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Antike und moderne Kulturwerte

Die Alten und die Neueren, oder das Boudoir der Frau von Pompadour

Frau von Pompadour: Wer ist denn diese Dame mit der Adlernase, mit den großen, schwarzen Augen, dem hohen, edlen Wuchs, der stolzen und dabei so herausfordernden Miene, die in mein Boudoir eintritt, ohne sich anmelden zu lassen, und die grüßt wie eine Nonne?

Tullia: Ich bin Tullia und bin geboren in Rom vor ungefähr achtzehnhundert Jahren; ich grüße wie eine Römerin und nicht wie eine Französin; ich komme, ich weiß selbst nicht woher, um mir Ihr Land, Ihre Persönlichkeit und Ihr Boudoir anzusehen.

Frau von Pompadour: Ah! Gnädige Frau, erweisen Sie mir die Ehre, Platz zu nehmen. Einen Lehnstuhl für Frau Tullia!

Tullia: Für wen? Für mich? Gnädige Frau, ich soll mich auf diesen kleinen unbequemen Thron hinsetzen, damit meine Beine herabhängen und ganz rot werden?

Frau von Pompadour: Wie setzen Sie sich denn?

Tullia: Auf ein gutes Bett, gnädige Frau.

Frau von Pompadour: Ah, ich verstehe; Sie meinen, ein gutes Kanapee. Hier ist eines, auf das Sie sich ganz behaglich hinlegen können.

Tullia: Es freut mich, zu sehen, daß die Französinnen eben so gutes Mobiliar haben wie wir es hatten.

Frau von Pompadour: Ah, ah! Gnädige Frau, Sie haben ja gar keine Strümpfe. Ihre Beine sind ganz nackt; aber wahrhaftig, sie sind ja mit einem ganz hübschen Band geschmückt, das aussieht wie ein Schnürstiefelchen.

Tullia: Wir kennen keine Strümpfe; das ist aber eine sehr angenehme und bequeme Erfindung, die ich unsern Stiefelchen vorziehe.

Frau von Pompadour: Gott verzeihe mir, gnädige Frau, ich glaube, Sie haben kein Hemd an.

Tullia: Nein, gnädige Frau, zu unserer Zeit trugen wir keine Hemden.

Frau von Pompadour: Aber in welcher Zeit lebten Sie denn, gnädige Frau?

Tullia: Zur Zeit Sullas, Pompejus', Cäsars, Catos, Catilinas, Ciceros, dessen Tochter zu sein ich die Ehre habe, jenes Cicero, dem einer Ihrer Günstlinge Günstlinge – gemeint ist Crébillon, Prosper Jolyot Crébillon, französischer Autor. Er galt um 1710 als der größte Dramatiker seiner Generation, mit Voltaire verfeindet, † 1762. Sein Schauspiel »Catalina« wurde 1748 uraufgeführt. barbarische Verse in den Mund gelegt hat. Gestern bin ich ins Pariser Theater gegangen; man spielte da Catilina und alle Persönlichkeiten meiner Zeit; ich erkannte keinen einzigen wieder. Mein Vater ermahnte mich in diesem Stück, ich solle mich gegen Catalina recht entgegenkommend zeigen; das war mir sehr merkwürdig. – Aber, gnädige Frau, Sie scheinen da sehr schöne Spiegel zu haben; Sie haben eine ganze Menge in Ihrem Zimmer. Sie haben sechsmal mehr Spiegel als wir hatten. Sind sie von Stahl?

Frau von Pompadour: Nein, gnädige Frau; man macht Sie aus Sand. Das ist etwas ganz Gewöhnliches bei uns.

Tullia: Das ist eine schöne Kunst; die hatten wir nicht, das muß ich gestehen. Ah! was für ein schönes Gemälde haben Sie da?

Frau von Pompadour: Das ist kein Gemälde; das ist ein Stich; das macht man mit Kienruß; Kienruß – Druckerschwärze man kann an einem Tag hundert Abzüge davon machen; dieses Geheimnis verewigt die Gemälde, die ein Raub der Zeit werden.

Tullia: Das ist ein wunderbares Geheimnis; unsere Römer haben so etwas nie gehabt.

