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XII.
Bis Hierher

Washington, den 22. November

Wie steht es in Washington?

Die allgemeine Stimmung ist eine hoffnungsvolle, gedämpft durch geistige und körperliche Überernährung und durch ganz einfache Ermüdung. In Washington gibt es kein Ausruhen, keine Pause. Im vorigen Winter war ich ein glücklicher Rekonvaleszent in Amalfi, ich saß an der italienischen Sonne, die Stunden waren weite Sphären goldener Zeit, mein Geist und meine Seele gehörten mir selbst. Jetzt lebe ich nach der Melodie einer Telephonklingel, und die kleinen fiebrigen, amerikanischen Stunden gleiten mir durch die heißen trockenen Hände, ehe ich meine Gedanken umwenden kann. Ich wünschte, ich könnte mich um alles kümmern.

Die Konferenz hat zwei Kommissionen ausgeschieden, die eine in Sachen der Abrüstung, die andere in Sachen der Stillen-Ozean-Frage. Sie halten ihre Beratung hinter geschlossenen Türen ab, so daß man immer die Wahl zwischen drei bis vier verschiedenen Berichten über die dortigen Vorgänge hat; die Abgesandten rufen zu beliebigen Zeiten und in verschiedener Weise die Pressevertreter zusammen, um ihnen epochemachende Eröffnungen mitzuteilen; es finden besondere Konferenzen statt mit maßgebenden Geschäftsleuten dieses Landes, mit Fachmännern des Erziehungswesens usw.; man erhält Besuche von gut informierten Personen, welche diese oder jene Tatsache, diesen oder jenen Gesichtspunkt zu berücksichtigen bitten; überzeugende Streiflichter aus Südchina, Albanien, der Tschecho-Slovakei fordern unsere Aufmerksamkeit. Außerdem gibt es eine schauderhafte Menge von bloßen Quälgeistern, die irgend etwas tun möchten – aber nicht wissen was. Das Wetter ist ungewöhnlich warm und leicht bewölkt, eine Brauhausatmosphäre, welche, wie ein Humorist erklärt hat, eine notwendige Folgeerscheinung des ungeheuren hiesigen Gärungsprozesses ist.

Die Maischkufe läuft über durch das Drängen der gesamten Menschheit. Die ganze Welt scheint geistig in Washington anwesend zu sein.

Drei Fragen ragen hier an Bedeutung und Wichtigkeit vor anderen hervor. Die Verhandlungen bezüglich der Abrüstungen zur See sind, wie zu erwarten war, in ein Feilschen um Vorteile ausgeartet. Jede Macht sucht die andere zu entwaffnen. Großbritannien haßt die großen Unterseeboote und will nichts von ihnen wissen, sie sind aber Amerikas einzige weittragende Waffe. Über den Ozean tönt das Geschrei des französischen Senats um eine unbegrenzte Zahl von Unterseebooten zu uns herüber; diese sollen Großbritannien angreifen, sonst können sie keinen Zweck haben. Vielleicht will der französische Senat nicht ernstlich einen Krieg mit England, aber auf diesem Wege wird er ihn bekommen.

Japan fordert für sich eine Basis von sieben zu zehn, anstatt von sechs zu zehn. Und so geht es weiter. Solange unausgeglichene Differenzen übrigbleiben, müssen die Abrüstungsverhandlungen in dieser Weise ausarten. Verträge und ehrliche Abrüstung sind unzertrennlich miteinander verwoben. Die Franzosen haben jedoch in einer wichtigen Sache die Führung übernommen, indem sie Räumungen und Verzichte im chinesischen Gebiet seitens Frankreichs versprochen haben, vorausgesetzt, daß England und Japan ein gleiches tun. Lord Riddle hat sich dem im Namen Englands angeschlossen; England ist bereit, alles aufzugeben mit Ausnahme von Hongkong, einer rein britischen Gründung. Briand hat uns auch erklärt, warum Frankreich eine fürchterliche Armee besitzen muß, um ganz Europa in Furcht zu erhalten; aber trotzdem bleiben noch einige Möglichkeiten militärischer Beschränkungen übrig, über die verhandelt werden könnte. Wir beraten noch immer, ob wir nicht doch noch hoffen dürfen, die Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht zu erleben.

Wenn solche Dinge von der kochenden Gärung der Washingtoner Kufe an die Oberfläche getrieben werden, nicht nur als gelegentliche Anregungen, gute Einfälle, sondern in mehr oder weniger konkreten Vorschlägen verkörpert, so können wir trotz aller Abspannung die Dinge doch wieder in etwas hoffnungsvollerem Lichte sehen. Die Konferenz hat erst ihre dritte Sitzung hinter sich und es scheint, als ob wir bereits weiter entfernt von einem Kriege im Gebiete des Stillen Ozeans und näher an einer Sicherheit wären als zu irgendeiner Zeit während der beiden letzten Jahre.

Diese einleitenden Erfolge der Weltberatung, deren eigentlicher Kern Washington ist, veranlassen uns naturgemäß, unseren Sinn auf die Weiterentwicklung und den Endausgang der großen Initiative des Präsidenten Harding zu richten. Je fruchtbarer die Konferenz in bezug auf Abmachungen und Verträge zu werden verspricht, desto klarer erscheint die Notwendigkeit, daß sich etwas Dauerndes daraus entwickle, etwas, das dieser ganzen Anhäufung von Verträgen und Abmachungen einen Halt und eine Gewißheit im Geist und in der Tat bieten kann.

