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XXIII.
Die Stellung Indiens in der Welt

Washington, den 8. Dezember

Es ist nicht leicht, einen Gegenstand zu finden, welcher der Geschäftsordnung der Washingtoner Konferenz ferner läge als die Zukunft Indiens, aber keiner fordert so dringend unsere Aufmerksamkeit, wenn wir uns eine wirkliche lebensfähige Vorstellung von einem Völkerverband machen wollen.

Vor einigen Tagen erklärte der Senator Johnson, er habe vom Präsidenten Harding die Versicherung erhalten, daß keine weiteren Schritte zur endgültigen Organisation eines Völkerverbandes im gegenwärtigen Augenblick getan werden sollten; aber diese Versicherung hindert die Gedanken und Ereignisse nicht, sich in der Richtung auf die Entwicklung eines solchen Systems der Verständigung zu bewegen, durch welches endlich in der Tat, wenn nicht nur dem Namen nach, ein Weltbündnis entstehen muß. Je weniger wir sogar versuchen, etwas Derartiges einzurichten, je klarer wir uns aber in Gedanken darüber werden, desto eher und sicherer wird es kommen.

Der Präsident mag daher fortfahren, keine direkten Schritte in der Richtung seines Verbandes zu tun, er mag, wie er es über kurz oder lang wird tun müssen, zunächst irgendeine Art internationaler Konferenz zur Beseitigung der wirtschaftlichen Wirrnis zusammenberufen und irgendeine Einrichtung treffen, sei es nun in Form eines dauernden Einverständnisses oder wie man jene Kommission sonst nennen will, welche unbedingt notwendig ist, wenn der Friede im Stillen-Ozean-Gebiet hergestellt werden soll.

Wir aber, die wir mit den weniger greifbaren, vorbereitenden Dingen, nämlich mit den Ideen und der öffentlichen Meinung zu tun haben, wollen fortfahren in der Besprechung der umfassenderen, grundlegenden Verständigung, die im Hintergrunde auftaucht.

Ich habe bereits gesagt, daß der Friede und die allgemeine Wohlfahrt von jedem Lande der Welt ihren Preis fordern werden. Der Preis, den Amerika wird zahlen müssen, wenn es beabsichtigt, seinen Begriff eines allgemeinen Friedens der Welt aufzuzwingen, ist ein großer intellektueller Entschluß – ein Entschluß zur Teilnahme, zur Aufgabe einiger verehrter Traditionen. Außerdem wird es auch den Mut zu gewissen finanziellen Opfern finden müssen, die ihm anfangs sehr groß erscheinen werden.

Frankreich muß zahlen, indem es einen uralten und sorgsam gehegten Streit, seinen ruhmreichen und tragischen Militarismus und die letzte Anwandlung seines imperialistischen Ehrgeizes aufgibt. Deutschland wird seine Gedanken an Vorherrschaft und seine Rachegedanken opfern müssen, und auch Britannien wird zahlen müssen durch ein anderes Verhalten gegenüber jenen großen, von fremden Völkern bewohnten Besitzungen, die bisher den Hauptbestandteil seiner Herrschaft gebildet haben.

Die Bestimmung aller englisch redenden Demokratien, welche sich jetzt aus britischen Kolonien zu halb unabhängigen Staaten entwickelt haben, scheint ziemlich klar. Sie werden sich zu Nationen entwickeln. Ihre Verbindung mit Großbritannien wird weniger formell und gesetzlich, dafür aber wärmer und intensiver werden. Gleichzeitig wird Amerika durch Verwandtschaft und Wesensgleichheit eine bedeutende Anziehungskraft für sie haben.

Alle Unfriedenstifter der Erde werden es, glaube ich, nicht verhindern können, daß die Holländer und Engländer Südafrikas, die Engländer und Franzosen in Kanada, die Engländer und Franzosen in Australien, die Engländer und Schotten in Neuseeland, die Amerikaner, das neuerdings emanzipierte Irland und Britannien durch gleiche Sinnesweise, gleiche Sprache und gleiche Erlebnisse, ja auch durch aller Bitterkeit beraubte Erinnerungen ihrer vergangenen Kämpfe, sich in einer bewußten und gewollten Bruderschaft unabhängiger aber zusammen arbeitender Nationen vereinigen werden.