(Ein im Boudoir anwesender Gelehrter nahm nun das Wort, zog ein Buch aus seiner Tasche und sagte zu Tullia:)

Sie werden noch mehr staunen, gnädige Frau, wenn ich Ihnen sage, daß dieses Buch nicht von Hand geschrieben ist, daß es gedruckt ist ungefähr so wie diese Stiche, und daß diese Erfindung auch die Geisteswerke verewigt.

(Der Gelehrte überreicht Tullia sein Buch; es war ein Bändchen Gedichte für die Frau Marquise. Tullia las eine Seite, bewunderte die Schriftzeichen und sagte zum Verfasser)

Tullia: Mein Herr, der Buchdruck ist etwas sehr Schönes, und wenn er solche Verse verewigen kann, so scheint mir das der Gipfel der Kunst. Aber haben Sie diese Erfindung nicht auch dazu angewendet, die Werke meines Vaters zu drucken?

Der Gelehrte: Jawohl, gnädige Frau, aber man liest sie nicht mehr; das tut mir leid für Ihren Herrn Vater, aber heute kennen wir ihn fast nur noch dem Namen nach. (Nun brachte man Schokolade, Tee, Kaffee, Eis. Tullia sah mit Staunen im Sommer Stachelbeerengelee mit Sahne. Man erklärte ihr, daß dieses gefrorene Getränke in sechs Minuten mit Hilfe von Salpeter hergestellt worden sei und daß man dieses Verdichtete und Gefrorene durch Bewegung zustande gebracht habe. Sie war ganz verblüfft vor Verwunderung. Die schwarze Farbe der Schokolade und des Kaffees waren ihr etwas widerwärtig; sie fragte, wie man diese Flüssigkeiten aus den Gewächsen des Landes gezogen habe. Ein Herzog und Pair, der auch da war, antwortete ihr:)

Die Früchte, denen man diese Getränke entnommen hat, stammen aus einer anderen Welt; sie kommen vom inneren Arabien.

Tullia: Arabien, das kenne ich; aber ich habe nie etwas von Ihrem sogenannten Kaffee gehört; und was die andere Welt betrifft, so kenne ich nur die, aus der ich komme; und ich versichere Sie, in jener Welt gibt es keine Schokolade.

Der Herr Herzog: Die Welt, die ich meine, gnädige Frau, ist ein Festland, namens Amerika, fast so groß wie Asien, Europa und Afrika zusammen, und man kennt sie sehr viel genauer als die Welt, aus der Sie kommen.

Tullia: Wie? Wir, die wir uns die Herren des Weltalls nannten, wir hätten nur die Hälfte des Weltalls besessen? Das ist niederschlagend.

(Der Gelehrte, etwas verärgert darüber, daß Frau Tullia seine Verse schlecht gefunden hatte, fiel ihr plötzlich ins Wort:)

Eure Römer, die sich rühmten, die Herren des Weltalls zu sein, hatten nicht den zwanzigsten Teil davon erobert. Wir haben gegenwärtig hinten in Europa ein Reich, das für sich allein größer ist als das Römische Reich. Dazu wird es von einer Frau von einer Frau regiert – Katharina II. regiert, die mehr Geist hat als Sie, die schöner ist als Sie und die Hemden an hat. Wenn sie meine Verse lesen würde, bin ich sicher, sie würde sie sehr schön finden.

(Die Frau Marquise gebot dem Gelehrten Schweigen, der es an Respekt fehlen ließ gegen eine römische Dame, die Tochter Ciceros. Der Herr Herzog erklärte, wie man Amerika entdeckt hatte. An seiner Uhr, an der ein eleganter kleiner Kompaß hing, zeigte er ihr, wie man mit Hilfe einer Nadel schließlich in eine andere Halbkugel gelangt sei. Die Überraschung der Römerin wuchs bei jedem Wort, das sie hörte, und bei jedem Gegenstand, den sie sah. Schließlich rief sie)

Tullia: Ich fange an zu fürchten, daß die Neueren den Alten überlegen sind. Ich kam her, um darüber Klarheit zu erlangen, und ich merke, daß ich meinem Vater traurige Wahrheiten berichten muß.