Die Washingtoner Konferenz muß, bevor sie sich auflöst, irgendwie ein Ei legen, aus dem sie wieder erstehen kann. Auf irgendeine Weise muß sie demnächst wiederkehren. Denn wir haben nicht vergessen, daß die Konferenz im endgültigen und eigentlichen Sinne des Wortes nichts entscheiden kann. Sie hat eine anständige und großmütige Atmosphäre um sich erzeugt, sie wird wahrscheinlich eine zweckmäßige vorübergehende Lösung einer großen Gruppe von Problemen finden, aber die Macht der endgültigen Entscheidung liegt bei fernen Regierungen und gesetzgebenden Körperschaften.

Die amerikanischen Anträge sind nur als Anregungen aufzufassen und sind wertlos als Verträge, wenn sie nicht durch die Mächte angenommen werden und bevor nicht der amerikanische Senat sie mit einer Zweidrittelmehrheit bestätigt hat. Briand hat hier vielleicht den Wunsch gehabt, großmütig und großdenkend zu sein, aber in Paris tagt der französische Senat, der, durch einen irrsinnigen Patriotismus inspiriert, schon jetzt anfangen möchte, Frankreich für einen »unvermeidlichen « Krieg mit England zu rüsten. Der französische Senat hat bereits eine kriegsdrohende Geste gegen England gemacht, er hat bereits einen Weg betreten, dessen Endziel nur ein furchtbares Unglück für Frankreich und England sein kann, und er tat es, aller Vermutung nach, um Briand daran zu erinnern, daß, wenn er wagen sollte, Vernunft anzunehmen, wenn er wagen sollte, friedfertig zu sein, wenn er für Groß-Frankreich und die Menschheit zu handeln sich erkühnte, anstatt den Befehlen des nationalistischen Frankreichs zu gehorchen, die Strafe für seine Vermessenheit ihn sicherlich treffen würde. Er wäre des Landesverrats angeklagt worden. »Conspuez Briand« hätten sie nach ihrer niedlichen Gewohnheit gerufen. Also mußte Briand die Rolle des Patrioten spielen.

Es ist ein offenes Geheimnis, daß der gleiche Konflikt in Tokio und in London besteht, die Telegraphenkabel haben reichlich zu tun in diesem Ringen der Vernunft mit dem wildgewordenen Patriotismus. – Jede seitens irgendeines Landes in Washington gemachte Konzession wird in die Heimat berichtet, um dort als »Schwäche«, als »Mangel an Patriotismus«, als »Verrat« angegriffen zu werden.

In Amerika und Großbritannien steht das häßlichste Ereignis dieser Phase noch bevor, der Ausbruch der patriotischen Fanatiker, der enttäuschten Politiker, die gern nach Washington gekommen wären, der Hetzjournalisten, der Verbreiter von Mißtrauen und Zwietracht, der tausendfachen Erscheinungsformen einer gemeinen Gesinnung. Es muß auch mit der Abspannung gerechnet werden, die auf große Erwartungen zu folgen pflegt. Was Washington entscheidet, wird nicht das endgültige Resultat sein; was die Welt schließlich an unterzeichneten Verträgen und erledigten Tatsachen erhalten wird, werden nur die verstümmelten und verwirrten Überreste der Washingtoner Konferenz sein.

Aus diesem Grunde ist es unerläßlich, daß die Washingtoner Konferenz noch einmal zusammentritt. Ihre Arbeit ist nicht getan, bevor nicht ihre Entscheidungen verwirklicht worden sind. Nachdem sie ihre Beschlüsse an die Regierungen und Parlamente abgesandt, wird sie sich vertagen, aber sie darf sich nicht auflösen. Sie muß wiederkommen, einer erneuerten Einladung folgend, um mit vielleicht etwas erweiterten Machtbefugnissen, mit einer weiteren und anderen Weltvertretung, die Atmosphäre internationaler Eintracht wiederherzustellen, die hier erzeugt worden ist. Dann wird sie noch einmal überprüfen, welche Versuche sie gemacht hat, die von ihr ausgearbeitete Regelung der Weltangelegenheiten zu verwirklichen und woran diese Versuche vielleicht gescheitert sind. Es werden bis dahin auch noch viele Fragen einer Lösung entgegenreifen, die jetzt nicht erörtert werden können.

Vieles bleibt noch ungetan durch die Washingtoner Konferenz; sogar der größte Teil der Arbeit muß noch getan werden, aber es ist schon zur Genüge hier bewiesen worden, um jeden vernünftigen Menschen zu überzeugen, daß etwas Neues, ein neues Instrument, ein neues Organ zur Regelung der menschlichen Angelegenheiten gefunden worden ist und daß dies eine Sache ist, deren die Welt bedurfte und die sie nicht mehr entbehren kann. Diese Sache muß wiederkehren, sie muß wachsen. Sie muß eine stets wiederkehrende Weltkonferenz werden. Da dies klar ist, so ist es an der Zeit, daß die öffentlichen Diskussionen und die öffentliche Meinung sich mit dem Problem der Erneuerung der Konferenz befassen, damit wir, bevor sie sich auflöst, die Sicherheit erhalten, daß sie wieder zusammentreten wird.

Als eine vorübergehende, einmalige Angelegenheit wird sie dem Gedächtnis und der Phantasie der Menschen bald entschwinden; aber als eine Angelegenheit, die weiter besteht und lebendig bleibt, die vorüber ist, aber wiederkehren wird, um neu aufgekommene Schwierigkeiten zu regeln und mißlungene Versuche von neuem anzustellen, mag sie das Symbol und der Vereinigungspunkt aller jener gesunden und menschenfreundlichen Empfindungen, aller jener Hingabe an das Ganze der Menschheit, an den Frieden und die Gerechtigkeit werden, die bisher unfruchtbar und wirkungslos in der Welt blieben, weil ihnen das Banner fehlte, um das sie sich scharen konnten.


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