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XVI.
Was ist von Amerika zu sagen?

Washington, den 27. November

In meinem nächsten Artikel werde ich von den Fortschritten der Washingtoner Konferenz berichten, in diesem will ich fortfahren in meinen ganz allgemein gehaltenen Berichten dessen, was in der Welt vorgeht.

Ich habe von einer fortschreitenden, schnellen Auflösung unserer zivilisierten Organisation als von der wesentlichsten Tatsache der Zeit geschrieben. Es ist nicht leicht, in dieser Stadt des Überflusses und der Lichtfülle im Gedächtnis zu behalten, daß dies wirklich der Fall ist. Es ist erstaunlich, welche Lichtverschwendung hier getrieben wird; das Kapitol leuchtet die ganze Nacht wie Vollmond, ein endloser Lichtstrom ergießt sich vom Washingtoner Obelisken, das Licht blitzt und glitzert und webt und flutet um und über die ganze Stadt.

Ich finde es selbst schwer, mich hier der Wirklichkeit des Zusammenbruchs zu erinnern, und doch habe ich die Straßen einer großen europäischen Stadt in vollem Tageslicht öde und leer wie einen Totenkopf liegen sehen. Ich habe mich in der wichtigsten Verkehrsstraße einer anderen europäischen Hauptstadt nachts mit einer elektrischen Taschenlampe zurechtfinden müssen. Ich wenigstens dürfte diese Bilder der Verwüstung und Verödung nicht vergessen; ich begreife, daß Amerikaner, die nichts von dem heruntergekommenen Zustande des östlichen Europas, von der Ärmlichkeit und dem Mangel in Mitteleuropa gesehen haben, nicht imstande sind, die Vision zu sehen, die im Gedächtnis zu behalten, mir qualvoll ist.

In diesem Lande hat das Geld noch seinen Wert, die Zehndollarscheine in meiner Tasche bürgen mir dafür, daß ich jederzeit auf das Schatzamt gehen kann, um sie in Gold umzuwechseln (ich bin so fest von ihrer Gültigkeit überzeugt, daß ich nicht einmal daran denke). Meine Erzählungen von der fortschreitenden Auflösung drüben müssen wie ein trübseliges Märchen klingen. Dennoch ist sie die härteste und wichtigste Tatsache dieser Welt.

Überall werden hier Feste gefeiert. Ich gehe zu großartigen Ballfesten, zu prächtigen Empfängen, ich werde fortgewirbelt zu der übermütigen Lustbarkeit eines Ochsenbratfestes, bei dem ein ganzer in Ketten hängender Ochse über einem Holzfeuer gebraten wird – wenn man sich so etwas in Rußland vorstellte –! Das Erntedankfest war eine ungeheure Feier. Die Portionen, die man in den Hotels, in den Klubs und Restaurants bekommt, sind enorm, wenn man sie mit dem gegenwärtigen europäischen Maßstabe mißt, es hat den Anschein, als äße man immer nur ganz kleine Stücke und würfe das übrige fort. Weder auf Neuyork noch auf Washington ist bis jetzt etwas von dem europäischen Schatten gefallen. Es gibt wohl viel Arbeitslosigkeit, aber nicht genügend, um die Menschen zu ängstigen. Ich selber habe weder hier noch in Neuyork etwas davon gemerkt. Mitten in diesem fröhlichen Wohlleben erhalte ich einen Brief von meiner Frau, in dem sie mir schildert, wie die Polizei die bitteren Inschriften auf den Kränzen, die am Waffenstillstandsgedächtnistag auf dem Londoner Ehrengrabmal niedergelegt wurden, zensurieren mußte, und wie die Veteranen, die in der Prozession der Erwerbslosen in London mitgingen, Pfandscheine an Stelle ihrer Kriegsauszeichnungen trugen. Diese Kontraste drängen mir die Frage auf: »Angenommen, Amerika flickt einen halbwegs sicheren Frieden mit Japan zusammen, läßt Japan sich in der Mandschurei, in Sibirien und endlich in China ausbreiten, setzt seine Seerüstungsausgaben auf den Nullpunkt herab und sieht ruhig zu, wie die übrige Welt, einschließlich der alten englisch redenden Heimat, in den Abgrund stürzt – wird es, abgesehen von der moralischen Einbuße, sehr schwer darunter leiden?«

Das ist eine sehr interessante Betrachtung.

