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Voltaire über sich selbst

Aus einem Brief

Seine große Leidenschaft

Im menschlichen Herzen ist ein tiefes Gefühl, das sich dagegen auflehnt, daß man betrogen wird. Wenn mir ein Reisender interessante wunderbare Dinge erzählt, so macht er mir für den Augenblick großen Spaß; zeigt man mir, daß es falsch ist, was ich glaubte, so bin ich empört über den Aufschneider. Es gibt Leute, denen ich nie in meinem Leben verzeihen werde, daß sie mich in meiner Jugend getäuscht haben. Ich weiß wohl, daß ich jeden Augenblick von meinen Sinnen getäuscht werden muß; ein gerader Stab muß mir im Wasser krumm erscheinen usw. Die Natur stellt uns fort und fort täuschende Bilder vor Augen, sie ist eine große Oper, deren Dekorationen auf optische Wirkung berechnet sind. Sie zeigt uns eben die Dinge nicht wie sie sind, sondern wie wir sie empfinden sollen. Wenn Paris die Haut der Helena gesehen hätte, wie sie wirklich war, nie hätte er sich in sie verliebt. Aber beim Handeln und beim vernünftigen Denken ist es etwas ganz anderes. Wir wollen nicht betrogen sein, weder in den Handelsgeschäften, die man mit uns abschließt, noch in der Geschichte, noch in der Philosophie, noch in der Naturwissenschaft.

Der Friede ist allerdings mehr wert als die Wahrheit, das heißt, man soll seinem Nächsten um theoretischer Streitereien willen keine trüben Stunden machen. Aber man soll doch den Frieden der Seele in der Wahrheit suchen und die scheußlichen Irrtümer zu Boden treten, die die Seele zerrütten und sie zum Spielzeug von Schurken machen. Glauben Sie mir, man hat traurige Stunden mit achtzig Jahren, wenn man noch im Zweifel schwimmt. Wie verabscheue ich die Memmen und die schwachen Seelen!

Wie alt man auch werden mag, man läßt sich nicht gern täuschen. Man verabscheut im Geheimen die lächerlichen Vorurteile, die die Menschen nach ihrer Übereinkunft in der Öffentlichkeit respektieren. Die Freude, dieses Joch abzuschütteln, ist ein Trost dafür, daß man es so lange tragen mußte. Je näher mich mein Alter und die Schwäche meiner Natur dem Ende bringen, um so mehr habe ich es für meine Pflicht gehalten, zu untersuchen, ob so viele berühmte Leute von Hieronymus und Augustin bis auf Pascal nicht auch einige Gründe für sich hatten. Ich habe klar gesehen, daß sie keine hatten und daß sie nur kniffliche und leidenschaftliche Advokaten der allerschlechtesten Sache waren. Ja, hätten sich diese Meister des Irrtums damit begnügt, uns zu sagen: »Wir wissen wohl, daß wir nur dummes Zeug lehren; aber unsere Fabeln sind auch nicht schlechter als die Fabeln anderer Völker; lasst uns die Toren in Ketten legen und lachen wir miteinander!« – dann könnte man schweigen, dann hätte der selige Abbé Bazin Abbé Bazin – Deckname Voltaires nichts über gewisse Materien geschrieben. Aber sie haben zur Lüge noch die Anmaßung gefügt. Sie haben über die Geister herrschen wollen, und gegen diese Tyrannei empöre ich mich. – Es ist sehr wertvoll, wenn man sich von gewissen abscheulichen Vorurteilen losgemacht hat, auch wenn man nicht etwas ganz Befriedigendes an die Stelle zu setzen hat. Es ist genug, wenn man sicher weiß, was nicht ist. Man ist nicht verpflichtet, zu wissen was ist. Ich bin ein großer Umstürzler. Häuserbauer bin ich nur für die Emigranten von Genf.

Die Scherze und die theatralischen Sachen, von denen Sie sprechen, sind nur amüsante Nebendinge; um das, was den Menschen in erster Linie interessieren sollte, kümmert man sich meist am wenigsten. Fast niemand will darüber nachdenken, woher er kommt, wo er ist, warum er ist und was aus ihm wird. Meist stehen selbst die für gescheit Geltenden noch auf der Stufe der Kinder, die an Ammenmärchen glauben; und das Schlimmste ist, daß selbst die Regierenden nicht klarer sehen in diesen Dingen als die Regierten; darum ist auch, wenn sie alt werden und vereinsamen, ihr Los ein dummes und verächtliches Greisenalter. Zweifel, Furcht und Schwäche vergiften ihre letzten Tage; stark ist die Seele immer nur, wenn sie aufgeklärt ist. Schätzen Sie sich glücklich, daß Sie frühzeitig gelernt haben zu denken.

Sagen was man denkt, das ist der Trost des Lebens. Das Studieren hat vieles für sich: Wir leben dabei ganz gemütlich mit uns selbst; die Last des Müßiggangs drückt uns nicht; wir laufen nicht aus dem Hause von einem Ende der Stadt zum andern, um unendlich viel Nichts zu sprechen und mit anzuhören. So habe ich in meinen Schneebergen, vom rauhen Winter eingeschlossen, meine Zeit mit Meditieren hingebracht. Meditieren Sie nicht auch, gnädige Frau? Kommen Ihnen nicht manchmal hundert Gedanken über die Ewigkeit der Welt, über die Materie, über das Denken, über den Raum, über das Unendliche? Ich sollte meinen, man denke an das alles, wenn die Leidenschaften verflogen sind. Wir sind doch alle wißbegierig; es möchte doch jedermann in diese Tiefen eindringen, wenn man nur nicht die Anstrengung des Denkens scheute, wenn man sich nur nicht durch Vergnügen und Geschäfte zerstreuen ließe. Sie sind gerade in dem Zustand, der zum Reflektieren anregt. Der Verlust des Augenlichts kommt der Sammlung der Seele zugute. Mir kommen oft zwischen meinen Bettvorhängen Gedanken, die sich freilich wieder auf und davon machen, wenn der Tag anbricht. Ich nütze die Zeit aus, in der meine Augenentzündung mir das Lesen unmöglich macht. Diese Zeiten möchte ich mit Ihnen verbringen.


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