Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wider den Krieg

Alle Tiere leben in beständigem Krieg. Jede Gattung ist dazu da, eine andere zu verschlingen. Sogar noch die Schafe und die Tauben verschlingen eine Unmenge kleinster Tierchen. Die Männchen jeder Gattung bekämpfen sich wegen der Weibchen wie Menelaos und Paris. Menelaos und Paris – Sagengestalten in der Ilias Luft, Erde und Wasser sind Gefilde der Zerstörung. Da aber Gott den Menschen die Vernunft verliehen hat, so scheint diese Vernunft eine Mahnung für die Menschen zu sein, nicht auf die Stufe der Tiere herabzusteigen, besonders da die Natur ihnen keine Waffe gegeben hat, ihre Mitmenschen umzubringen und auch keinen Instinkt, der sie dazu treibt, ihnen das Blut auszusaugen.

Und doch ist der mörderische Krieg ein solch fürchterliches Erbgut der Menschheit, daß es mit zwei oder drei Ausnahmen kein Volk gibt, dessen alte Geschichte keine Kriegsgeschichte wäre. In der Gegend von Kanada sind die Worte Mensch und Krieger gleichbedeutend, und wir haben gesehen, daß auf unserer Halbkugel Räuber und Soldat dasselbe waren. Manichäer, Manichäer – Anhänger der auf Mani (3. Jhr.) zurückgehenden heidnischen Religion das ist eure Entschuldigung!

Auch ein Erzschranze wird ohne weiteres zugeben, daß der Krieg immer Pest und Hungersnot im Gefolge hat, wenn er nur einen Blick in die Lazarette in Deutschland geworfen hat oder in eines der Dörfer, in dem Kriegsheldentaten vollbracht worden sind.

Gewiß ist das eine recht schöne Kunst, die die Felder verwüstet, Wohnstätten zerstört und im Jahresdurchschnitt vierzigtausend Menschen von hunderttausend ums Leben bringt. Diese Erfindung wurde zuerst von Völkern gefördert, die sich zum Zweck des gemeinsamen Wohls zusammenschlossen. So erklärte zum Beispiel der Reichstag der Griechen dem Reichstag von Phrygien und seiner Nachbarschaft, sie wollen auf tausend Fischerbooten sich aufmachen, um sie womöglich auszurotten. Das versammelte römische Volk gab kund, es liege in seinem Interesse, sich noch vor der Ernte gegen das Volk von Veji oder gegen die Volsker Veji, Volsker – italische Stämme der frühen röm. Geschichte zu schlagen. Und einige Jahre darauf schlugen sich alle Römer, da sie sehr zornig gegen die Karthager waren, lange Jahre zu Wasser und zu Land. Heute ist es etwas anders.

Ein Stammbaumforscher beweist einem Fürsten, daß er in gerader Linie von einem Grafen abstamme, dessen Verwandte vor drei- bis vierhundert Jahren einen Familienvertrag mit einem Haus abgeschlossen hatten, dessen Andenken erloschen ist. Dieses Haus hatte entfernte Ansprüche auf eine Provinz, deren letzter Besitzer am Schlagfluß Schlagfluß – Schlaganfall gestorben ist. Der Fürst und sein Geheimer Rat sehen ein, daß ihr Recht unbestreitbar ist. Die Provinz, die ein paar hundert Meilen weit entfernt liegt, beteuert vergebens, sie kenne ihn ja gar nicht, sie habe gar keine Lust, von ihm regiert zu werden; man müsse doch, wenn man den Leuten Gesetze geben wolle, zum mindesten ihre Einwilligung haben. Was sie da vorbringen, dringt nicht einmal zu den Ohren des Fürsten, dessen Recht unbestreitbar ist. Er findet auf der Stelle eine Menge Leute, die nichts zu verlieren haben; er steckt sie in grobes blaues Tuch (110 Sou die Elle), versieht ihre Hüte mit einem Saum aus weißem Zwirn, läßt sie rechts- und links-um machen und macht sich froh auf den Weg zum Ruhm. Die andern Fürsten, die von diesem Streich hören, wollen auch ihr Teil daran haben, jeder nach seinen Kräften, und überschwemmen einen kleinen Landstrich mit mehr gemieteten Mördern als Dschingiskan, Dschingis Khan – Mongolenfürst und Eroberer, † 1227 Tamerlan Tamerlan – Timur Lenk, mongol. Fürst und Eroberer, † 1405 und Bajazet Bajazet – Bayezid I., türk. Sultan und Eroberer, † 1403 hinter sich her schleppten. Ferne Völker hören, man werde sich schlagen und es gäbe fünf bis sechs Sou im Tag für sie zu verdienen, wenn sie mit von der Partie sein wollen; sofort teilen sie sich in zwei Banden wie die Schnitter und verkaufen ihre Dienste jedem, der sie haben will. Diese Massen gellen nun wild aufeinander los ohne irgendwelches Interesse an dem Rechtsstreit, ja ohne auch nur zu wissen, um was es sich handelt.