Ich glaube, Amerika wird sich nach einem eigenen System einrichten können und in gewissem Sinne mit heiler Haut davonkommen. Möglicherweise wird es eine schwere Krisis durchzumachen haben. Gegenwärtig produziert es mehr Nahrungsmittel, als es verzehren oder verschwenden kann, es exportiert Nahrungsmittel. Der amerikanische Landwirt verkauft einen bestimmten Teil seiner Produkte zu Exportzwecken, keinen sehr großen Prozentsatz, aber doch genug, um einen wichtigen Posten seines Betriebes zu bilden. Wenn nun Europa und Asien so verarmen und verkommen, daß sie nicht imstande sind, Nahrungsmittel zu importieren, so ist dieser Zweig des Handels vernichtet. Der amerikanische Landwirt wird sein Angebot auf eine geringere Nachfrage einrichten müssen, er wird entweder seine Produktion einschränken oder andere Landwirte unterbieten müssen. Das bedeutet also, daß im Falle eines allgemeinen europäischen Niederganges auch für den amerikanischen Landwirt schlimme Zeiten im Anzuge sind. Die Landwirte werden weniger kaufkräftig sein als früher, viele Landwirte werden die Bewirtschaftung ihrer Güter aufgeben müssen.

Große Firmen wie Ford werden durch Überproduktion in Verlegenheit geraten.

Amerikanische Fabrikanten sind auch bis zu einem bestimmten, wenn auch nicht überwältigenden Grade Exporteure, und ein großer Teil ihrer Inlandsgeschäfte bezieht sich auf die Landwirte, deren Kaufkraft abnehmen wird. Auch in den industriellen Gebieten werden schlechte Zeiten auf den Verfall Europas folgen, vielleicht sogar sehr schlechte Zeiten. Neuyork und die östlichen Städte werden vielleicht, was den überseeischen Handel anbelangt, außergewöhnlich schwer leiden. Für sie werden vielleicht geringere Möglichkeiten des Wiederauflebens vorhanden sein, denn mit dem Rückfall Europas in die Barbarei wird das Zentrum der amerikanischen Interessensphäre nach dem Innern verlegt werden; aber nachdem einmal eine Reihe von Krisen, eine größere Menge von Bankrotten usw. überwunden sein wird, ist es keineswegs ausgeschlossen, daß die Vereinigten Staaten – wenn sie keinen Krieg mit Japan bekommen – ganz ruhig weiter bestehen können, allerdings in etwas weniger prunkvoller Weise und Lebenshaltung als jetzt. Amerika ist nicht wie England und Frankreich, auf Tod und Leben an das europäische System gebunden.

Es gibt außerdem Grenzen, über welche hinaus die Gebiete der Alten Welt nicht von dem Zusammenbruch des europäischen Geld- und Kreditwesens erreicht werden können. Außerhalb der europäisierten See- und Küstenstädte wird Kleinasien kaum noch tiefer sinken können, als es bereits gesunken ist, wenn auch der größte Teil von Europa auf das Niveau der Balkanstaaten und Kleinasiens herabsinken sollte. Die Auflösung Kleinasiens folgte aus den großen Kriegen des orientalischen Imperiums und Persiens; dieses ganze Land war ein ruiniertes Gebiet vor den Tagen des Islam. Es hat sich nie erholt. Europa wird sich vielleicht auch nie wieder erholen.