Der Tag ist gekommen, an dem die Iren einsehen müssen, daß die Zukunft mehr wert ist als die Vergangenheit. Selbst wenn es keine anderen Staaten gäbe, könnte doch dieser rings um die Welt gelegte Gürtel englisch redender Staaten einen großen weltbeherrschenden Verband bilden. Innerhalb dieses englisch redenden Völkergürtels ist während der letzten anderthalb Jahrhunderte eine ganze Reihe von Experimenten gemacht worden durch Teilungen, unabhängiges Handeln, Neuordnungen, Kooperationen und Verbindungen, und diese Experimente haben noch nicht aufgehört. Sie sind von der größten Bedeutung für das Problem des menschlichen Zusammenlebens. Keine andere Gruppe von Gemeinwesen hat solche Erfahrungen gesammelt, kein anderes Gemeinwesen hat der Menschheit in dieser Hinsicht so viel zu geben.

Bei den Deutschen ist ein Zusammenschluß durch die veraltete Gewaltmethode, welche in englischen Fällen meist mißglückt ist, vereitelt worden. Spanien und das lateinische Amerika sind mindestens ein halbes Jahrhundert hinter der englisch redenden Welt zurückgeblieben, was die Künste und Erfahrungen politischen Zusammenwirkens anbelangt. Wenden wir uns aber zu Indien, so kommen wir zu etwas, das gänzlich außerhalb des englisch redenden Weltgürtels liegt.

Einer der offenbaren Fehler jenes verfrühten Völkerbundsprojektes war die Fiktion, daß Indien sich als ein sich selbst regierendes Staatswesen an ihm beteiligen könnte, als ob es dasselbe wäre wie die sich selbst regierenden Weststaaten. Das war allerdings eine sehr überraschende Auffassung.

Indien ist kein Staatswesen noch irgend etwas Staatenähnliches. Indien ist ein verworrenes Durcheinander von Staaten, Sprachen und Rassen, und weit entfernt, sich selbst zu verwalten, leben seine Völker in einer politischen Unterdrückung, die vielleicht größer ist als sonst irgendwo in der Welt. Politisch ist Indien ein tiefes Geheimnis. Wir kennen die politischen Gedanken dieses Volkes nicht, noch wissen wir, ob es überhaupt irgendwelche politischen Vorstellungen hat, die jenen der westlichen Kultur gleichen.

Der indische Vertreter bei der Washingtoner Konferenz, Mr. Srinivastra Sastri, ist ganz offenkundig von England ernannt. Er ist weniger ein Vertreter als vielmehr das Musterbeispiel eines indischen Edelmanns. Wir wissen nicht, welche nationalen Mächte hinter ihm stehen, noch ob er überhaupt irgendeinen Kollektivwillen vertritt, aber es dürfte schwer halten, ihn durch irgend jemand zu ersetzen, der sich zu einer Vertretung sehr viel besser eignete.

Welche Wählerschaft gibt es denn, welche delegierte Körperschaft, die irgend jemand schicken könnten? Indien hat in der Tat keine Verfassung, die es ihm gegenwärtig ermöglichte, einen wirklichen Vertreter zu einer Konferenz oder einem Völkerverbande zu senden. Es ist ein Ding von anderer Art, eine andere Art menschlicher Genossenschaft. Es gehört einer anderen Menschenkategorie an als die englisch redenden und europäischen Staaten und als Japan. Es kann ebensowenig unter gleichen Bedingungen mit ihnen verkehren, wie, sagen wir einmal, die Rehe des Dschungels imstande wären, einer Konferenz der Walfische in den nördlichen Polarmeeren beizuwohnen. Indien ist weit weniger befähigt, eine wirklich politische Rolle zu spielen als selbst China. Es hat keine eigentlich demokratischen Institutionen, und es mag sein, daß es solche niemals in der Gestalt entwickeln wird, wie sie dem europäischen und amerikanischen Denken geläufig sind.

Wir Amerikaner und Engländer neigen viel zu sehr zu der Annahme, daß unsere eigenen demokratischen Methoden, unsere Abstimmungen, Wahlen, Debatten, Pressefeldzüge und parlamentarischen Methoden, die durch lange Jahrhunderte in Anpassung an unsere besonderen Eigenheiten entstanden sind, sich notwendig auch auf die übrige Welt übertragen lassen müssen. In Indien dürften sie sich als ganz ungeeignet erweisen. Wenn Indien die Freiheit zur Selbstverwaltung erhielte, so würde es unter dem Antrieb moderner Hilfsmittel und modernen Denkens wahrscheinlich eine ganz andere Reihe von Institutionen hervorbringen als die Europäer. Es wären vielleicht Institutionen, welche in gleicher Weise zur Freiheit und zur Fortentwicklung führten, aber sie wären von anderer Art. Und China, ebenfalls seiner eigenen Initiative überlassen, würde vielleicht Methoden der Freiheit und des Zusammenwirkens erfinden, die den Institutionen des Westens zugleich ähnlich und unähnlich wären.