(Der Herr Herzog antwortete ihr darauf folgendes:)

Trösten Sie sich, gnädige Frau; niemand unter uns reicht an Ihren erlauchten Vater hin, nicht einmal der Verfasser des Kirchenblatts oder der der christlichen Zeitschrift; niemand kommt Cäsar gleich, der Ihr Zeitgenosse war, oder Ihren Scipionen, seinen Vorgängern. Möglich, daß die Natur auch heute noch, wie ehedem, so erhabene Geister bildet; aber das sind dann edle Keime, die in unserem schlechten Boden nicht zur Reife gelangen. Nicht so ist es bei den Künsten und Wissenschaften, die Zeit und glückliche Zufälle haben sie entwickelt. Es ist uns jetzt zum Beispiel leichter, Männer wie Sophokles und Euripides zu haben als Persönlichkeiten, die Ihrem Vater gleichen, weil wir ein Theater haben, aber keine Rednertribünen. Sie haben die Tragödie Catilina ausgepfiffen; wenn Sie Phädra sehen, werden Sie vielleicht zugeben, daß die Rolle Phädras bei Racine Racine – Jean Racine, französischer Dramatiker, † 1699 ihrem Ihnen bekannten Vorbild in Euripides ganz außerordentlich überlegen ist. Ich hoffe, Sie werden auch zugeben, daß Molière Ihrem Terenz Terenz – römischer Komödienautor, † v.C. 159 überlegen ist. Wenn Sie mir gestatten, werde ich die Ehre haben, Sie zur Oper zu geleiten, und Sie werden erstaunt sein, mehrstimmigen Gesang zu hören. Das ist auch eine Kunst, die Ihnen unbekannt war.

Hier, gnädige Frau, sehen Sie ein kleines Fernglas. Haben Sie die Güte, einen Blick dadurch zu werfen, und sehen Sie sich dieses Haus an, das eine Meile weit entfernt ist.

Tullia: Bei den unsterblichen Göttern, dieses Haus steht ja dicht vor meinem Fernrohr und ist viel größer als es mir erschien.

Der Herr Herzog: Nun, gnädige Frau, mit diesem Spielzeug haben wir neue Himmel entdeckt, wie wir mit einer Nadel eine neue Halbkugel gefunden haben. Sehen Sie dieses andere lackierte Gerät, in dem eine kleine Glasröhre eingelassen ist? Mit diesem kleinen Ding sind wir zur genauen Messung des Gewichts der Luft gekommen. Kurz, nach vielen tastenden Versuchen ist ein Mann gekommen, der die innerste Springfeder der Natur entdeckt hat, die Ursache der Schwere, daß nämlich die Gestirne Anziehungskraft auf die Erde ausüben und die Erde auf die Gestirne. Er hat das Sonnenlicht ausgezupft, wie unsere Damen Goldstoff auszupfen.

Tullia: Was heißt denn das »auszupfen« mein Herr?

Der Herr Herzog: Gnädige Frau, in den Reden Ciceros findet sich allerdings kein Ersatzwort dafür. Man fasert einen Stoff aus, man trennt ihn Faden um Faden auf und sondert das Gold aus; so hat es Newton mit den Sonnenstrahlen Newton mit den Sonnenstrahlen – Lichtzerlegung mittels eines Prismas aus Glas gemacht. Er hat die Gestirne bewältigt; und einem namens Locke Locke – John Locke, englischer Philosoph, Vertreter der englischen Aufklärung, gilt als Begründer des Empirismus, Hauptwerk »Über den menschlichen Verstand«. Noch vor Montesquieu trat er für die Trennung von Legislative und Exekutive ein, seine Staatsrechtslehre beeinflußte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und wirkt bis in unsere Zeit nach, † 1704 ist dasselbe mit dem menschlichen Verstande gelungen.

Tullia: Sie wissen viel für einen Herzog und Pair; Sie scheinen mir gelehrter zu sein als der Gelehrte da, der möchte, daß ich seine Verse schön finde; und Sie sind viel höflicher als er.