Wenn Großbritannien sehr geschwächt wird, so wird Indien wahrscheinlich durch Unruhen heimgesucht werden und in Unordnung geraten, und China, dem dann niemand zu Hilfe kommen kann, wird sich vermutlich in jenem Zustande der Unordnung erhalten, der bereits langsam, aber sicher seine alteingesessenen gebildeten Klassen verschlingt, seine uralten Traditionen zerstört, ohne sie durch irgendein modernisiertes, organisiertes Unterrichtswesen zu ersetzen. Aber wiederum mag es auch am westlichen Stillen Ozean Gebiete geben, welche nicht vollständig in Städtelosigkeit, Unbildung und bäuerliches Leben verfallen.

Japan ist noch zahlungsfähig und tatkräftig, der Krieg hat seine Kräfte wahrscheinlich wenig mehr als die Amerikas angegriffen, und seine Beteiligung am Weltkreditsystem ist noch so neuen Datums, daß Japan, wie Amerika, nach einer Zeit der Einschränkung und Anpassung wahrscheinlich fähig sein wird, sich zusammenzuraffen, sich aufrechtzuerhalten und seine Herrschaft wie seine Kultur ungehindert über das ganze Westasien auszubreiten. Es wird um so eher dazu imstande sein, wenn eine Periode der Abrüstung ihm Zeit läßt, sich auszuruhen, um sich zu konsolidieren, bevor es sich weiter ausdehnt. Ein Krieg zwischen Japan und Amerika würde eine langwierige und sehr kostspielige Sache sein und würde wahrscheinlich beide Mächte in denselben Auflösungsprozeß stürzen, in welchem Europa jetzt untergeht. Ich setze aber voraus, daß Amerika nicht das Risiko eines derartigen Krieges um China oder einer sonstigen fernabliegenden Sache willen laufen wird, und daß Japan keine Absichten auf Kalifornien hat. Ein Amerika, dem der Verfall Europas gleichgültig ist, würde sich wahrscheinlich nicht ernstlich darum bekümmern, wenn Australien demnächst unter japanische Herrschaft geriete. Es würde sich nicht darum bekümmern – bis die Monroe-Doktrin in Frage käme. Es würde also ganz behaglich und glücklich leben.

Was nun die materiellen Gesichtspunkte betrifft, so wird der Appell an den durchschnittlichen einfachen Mann in Amerika, er möge sich um die verwickelten Schwierigkeiten Europas und Asiens kümmern, geschweige denn sich um ihretwillen bemühen, ganz wirkungslos verhallen. Er kann in ebenso stolzer »Isolierung« verharren wie seine Väter, er kann seine Hilfe versagen, er kann »gefahrbringende Bündnisse vermeiden« und sich auf seine eigene Kraft verlassen, er kann den Zusammenbruch überdauern, er kann darauf bestehen, jeden Funken eines Wiederauflebens in dem europäischen Schuldner zu ersticken, und was ihn und seine Kinder und wahrscheinlich auch seine Kindeskinder anbelangt, kann Amerika auf die Weiterführung eines sehr erträglichen Daseins rechnen. Es wird immer noch eine Menge Fords, eine Menge Nahrungsmittel, Kinos und andere unterhaltende Erfindungen, Saatzeiten, Ernten und Erntedankfeste geben. Es wird keine Rüstungen haben, und die Besteuerung wird eine sehr leichte sein, der Prozentsatz an moralischen, wohlgeordneten Existenzen wird der höchste sein, der je in irgendeiner Volksgemeinschaft dieses Planeten erreicht worden ist; bis zu jenen sehr fernen Zeiten, da das große asiatische Imperium von Japan seine Aufmerksamkeit ernstlich auf eine Ausdehnung in der Neuen Welt richten wird.

Was die hier angeführten materiellen Gesichtspunkte angeht, so scheint es Amerika an Größe der Gesinnung zu fehlen.

