlich – – –. Wir fangen an, so etwas wie eine öffentliche Meinung zu bekommen, aber sie ist noch schüchtern und ängstlich.«

Er meinte, ein Amerikaner und ein Engländer liebten ihr Vaterland, weil sie glaubten, es gehöre ihnen, aber ein Japaner liebe sein Vaterland, weil er glaube, ihm anzugehören. Es schien ihm, daß man nicht ohne große Gefahren von einer Denk- und Empfindungsweise zur anderen übergehen könne. Es ist leichter, den Gehorsam aufzuheben, als das Verantwortlichkeitsgefühl zu wecken.

An diese Unterhaltung wurde ich neulich erinnert durch die Bemerkung eines Mitjournalisten, der mit mir im Zuge nach Washington reiste.

»Ein Chinese wird dir sagen, was er denkt – wie ein Amerikaner –, aber ein Japaner hat immer die Empfindung, ein Gesandter zu sein, auch wenn er nicht bevollmächtigt ist.«

Das ist ein sehr interessanter und wahrscheinlich sehr richtiger Vergleich. Diese andere Denkweise wird das japanische Volk zu einem ganz anders gearteten Instrumente machen als das amerikanische, englische und französische Volk. Es wird auch die japanische Regierung zu etwas ganz anderem machen als die Regierungen, denen sie in Washington begegnen wird. Ein zum Gehorsam erzogenes Volk kann geleitet und gehandhabt werden, wie kein modernes demokratisches Volk geleitet und gehandhabt werden kann. Es ist von anderer Art.

Wenn dieser Punkt nicht beachtet wird, so wird es zweifellos in den Washingtoner Diskussionen zu großen und vielleicht gefährlichen Mißverständnissen kommen. Wahrscheinlich haben die Japaner die europäischen Mächte schon in gefährlicher Weise mißverstanden. Die Japaner denken vermutlich, das die atlantischen Regierungen mehr Entschlußfreiheit besitzen und daß ihre Äußerungen entscheidender sind, als es in der Tat der Fall ist. Dagegen werden die atlantischen Völker wahrscheinlich zuviel Gewicht legen auf die Symptome einer liberalen öffentlichen Meinung in Japan. Sie werden sich den Sturz einer japanischen Regierung und den politischen Gesinnungswechsel es japanischen Volkes viel zu leicht vorstellen. Japan ist eine Regierung, eine militärische Regierung, die ihr Volk in der Hand hat wie eine Waffe, während in Amerika, in Frankreich, in England das Volk die Regierung mehr oder weniger lenkt. In keiner Beziehung ist ein Irrtum über diesen Punkt im gegenwärtigen Augenblick wahrscheinlicher und gefährlicher als in dem Verhältnis Japans, Englands und Frankreichs, und in keinem Verhältnis ist die Notwendigkeit einer klaren Aussprache dringender.

In Anbetracht dessen, daß Großbritannien noch eine Monarchie mit vielen aristokratischen Gebräuchen ist, gelangt der japanische Staatsmann mit verhängnisvoller Leichtigkeit zu der Auffassung, daß die britische Regierung so vollständig die Herrschaft in Händen hält wie die japanische Regierung und daß die britischen Beamten ebenso befugt sind, zu binden und zu lösen wie die japanischen Beamten. Dieser Glaube aber wird ihn veranlassen, den geheimen Zusicherungen und der allgemeinen Haltung hochgestellter Persönlichkeiten sehr viel mehr zu trauen, als irgend gerechtfertigt ist. Die britische Demokratie ähnelt sehr der amerikanischen Demokratie in ihrer Unfähigkeit, auf das zu achten, was in überseeischen Gebieten vor sich geht. Sie ist voll beschäftigt durch einheimische Fragen und naheliegende Dinge. Man kann nicht erwarten, daß ein Farmer in Wiltshire oder ein Baumwollspinner in Lancashire die Konzessionsjagd in Persien oder Südchina von Tag zu Tag verfolge. Wenn diese Konzessionsjagd aber ernste Konsequenzen nach sich ziehen sollte, so werden diese Demokraten in ganz anderer Weise hellhörig werden, als es bei den Japanern denkbar ist. Dasselbe gilt in weitgehendem Maße von den Franzosen.

Es ist das gesegnete Vorrecht des verantwortungslosen Zeitungsschreibers, Dinge sagen zu können, die kein Diplomat jemals sagen dürfte. Über die wechselseitigen Beziehungen von Japan, Amerika und England müssen aber gerade jetzt einige Wahrheiten sehr deutlich gesagt werden. Trotzdem ich nun aber ein verantwortungsloser Zeitungsschreiber bin, bin ich doch ein sehr englischer Engländer und kenne die Gesinnung meines Volkes genau.

