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Die Glanzzeiten der Geschichte

Alle Zeiten haben Helden und Staatsmänner hervorgebracht, und alle Völker haben Umwälzungen durchgemacht. Für den, der nur sein Gedächtnis mit Tatsachen füllen will, sind alle Geschichten ungefähr gleich. Aber wer denkt und, was noch seltener ist, wer Geschmack hat, zählt nur vier Jahrhunderte in der Weltgeschichte. Diese vier glücklichen Zeitalter sind die, in denen die Künste in Blüte standen und zu denen als zu Marksteinen menschlicher Geistesgröße die Nachwelt bewundernd aufsieht.

Das erste der vier ist das der Perikles, der Demosthenes, Aristoteles, Plato, Apelles, Phidias und Praxiteles; es ist auf Griechenland beschränkt; der Rest der Erde war noch Barbarenland.

Das zweite Zeitalter ist das Cäsars und Augustus' und wird gekennzeichnet durch die Namen Lukrez, Lukrez – Titus Lucretius Carus, römischer Dichter, schrieb »De rerum natura«, in dem naturwissenschaftliche Erkenntnis gefordert wird, die die Menschheit von Götterfurcht und Aberglauben befreien kann, † v.C. 55 Cicero, Cicero – Marcus Tullius Cicero, röm. Politiker, Philosoph und Redner, formte den Begriff des Staates durch seine Schriften »De re publica« und »De legibus«, † v.C. 43 Livius, Livius – Titus Livius, römischer Geschichtsschreiber, † 17 Virgil, Virgil – röm. Dichter, Hauptwerk »Aeneis«, † v.C. 19 Horaz, Horaz – Quintus Hoeatius Flaccus, einer der bedeutendsten Dichter des Augusteischen Zeitalters, schrieb Satiren und Oden, † v.C. 8, er prägte die Sprichwörter »Carpe diem,quam minimum credula postero! – »Nutze diesen Tag (wörtlich: Greif diesen Tag), nimmer traue dem nächsten!« und »Sapere aude!« – »Wage es, den Verstand zu benutzen!« Ovid, Ovid – Publius Ovidius Naso, kurz Ovid, römischer Dichter, mußte im Jahr 8 in die Verbannung gehen, † 18 Varro, Varro – Publius Terentius Varro Atacinus, römischer Dichter, † 35 Vitruvius. Vitruvius – römischer Architekt und Ingenieur, erhalten ist ein Werk »Zehn Bücher über Architektur«, † v.C. 10

Das dritte ist das Ruhmeszeitalter Italiens, das auf die Eroberung von Konstantinopel Eroberung Konstantinopels – die Osmanen eroberten K. Im Jahre 1453. durch die Türken folgte, in dem in Florenz eine bürgerliche Familie, die Medici, das unternahm, was die Könige Europas hätten tun sollen.

Das vierte und vielleicht dasjenige, das der Vollendung am nächsten kommt, ist das Jahrhundert Ludwigs XIV. Ludwig XIV. – franz. König seit 1651, regierte absolutistisch, bekämpfte den Adel, führte eine aggressive Außenpolitik, z. B. die Verwüstung der Pfalz im Pfälzer Erbfolgekrieg, Frankreich wurde unter ihm die dominierende Macht in Europa, † 1715 In den Künsten mag es die drei anderen vielleicht nicht überragen, aber die Vernunft im allgemeinen hat die größten Fortschritte gemacht; erst jetzt ersteht eine gesunde Philosophie. In den Geistern, in den Sitten, im politischen wie im künstlerischen Leben kündigt sich ein Umschwung an, der der beste Ruhmestitel für unser Vaterland ist, dessen glücklicher Einfluß sich aber nicht auf Frankreich beschränkt. Er wirkt nach England hinüber und weckt den Wetteifer dieser Nation voll Geist und Willenskraft; er bringt den Geschmack nach Deutschland und die Wissenschaft nach Rußland; und ganz Europa verdankt seine feine Sitte und seine gesellige Bildung dem Hof Ludwigs XIV.

Von Leiden und von Verbrechen frei waren auch diese vier Jahrhunderte nicht. Friedliche Bürger mögen sich der Pflege der Kunst weihen; das hindert die Fürsten nicht, ehrgeizig zu sein, die Völker nicht, aufsässig zu werden, die Priester und Mönche nicht, heimtückisch zu intrigieren. Im Punkte der menschlichen Bosheit gleichen sich alle Jahrhunderte; was diese vier und nur sie auszeichnet, das ist die Schar großer Talente.

Die Philosophie macht heute so große Fortschritte in der Milderung der menschlichen Sitten. Unserem Jahrhundert scheint es beschieden, die Verbrechen vergangener Jahrhunderte wieder gutzumachen; das wird gelingen, wenn der Geist der Duldung sich durchsetzt. Aber um sagen zu dürfen, wir seien besser als unsere Vorfahren, müßten wir unter denselben Umständen wie sie vor den Grausamkeiten, deren sie sich schuldig machten, zurückschaudern; und es ist nicht bewiesen, daß wir in ähnlicher Lage menschlicher wären als sie. Die Philosophie dringt nicht immer zu den Großen durch, die befehlen, und noch weniger zu den Horden der Kleinen, die ausführen. Sie findet sich meist nur bei Menschen in bescheidener Lebensstellung, die gleich weit von dem herrschsüchtigen Ehrgeiz entfernt sind wie von der engstirnigen Roheit, die in dessen Diensten steht. Das christliche Europa wurde schließlich eine Art ungeheurer Republik, in der das Gleichgewicht der Mächte besser festgelegt ist als einst in Griechenland.

Trotz den Kriegen, die der Ehrgeiz der Könige erregt, und trotz den noch wüsteren Religionskriegen verbindet ein nie aussetzender Verkehr alle Teile Europas. Die Künste, nach denen der Glanz der Staaten gewertet wird, sind auf einer Höhe, die Griechenland und Rom niemals kannten.


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