Nun sieht man zu gleicher Zeit fünf bis sechs kriegführende Mächte, bald drei gegen drei, bald zwei gegen vier, bald eine gegen fünf, die sich alle gleichermaßen verabscheuen und sich abwechselnd verbünden oder befehden; aber alle einig in dem einen Punkt, so viel als möglich Unheil zu stiften.

Und das Wunderbare an dieser höllischen Geschichte ist, daß jedes Mörderoberhaupt seine Fahnen einsegnen läßt und Gott feierlich anruft, ehe er hingeht und seinen Nächsten vertilgt. Hat ein solcher Häuptling bloß das Glück gehabt, zwei- bis dreitausend Menschen zu erwürgen, so schenkt er sich den Dank gegen Gott; aber wenn ungefähr zehntausend mit Feuer und Schwert ausgerottet wurden und wenn man gar begnadet wurde, eine Stadt von Grund aus zerstören zu dürfen, dann singt man ein ziemlich langes vierstimmiges Lied, Lied – »Te Deum, laudamus ...« – »Großer Gott, wir loben dich ...« das in einer Sprache komponiert wurde, die allen Mitkämpfern unbekannt ist, und das außerdem mit barbarischen Wendungen ganz gespickt ist; dasselbe Lied dient nicht bloß bei den Mordtaten, sondern auch bei Hochzeiten und Taufen; ein Umstand, der unverzeihlich ist besonders bei einem Volk, das gerade durch neue Lieder glänzen will.

Die natürliche Religion hat die Bürger tausendfach an der Begehung von Verbrechen gehindert. Ein wohlbeschaffenes Herz hat gar nicht den Willen dazu, eine zarte Seele schaudert davor zurück; sie stellt sich einen gerechten, rächenden Gott vor. Aber die künstliche Religion ermutigt zu allen Grausamkeiten, die man in Gesellschaft begeht, zu Verschwörungen, Aufständen, Räubereien, Überfällen, Plündereien, Mordtaten. Jeder zieht unter dem Banner seines Heiligen fröhlich zum Verbrechen aus.

Besonders besoldet man eine gewisse Zahl von öffentlichen Sprechern, um die mörderischen Tage zu feiern. Die einen haben einen langen, schwarzen Rock und darüber ein kurzes Mäntelchen an; die andern haben ein Hemd über einem Talar; wieder einige tragen zwei gleiche Gehänge aus buntem Stoff über ihrem Hemd. Alle sprechen sie lange; und sie zitieren, aus Anlaß einer Schlacht in der Wetterau, Dinge, die ehemals in Palästina passiert sind.

Das übrige Jahr hindurch donnern diese Leute gegen die Laster. Sie beweisen in dreiteiliger Rede und in Antithesen, daß die Damen, die ganz leicht ein bißchen Karmin auf ihre frischen Wangen legen, das ewige Ziel der ewigen Rache des Ewigen sind, daß Polyeucte Polyeucte – Tragödie von Corneille, die Darstellung eines Märtyrerschicksals auf der Bühne wurde von der Geistlichkeit gerügt und Athalie Athalie – Tragödie Racines und Oper Händels nach einer alttestamentarischen Episode, die von Verrat und Königsmord durch die Geistlichkeit handelt (Könige 2, 11) Teufelswerke sind, daß ein Mann, der an einem Fasttag für zweihundert Taler Seefische auf seiner Tafel auftragen läßt, unfehlbar in den Himmel kommt, während ein armer Mensch, der für zweieinhalb Sou Hammelfleisch ißt, auf immer zu allen Teufeln fährt.

Von fünf- bis sechstausend Deklamationen dieser Art gibt es höchstens drei bis vier, die ein gewisser Gallier namens Massillon, Massillon – Geistlicher zur Zeit Ludwig des XIV. verfaßt hat, die ein gebildeter Mann ohne Ekel lesen kann; aber in allen diesen Reden findet man höchstens zwei, in denen der Redner ein paar Worte gegen diese Geißel und dieses Verbrechen des Kriegs zu sagen wagt, der doch alle Geißeln und Verbrechen in sich faßt. Diese elenden Schwätzer sprechen unaufhörlich gegen die Liebe, die der einzige Trost des Menschengeschlechts ist und die einzige Methode, seine Verluste gutzumachen; sie sagen nichts gegen unsere heillosen Bemühungen es zu vernichten.

Sie haben eine sehr schlechte Predigt über die Unkeuschheit gehalten, o Bourdaloue, Bourdaloue – dito aber keine über diese Musterkarte von Morden, von Erpressungen, von Plünderungen, über diese allgemeine Raserei, die die Welt verzehrt. Alle Laster aller Zeitalter und Zonen zusammen kommen dem Unheil eines einzigen Feldzugs nicht gleich. Ihr elenden Seelenärzte, ihr schreit fünf Viertelstunden lang über einige Nadelstiche und sagt nichts über die Krankheit, die uns in tausend Stücke zerreißt! Ihr moralischen Philosophen, verbrennt alle eure Bücher! Solange die Laune einiger Menschen Tausende unserer Brüder in aller Form Rechtens erwürgen darf, wird der Teil des Menschengeschlechts, der dem Heldentum sich weiht, das Allerentsetzlichste in der ganzen Natur sein.