Aber die Erwähnung Chinas erinnert uns an die Möglichkeit, den Präzedenzfall Chinas auf Indien anzuwenden. Die Beratungen und Verlegenheiten der letzten zwei oder drei Jahre, die in der Washingtoner Konferenz gipfelten, haben die Möglichkeit einer neuen Methode in Asien allmählich klar werden lassen. Dies ist die Methode des vereinbarten Verzichtes und der Räumung, der Gedanke eines bindenden Abkommens zwischen allen an China beteiligten Nationen, welche versucht sein könnten, China anzugreifen, eines bindenden Abkommens nämlich, das Land zu verlassen und daraus fernzubleiben, während es sich konsolidiert und sich in seiner eigenen Weise entwickelt.

Diese neue Methode, die bei der Washingtoner Konferenz einer ersten Prüfung unterzogen wurde, ist eine vollständige Umkehrung der Methode des Umgangs mit politisch unruhigen und geschwächten Ländern und Gebieten, die in Versailles angewendet wurde. Es ist eine sehr viel zivilisiertere und hoffnungsvollere Methode. Versailles und der Völkerbund waren beherrscht von dem Gedanken, sich in der ganzen Welt Mandate zu sichern. Wo immer Unruhen oder Unordnung zu finden waren, sollte eine einzige bevollmächtigte Macht einrücken, die nach unklaren Versprechungen, sich gut aufzuführen, das Land beherrschen und ausbeuten sollte. Es war vielleicht der durchsichtigste und billigste Vorwand für Annexionen, den man je gehört hatte. Der Versuch, die schlimmsten Traditionen des Länderraubs im 19. Jahrhundert jetzt weiter fortzusetzen unter dem Vorgeben, sich ihrer zu enthalten, war ein hoffnungsloses Unternehmen. Es war der echte Pecksniff-Imperialismus Anmerkung des Übersetzers: Pecksniff ist eine dem Dickens'schen Roman »Martin Chuzzlewit« entnommene Figur, welche in England identisch mit dem Begriff der krassesten Heuchelei geworden ist.. So kam es zu dem Raube Syriens, Mesopotamiens usw.; aber jeder gut organisierte Bund oder Völkerverband müßte alles Derartige unmöglich und unverzeihlich machen.

Die Begründung der britischen Okkupation von Indien, der japanischen Okkupation von Korea, der französischen Okkupation von Indo-China usw. läßt sich durchaus rechtfertigen, solange es keinen Völkerverband gibt. Aber sobald es einen solchen gibt, ist sie völlig wertlos. Diese Begründung nämlich ist, daß irgendeine andere Macht sonst in das okkupierte und unterjochte Land einziehen und sich seiner zu Angriffszwecken bedienen könnte.

Der Fall der Briten in Indien ist sehr leicht zu verteidigen. Sie hielten den Frieden des Imperiums für alle Völker des Landes aufrecht, sie verjagten die afghanischen Räuber, welche Indien zu Anfang des 18. Jahrhunderts verwüstet hatten, und sie beschützten es später vor dem langen Arme Rußlands. Die Engländer haben keinerlei Ursache, sich ihrer Vergangenheit in Indien zu schämen, und haben vieles, worauf sie stolz sein können. Aber sie haben alle Ursache, sich ihrer völligen Gleichgültigkeit gegen die Zukunft Indiens zu schämen. Sie haben zu schwer auf Indien gelastet und sie haben den Frieden in Lähmung verwandelt. Sie haben den Indern nicht genug Bildungsmöglichkeiten und nicht genug Freiheit gewährt. Immer ist die Entschuldigung für jede Art von Unterdrückung die Angst vor dem Rivalen gewesen. Gut denn, der ganze Zweck eines Völkerverbandes ist, diese Angst vor dem Rivalen und alles, was diese Angst an Kriegsmöglichkeiten mit sich führt, auszurotten.

Asiatische Imperien über fremde Völker, diese Besitzergreifungen der Länder und des Lebens anderer Menschen haben ihre Rolle in der Entwicklung der Welt gespielt. Sie sind in Tyrannei und Ärgernis und erbärmliche Rivalitäten ausgeartet. Der Plan eines wirklichen Völkerverbandes bietet in seiner Anlage keinen Raum für Besitzergreifungen, Mandate oder unterjochte Völker.


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