Die Engländer haben sich vollkommen darauf verlassen, daß ein Krieg mit Amerika vollständig ausgeschlossen ist. Für sie ist er auch ausgeschlossen. In dieser Sache haben die Engländer einen besonderen und erstaunlich scharfen Instinkt. Sie werden niemals gegen die Vereinigten Staaten von Amerika kämpfen. Ich will mich nicht weiter über die eigenartigen Empfindungen verbreiten, welche dieser Gesinnung zugrunde liegen. Es sind Empfindungen, die zahlreiche Amerikaner gar nicht verstehen können und sich nie die Mühe gegeben haben zu verstehen. Aber dem durchschnittlichen Engländer erscheint ein Krieg gegen Amerika, verglichen mit einem Kriege gegen andere Völker, wie Menschenfresserei im Vergleich zum Fleischessen.

Ich höre hier einen gewissen Typus von Amerikanern langsam und schwerfällig den Antrag Hughes' unter der Voraussetzung besprechen, daß es zu einem Kriege zwischen Amerika einerseits, Großbritannien und Japan andererseits kommen könnte. Eine derartige Voraussetzung ist – man verzeihe mir das Wort – Blödsinn. Das britische Volk hat nicht viel über die Frage des Stillen Ozeans nachgedacht. Es war ausreichend beschäftigt mit Irland und den eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Sollte diese Frage aber einmal so brennend werden, daß ein Krieg möglich wird, so soll sich Japan keiner Täuschung darüber hingeben, daß der durchschnittliche Engländer ganz auf Seiten Amerikas sein wird. Die Engländer werden dasselbe Zeug lesen wie die Amerikaner, sie werden die gleichen Gedankengänge verfolgen, weil sie verwandte Denkgewohnheiten haben.

Es wird ganz gleichgültig sein, welche Versicherungen und Gesinnungsäußerung die Japaner an offizielle Persönlichkeiten in Großbritannien abgegeben haben. Denn es handelt sich hier nicht um Verträge, sondern um ein moralisches Schwergewicht. Wenn es einen Konflikt gibt, so werden die englischen Volksmassen sich auf die Seite Amerikas stellen, und wenn der Ausgang des Konfliktes irgend zweifelhaft erscheinen sollte, so werden sie ganz bestimmt eingreifen. Wenn die Beherrscher von Japan träumen sollten, daß irgendeine andere Kombination in der Frage des Stillen Ozeans möglich ist, so befinden sie sich in dem gefahrvollsten Irrtum, der jemals ein großes Volk ins Unglück gestürzt hat.

Es sind aber schon Anzeichen vorhanden, daß, wenn die herrschenden Klassen Japans jemals eine solche Wahnvorstellung gehegt haben, sie sich jetzt im Zustande der Aufklärung befinden und daß sie allmählich zu der Einsicht gelangen, daß ein Krieg mit Amerika im Stillen Ozean einen Krieg mit Amerika, Großbritannien und möglicherweise – nach der kürzlich erfolgten überraschenden Bemerkung des geschickten Schriftstellers »Pertinax« – mit Frankreich bedeuten würde. Frankreich mag in Washington seinen Einfluß auf gewissen Gebieten zugunsten Japans geltend machen, aber das ist alles, was Japan von Frankreich erlangen wird. Ich glaube, daß die Japaner das jetzt klar einsehen, und aus allen jüngsten Äußerungen der Japaner geht der Wunsch nach Unterhandlungen hervor, während es seine kriegerischen Pläne in Abrede stellt.

Trotzdem fährt Japan fort zu rüsten, und obgleich es jetzt leugnet, daß seine Methode der Krieg sei, hält es sich doch sehr stolz und starr in voller Rüstung beim Rat der Männer. Es mag seine Träume eingeschränkt und zurückgedämmt haben, aber noch liegt ihm eine gewisses Minimum im Sinn, unter das es nicht kampflos heruntergehen wird. Welches ist das Minimum, das Japan ohne Kampf befriedigen wird? Wird es Japan dauernd zufriedenstellen, wird es den Japanern so endgültig zufriedenstellend erscheinen, daß sie bereit sein werden, nicht nur den Gedanken und die Vorbereitung zu einem unmittelbaren Kriege beiseite zu setzen, sondern – was viel wichtiger ist – werden sie sich auf einen so bindenden Vertrag bezüglich der zukünftigen internationalen Beziehungen einlassen, daß sie imstande sein werden, die Schwerter ihrer Samurai für immer und ewig in Pflugscharen zu verwandeln?