Ich aber gehöre zu einer der Rassen, die Amerika bevölkert haben. Ich kenne die Denkweise meines eigenen Volkes und weiß etwas von den meisten Völkern, die ihre besten Söhne in dieses Land geschickt haben. Ich habe die Menschen hier beobachtet, ich habe ihnen zugehört und habe über sie gelesen. Hier ist keine Entartung, sondern Fortschritt und Kräftezuwachs. Ich will auch nicht daran glauben, daß der amerikanische Geist, der aus all dem Vortrefflichsten von Europa herausdestilliert ist, diese Preisgabe der Zukunft dulden wird, daß er sich zu diesem verwerflichen Aufgeben der Führerrolle unter den Menschen, wie sie eine dauernde Isolierung notwendig mit sich bringt, bequemen wird.

Das amerikanische Volk ist unmerklich zur Größe emporgewachsen. Es ist sich seiner jetzigen ungeheuren Vormachtstellung an Reichtum, Kraft, Hoffnung, Glück und ungebrochenem Mute unter den Menschenkindern noch immer nicht bewußt. Die Blüte aller weißen Rassen ist nicht in diesen Weltteil gekommen, um zu säen und zu ernten, zu verzehren und zu vergeuden, in Hemdsärmeln in einem Schaukelstuhl zu rauchen, während die große Welt, aus der ihre Väter kamen, zum Teufel geht. Sie sind nicht hierher gekommen, um in faulem Behagen zu leben. Sie sind hierher gekommen um der Freiheit willen und um den Beginn einer größeren Kultur einzuleiten. Die Jahre des Wachstums und des Werdens von Amerika gehen zu Ende, die Zeit seiner Welttätigkeit hat begonnen. Das ganze Amerika ist eine zu kleine Welt für das amerikanische Volk; die Welt, die es angeht, ist das ganze Erdenrund.

Ich zweifle nicht an der Großherzigkeit und dem Unternehmungsgeist Amerikas – wenn Amerika erst versteht, um was es sich handelt.

Aber versteht denn Amerika die Bedeutung und die dringende Gefahr der gegenwärtigen Lage? Ist es bereit, jetzt zu handeln? Die Gefahr Europas ist dringend – dringend! Bis jetzt hat diese Washingtoner Konferenz nur die äußersten Fäden jenes sich windenden, verworrenen, internationalen Knäuels berührt, der gelöst werden muß, wenn die europäische Zivilisation gerettet werden soll.

Bisher sind diese wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten, die schon zu einer unheilvollen Krisis in Europa geführt haben, behandelt worden, als ob sie gar nicht bestünden. Aber sie sind der Kern alles Übels jenseits des atlantischen Ozeans. Bei Amerika, dem reichen Gläubiger von ganz Europa und dem Besitzer der größten Goldmengen der Welt, liegen ungeheure Rettungsmöglichkeiten. Die politische Lage wird der wirtschaftlichen mehr und mehr untergeordnet.

Wenn Amerika den Willen hat, so hat es auch die Fähigkeit, Europa wiederherzustellen und den Verfall aufzuhalten, und seine Stellung ist eine so gefestigte, daß es die tatsächliche dauernde Abrüstung von Europa zu einer Vorbedingung seiner Unterstützung machen kann. Wenn Amerika die Geistesklarheit hat, die beredten Apologeten jener einen Macht, die noch kriegerisch, abenteuerlustig und boshaft über den Ruinen steht, beiseite zu schieben, so kann es durch die bloße Kraft seiner finanziellen Herrschaft das übrige Europa veranlassen, sich zusammenzutun und seine noch ungelösten Streitfragen zu regeln, es kann eine »Liga zur Erzwingung des Friedens« fordern oder es kann ihn selbst erzwingen.

Wird es dies jetzt tun oder wird es die Gelegenheit vorübergehen lassen – die Gelegenheit, die nie wiederkehren wird?


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