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Menschenlos im Lichte Pascalscher und Voltairescher Gedanken

Pascal: »Wenn ich die Verblendung und das Elend des Menschen sehe, die Widersprüche in seiner Natur, das Schweigen des Weltalls und, in einem Winkel dieses Weltalls verloren, den hilf- und ratlosen Menschen, der nicht weiß, wer ihn da hineingesetzt hat, was er da zu tun hat, was aus ihm im Tode wird, dann schaudert es mich, wie jemandem, den man schlafend auf eine wüste, fürchterliche Insel gebracht hätte und der nun erwachte, ohne zu wissen woher und wohin. Dann muß ich oft staunen, wie man in einem so elenden Zustand sein kann, ohne zu verzweifeln.«

Voltaire: Als ich diese Betrachtung las, erhielt ich einen Brief von meinem englischen Freund, in dem es heißt: »Ich bin noch immer so wie Sie mich kennen lernten, nicht heiterer und nicht trauriger, und nicht ärmer. Ich kann über meine Gesundheit nicht klagen und habe die Mittel zu einem angenehmen Leben; ohne Liebesleidenschaft, ohne Gier, ohne Ehrgeiz und ohne Neid. Solange es so steht, heiße ich mich ohne Bedenken einen glücklichen Menschen.« So gibt es sicher noch viele. – Und ich, wenn ich mir Paris oder London ansehe, so finde ich wirklich keinen Grund, mich der Pascalschen Verzweiflung hinzugeben. Das sind Städte, die ganz und gar nicht öden Inseln gleichen. Sie sind volkreich, wohlhabend, hochkultiviert, und die Leute darin sind so glücklich, wie der Mensch es eben sein kann. Welcher vernünftige Mensch stürzt sich in Verzweiflung, weil er nicht alle Eigenschaften der Materie, weil er sein denkendes Wesen nicht durchschaut, weil ihm Gott seine Geheimnisse nicht geoffenbart hat. Gerade so gut könnte man darüber verzweifeln, daß man nicht vier Füße oder zwei Flügel hat.

Pascal: »Man denke sich eine Schar von Menschen in Ketten, zum Tode verurteilt. Alltäglich werden einige von ihnen hingeschlachtet vor den Augen der anderen, die, einander hoffnungslos ansehen, bis die Reihe an sie kommt. Das ist das Bild des Menschenloses.«

Voltaire: In Ketten liegen und hingeschlachtet werden, das ist nicht Menschenlos. Die Welt als einen Kerker ansehen und die Menschen als Verbrecher, die man zum Schafott führt, das sind Wahnvorstellungen eines Fanatikers. Die Welt für ein Schlaraffenland halten, in dem nur Genuß auf uns wartet, ist ein Sybaritentraum. Sybariten – Sybaris: griech. Ackerbaukolonie am Golf von Tarent. Der prächtige und luxuriöse Lebensstil der »Sybariten« wurde im antiken Griechenland schließlich sprichwörtlich, Sybaritismus ist heute ein Begriff für Völlerei und Genußsucht. Daß die Erde, die Tiere, die Menschen so sind wie sie sein sollen nach den Gesetzen der Vorsehung, das ist, dächte, ich, die Anschauung eines vernünftigen Menschen. Die Menschen sind wie die Tiere und die Pflanzen dazu da, zu wachsen, eine Zeitlang zu leben, ihresgleichen hervorzubringen und dann zu sterben. Die vom Hang zur Satire freie Vernunft lehrt uns, daß der Mensch das vollkommenste, das glücklichste und das am meisten langlebige aller Tiere ist. Nicht über das Elend und die Vergänglichkeit, nein, über das Glück und die Dauer unseres Lebens müssen wir uns wundern. Nur Hochmut und Anmaßung kann verlangen, daß es uns besser ergehen soll als es uns ergeht.

Pascal: »Alle Menschen möchten glücklich sein; das ist der Beweggrund alles menschlichen Tuns, auch derer noch, die sich töten oder hängen; und doch ist noch nie jemand zu diesem erstrebten Ziele gelangt. Alle klagen in allen Ländern, zu allen Zeiten, in allen Lebensaltern, in allen Lagen.«

Voltaire: Ich weiß, es ist süß zu klagen; man hat zu allen Zeiten über die Gegenwart geschimpft. Nun komme ich aber aus meiner Provinz nach Paris. Man führt mich in einen sehr schönen Saal, in dem zwölfhundert Personen einer sehr schönen Musik lauschen. Darauf verteilt sich diese Versammlung in kleinere Gruppen, die ein sehr gutes Souper einnehmen, und nach diesem Souper pflegen sie nicht durchaus unzufrieden mit der Nacht zu sein. Ich sehe, wie alle schönen Künste in unserer Stadt geehrt, die unangenehmen Hantierungen sehr gut entlohnt werden. Gebrechlichkeit findet Unterstützung; den Unfällen beugt man vor. Jedermann genießt oder hofft zu genießen, und die Hoffnung ist nichts Schlechteres als der Genuß. Nun sage ich zu Pascal: »Mein großer Mann, sind Sie verrückt? Ich leugne nicht, daß sich Ströme von Leiden und Verbrechen über die Erde ergossen haben.« Aber als Pascal schrieb, waren wir sicher nicht mehr so zu beklagen, und auch heute sind wir nicht mehr so elend.


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