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Was können wir wissen?

Man hat sich recht lange über die »verborgenen Eigenschaften« lustig gemacht. Man sollte sich über die lustig machen, die nicht daran glauben. Wir wollen es hundertmal wiederholen, jedes Prinzip, jede erste Springfeder in jeglichem Werk des großen Demiurgos Demiurg – der Schöpfergott ist geheim und den Sterblichen für immer verborgen.

Was ist die Zentripetalkraft, die Schwerkraft, die ohne Berührung auf unendliche Entfernungen hinaus wirkt? – Welche Kraft zieht unser Herz mit seinen Ohren sechzigmal in der Minute zusammen? Welche andere Kraft verwandelt dieses Gras in Milch in den Eutern einer Kuh, und dieses Brot in Blut, Fleisch, Knochen in diesem Kind, das mit seiner Nahrung heranwächst bis zu einem bestimmten Punkt, der der Höhe seines Wuchses ein Ziel setzt, ohne daß irgendeine Kunst ihm auch nur eine Linie hinzuzufügen vermöchte?

Pflanzenwesen, Minerale, Tierwesen, wo ist euer erstes Prinzip? Es ist in der Hand dessen, der die Sonne um ihre Achse sich drehen läßt und der sie in Licht gekleidet hat.

Dieses Blei wird nie zu Silber werden; dieses Silber wird nie Gold; dieses Gold nie ein Diamant; so wenig dieses Stroh je zu Zitronat oder Ananas wird.

Welche Korpuskularphysik, welche Atome bestimmen so ihre Natur? Ihr wisst nichts darüber; die Ursache wird euch ewig verborgen sein; alles um euch, alles in euch ist ein Rätsel, dessen Lösung zu erraten dem Menschen nicht gegeben ist.

Dieser Erznichtskenner glaubt etwas zu wissen, wenn er sagt, die Tiere haben eine vegetative und eine sensitive Seele, die Menschen haben eine vegetative, eine sensitive und eine intellektuelle.

Ärmlicher Mensch, du Hochmutstropf, der du mir Worte von dir gibst, hast du je eine Seele gesehen, weißt du, wie so etwas gemacht ist? Wir haben in unseren Fragen schon viel von der Seele gesprochen und immer unsere Unwissenheit eingestanden. Heute unterschreibe ich noch einmal dieses Geständnis, und zwar um so nachdrücklicher als ich seither viel mehr gelesen, viel mehr nachgedacht, mich viel mehr gebildet habe; und so bin ich noch viel mehr in der Lage zu versichern, daß ich nichts weiß.

Das war ein wahrer Weiser, der erste Unwissende, der zum schöpferischen Wesen also sprach: Du hast mich gemacht ohne mein Vorwissen und du erhältst mich, ohne daß ich eine Ahnung hätte, wie ich bestehen kann. Als ich an der Brust meiner Amme sog, befolgte ich ein physikalisches Gesetz, das ich doch nicht durchschaue; und einem noch schwerer verständlichen folge ich, wenn ich die Nahrungsmittel esse und verdaue, mit denen du mich nährst. Noch weniger weiß ich, wie Gedanken in meinen Kopf kommen, um ihn sofort wieder auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, während andere mein ganzes Leben lang darin bleiben und allen meinen Versuchen trotzen, sie zu verscheuchen. Ich bin eine Auswirkung deiner verborgenen allerhöchsten Kraft, der die Sterne gehorchen gerade so wie ich. Ein vom Winde bewegtes Staubkörnchen sagt nicht: Ich befehle den Winden. In te vivimus, movemur et sumus. In te vivimus, movemur et sumus – In dir weben, leben und sind wir. Du bist das einzige Wesen, der Rest ist Welt.

Die Metaphysik ist das Feld der Zweifel und der Roman der Seele. Wir wissen sehr wohl, daß mehr als ein gelehrter Herr uns dummes Zeug vorgeschwatzt hat; aber wir verfügen kaum über eine Wahrheit, die wir an die Stelle ihrer zahllosen Irrtümer setzen könnten. Wir schwimmen im Meer der Ungewißheit; und das muß so sein, da wir nur Tiere sind, ungefähr fünf und ein halb Fuß hoch und mit einem Gehirn von ungefähr vier Kubikzoll. Mein Gehirn, mein Herr, ist der sehr ergebene Diener des Ihrigen.

Ich werde bis zum letzten Atemzug der Sekte der Pyrrhoniker Pyrrhoniker – Zweifler angehören.

Schade, daß man einen Teil seines Lebens damit hinbringen muß, alte Zauberschlösser zu zerstören. Es wäre ja besser, Wahrheiten festzustellen, als Lügen zu untersuchen. Aber wo sind die Wahrheiten?


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