Ist Japan ein besonderes Hindernis beim Zustandekommen eines wirklichen, wenn auch noch formlosen Weltbundes, auf den wir alle hoffen?

Wenn ich mich nach einer hoffnungsvollen Antwort auf diese Frage umsehe, so drängt es sich mir auf, daß Japan nicht wie wir atlantischen Völker den Versucht macht, den Volkswillen durch die Regierung zum Ausdruck zu bringen, sondern daß es eine Regierung, eine kleine herrschende Kaste ist, die sich im Vollbesitz eines unterwürfig-gehorsamen Volkes befindet. Ich erinnere mich auch, daß diese kleine herrschende Klasse eine alte Tradition romantischer und ritterlicher Waffentüchtigkeit hinter sich hat. Wird diese herrschende Klasse im Besitz der Macht bleiben und wird sie ihrer Tradition treu bleiben? Niemand kann die volle Abrüstung der ganzen Welt wärmer befürworten als ich, aber niemand ist überzeugter von der Torheit einer Abrüstung Amerikas oder einer sonstigen Macht, solange noch ein einziger Staat der Welt in Gesinnungen verharrt, die früher oder später zum Kriege führen müssen. In einer solchen Lage abrüsten, heißt das Unheil über unsere Enkel heraufbeschwören. Einen vergänglichen Frieden zusammenzuflicken, der auf der gestatteten »Erweiterung« einer derartigen Macht beruhte, wäre überhaupt nichts anderes, als einen erweiterten Krieg der Zukunft vorzubereiten.

Ist denn aber diese herrschende Klasse in Japan entschlossen, um jeden Preis, sogar um den Preis eines neuen Weltkrieges und auf die Gefahr hin, Japan zu vernichten, sich in ihrer jetzigen Machtstellung zu behaupten und sich starr an ihre Traditionen zu halten? Innerhalb der letzten hundert Jahre hat Japan, durch seine Aristokratie und durch seinen allgemein verbreiteten Gehorsam, noch nicht dagewesene Wunder der Anpassung an neue Verhältnisse vollbracht. Wie wir schon bemerkten, zeigen sich Symptome weiterer Veränderungen in der Sinnesweise Japans.

Es heißt, sie machten reißende Fortschritte in der Bildung der unteren Klassen und in der Befreiung des Gedankens und der Rede. Auf die Dauer ist das, was in den Schulen Japans vorgeht, wichtiger für die Menschheit als das, was auf ihren Werften geschieht. Gegenwärtig wissen wir aber nicht, was in den Schulen Japans vorgeht. Man hört viel von Neujapan und von dem liberalen Japan, und es befindet sich sogar ein inoffizieller Vertreter der japanischen Opposition in Washington. Soweit wir aber aus dieser Entfernung zu urteilen vermögen, müssen wir uns an die Politik und die Methoden der japanischen Regierung halten.

Ehe wir über diese ein Urteil fällen, müssen wir das Gebiet betrachten, auf dem sie sich im schärfsten Konflikt mit amerikanischen Ideen und mit amerikanischen und europäischen Interessen im allgemeinen zu befinden scheint, also das Gebiet von China und von Ostasien im allgemeinen. In meinem nächsten Artikel werde ich fragen »Was ist China?« und werde untersuchen, welcher Art die Bedürfnisse und Forderungen Japans in bezug auf China und auf die Verbote und Verzichtleistungen sind, welche die Westmächte ihm auferlegen wollen. Denn wegen dieser Beschränkungen und Verbote hat Japan seine Kriegsschiffe gebaut. Seine Seemacht soll ihm freie Hand in China und Sibirien gewähren, sie kann keinen anderen Zweck haben. Ich werde auch die Frage aufgreifen, ob die Verbote und Verzichte, die wir Japan aufzwingen wollen, nicht Verbote und Beschränkungen sind, welche wir gerechtigkeitshalber gezwungen sind in gleicher Weise allen Mächten aufzuerlegen, die mit China und dem fernen Osten zu tun haben. Wenn die übrigen Mächte nicht bereit sind, sich sehr weitgehende, allgemeine Beschränkungen und Verzichtleistungen in China aufzuerlegen, wenn sie Japan an gewaltsamen Eingriffen hindern und von ungerechtfertigten Vorteilen ausschließen wollen, die anderen Mächten vorbehalten bleiben sollen, wenn wir in diesen Dingen an irgendeinem Rassenvorrecht festhalten sollten, dann behaupte ich, daß wir allerdings Unmögliches von Japan fordern. Damit zwingen wir Japan, ein verzweifeltes Spiel zu wagen, die Weigerung, sich auf diesen Abrüstungsvertrag einzulassen. Das aber bedeutet den Krieg.


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