Was für einen Wert hat für mich Menschlichkeit, Wohltätigkeit, Mäßigung, Sanftmut, Weisheit, Frömmigkeit, wenn doch ein halb Pfund Blei, das auf sechshundert Schritt Entfernung abgefeuert wird, mir den Körper zerschmettert, so daß ich mit zwanzig Jahren in unaussprechlichen Qualen mitten unter fünf- bis sechstausend Sterbenden sterben muß, während meine Augen bei ihrem letzten Blick meine Geburtsstadt durch Feuer und Schwert zerstört sehen und während die letzten Töne, die, an mein Ohr dringen, die Schreie von Weibern und Kindern sind, die unter Trümmern ihr Leben aushauchen – und alles das für die angeblichen Interessen eines Menschen, den wir nicht kennen.

Was aber das Schlimmste ist: der Krieg ist eine Geißel, der man nicht entgehen kann. Genau genommen haben alle Menschen den Gott Mars verehrt; Zebaoth bei den Juden bedeutet Gott der Heerscharen; aber bei Homer nennt Minerva den Mars einen wütenden, unsinnigen, höllischen Gott.

Der berühmte Montesquieu, Montesquieu – Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu, französischer Schriftsteller und Staatstheoretiker. Sein wichtigstes Werk war die geschichtsphilosophische und staatstheoretische Schrift De l'esprit des loix / Vom Geist der Gesetze (Genf 1748), ein Produkt von zwanzig Jahren Arbeit. Darin fordert er die Trennung von Gesetzgebung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative) und ausführender Gewalt (Exekutive), die sog. Gewaltenteilung. Das Buch kam sofort auf den Index der katholischen Kirche. † 1755 der ja für menschenfreundlich galt, hat doch den Ausspruch getan, es sei gerecht, Feuer und Schwert zu seinen Nachbarn zu tragen, damit sie nicht allzu gute Geschäfte machen. Wenn das der »Geist der Gesetze« ist, so ist es auch der Geist der Borgia Borgia – span./ital. Adelssippe, die von ihr gestellten Päpste im 15. Jahrhundert übertrafen an Sittenwidrigkeit und Nepotismus alles bis dahin Dagewesenes und der Machiavelli. Machiavelli – Nicolo Machiavelli, ital. Philosoph und Geschichtsschreiber. In seinem staatsphilosophischen Hauptwerk »Der Fürst« prägte er das Bild eines rücksichtslos seine Ziele verfolgenden Herrsches »Machiavellismus«, † 1527 Hätte er leidigerweise recht, so müßte man gegen diese Wahrheit schreiben, und wenn sie noch so gut mit Tatsachen belegt werden könnte. Montesquieu drückt sich so aus:

»Im Leben der Gemeinschaften bringt das Recht der natürlichen Verteidigung manchmal die Notwendigkeit mit sich, anzugreifen, wenn ein Volk sieht, daß ein längerer Friede ein anderes in den Stand setzte, es zu vernichten, und wenn der Angriff in diesem Augenblick das einzige Mittel ist, dieser Vernichtung zuvorzukommen.«

Wie kann der Angriff mitten im Frieden das einzige Mittel sein, dieser Vernichtung zuvorzukommen? Da müßt ihr doch dessen sehr sicher sein, daß dieser Nachbar euch vernichten will, wenn er mächtig wird. Und sicher seid ihr erst, wenn er schon Vorbereitungen zu eurem Untergang getroffen hat. In diesem Fall beginnt aber er den Krieg, nicht ihr. Ihre Voraussetzung ist also falsch und widerspruchsvoll.

Wenn es je einen offensichtlich ungerechten Krieg gab, so ist es der von Ihnen vorgeschlagene. Das heißt doch nur: euren Nächsten umbringen, damit euer Nächster, der euch nicht angriff, nicht imstande sei, euch anzugreifen; das will sagen: Ihr riskiert den Ruin des Landes in der Hoffnung, das Land eines anderen grundlos zu ruinieren. Das ist sicherlich weder anständig noch nützlich; denn man ist des Erfolgs nie sicher, wie Ihr wohl wißt.

Wenn euer Nachbar während des Friedens zu mächtig wird, wer hindert euch, euch eben so mächtig zu machen; wenn er Bündnisse schließt, schließt Bündnisse eurerseits. Wenn er weniger Mönche hat und mehr Gewerbetreibende und mehr Soldaten, ahmt ihn nach in dieser weisen Staatswirtschaft. Wenn er seine Matrosen besser einexerziert, exerziert die euren auch ein; alles das ist ganz recht. Aber euer Volk dem fürchterlichsten Elend aussetzen, in dem so oft trügenden Gedanken, euren teuren Bruder den durchlauchtigsten Nachbarfürsten zu Boden zu werfen! Wahrlich, euch einen solchen Rat zu geben, war nicht die Sache des Ehrenpräsidenten einer friedlichen Körperschaft.


 << zurück weiter >>