Der Herr Herzog: Gnädige Frau, ich bin eben besser erzogen als er; aber meine wissenschaftliche Bildung ist nichts Besonderes; die jungen Leute, die die Schulen durchgemacht haben, sind hierin gebildeter als alle Philosophen des Altertums. Schade nur, daß wir in unserem Europa die schöne lateinische Sprache, die Ihr Vater so wunderbar handhabte, durch ein halbes Dutzend höchst unvollkommener Kauderwelschsprachen ersetzt haben; aber mit diesen groben Werkzeugen haben wir doch sehr gute Werke hervorgebracht, selbst auf ästhetischem Gebiet.

Tullia: Da müssen aber die Völker, die auf das Römische Reich gefolgt sind, in tiefem Frieden gelebt haben, und es muß eine ununterbrochene Folge großer Männer gegeben haben von meinem Vater bis zu Ihrer Zeit, daß man so viele neue Künste erfinden und zu so genauer Kenntnis des Himmels und der Erde gelangen konnte.

Der Herr Herzog: Durchaus nicht, gnädige Frau. Wir sind Barbaren, fast alle aus Scythenland stammend und kamen, um Ihr Reich zu zerstören mitsamt den Künsten und Wissenschaften. Wir haben sieben bis acht Jahrhunderte lang wie Wilde gelebt; und, was uns erst recht zu Barbaren machte, wir wurden von einer Menschengattung überflutet, die man Mönche heißt, die das von Ihnen unterworfene und aufgeklärte Menschengeschlecht in Europa verdummt haben. Wundern wird Sie, daß in den letzten Jahrhunderten dieser Barbarei die Natur gerade unter diesen Mönchen wertvolle Menschen erweckt hat. Die einen haben die Kunst erfunden, das durch das Alter geschwächte Augenlicht zu verbessern; Augenlicht verbessern – Brillen, der Erfinder ist nicht gewiß, eventl. War es Roger Bacon die anderen haben Salpeter mit Kohle Salpeter mit Kohle – Schießpulver, nach seinem Erfinder auch Schwarzpulver genannt zusammengeknetet, und das hat uns zu Kriegswerkzeugen verholfen, mit denen wir Männer wie Scipio, Alexander und Cäsar, die mazedonische Phalanx und alle Ihre Legionen vernichtet hätten. Nicht als ob wir größere Feldherren wären als die Scipionen, als Alexander und Cäsar; aber wir haben eben bessere Waffen.

Tullia: Bei Ihnen sehe ich immer die Höflichkeit eines vornehmen Herrn mit der Bildung eines Staatsmanns vereinigt; Sie wären es wert gewesen, römischer Senator zu sein.

Der Herr Herzog: Ah, gnädige Frau, und Sie wären noch viel würdiger, eine Zierde unseres Hofes zu sein.

Frau von Pompadour: Die gnädige Frau wäre allzu gefährlich für mich.

Tullia: Schauen Sie nur in Ihre schönen Spiegel, die man mit Sand herstellt, und Sie werden merken, daß Sie nichts zu fürchten haben. Nun, mein Herr, Sie sagten auf die allerhöflichste Weise, daß Sie viel mehr wissen als wir.

Der Herr Herzog: Ich sagte, gnädige Frau, daß die letzten Jahrhunderte immer gebildeter sein müssen als die ersten, wofern nicht eine allgemeine Umwälzung eingetreten ist, die alle Denkmale des Altertums von Grund aus zerstört. Wir haben entsetzliche Umwälzungen erlebt, die aber vorübergingen; in diesen Stürmen war man so glücklich, die Werke Ihres Vaters und einiger anderer großen Männer sich zu erhalten. So ist das heilige Feuer nie ganz erloschen und hat schließlich ein Licht entzündet, das fast alle Welt erleuchtet. Wir pfeifen die barbarischen Scholastiker aus, die lange unter uns geherrscht haben, aber wir ehren Cicero und alle die Alten, bei denen wir denken lernten. Wenn wir andere naturwissenschaftliche Gesetze haben, als Sie zu Ihrer Zeit, so haben wir doch keine anderen Normen für die Beredtsamkeit. Und damit könnte man vielleicht den Streit zwischen den Alten und den Neueren zum Abschluß bringen.

(Die ganze Gesellschaft war der Meinung des Herrn Herzogs. Dann ging man in die Oper Castor und Pollux. Text und Musik gefielen Tullia sehr gut. Sie gab zu, ein solches Schauspiel sei etwas Besseres als ein Gladiatorenkampf.)


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