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Vom Dogma und vom Dogmenglauben

Man weiß, daß jede von der Kirche verkündete Glaubenslehre ein Dogma ist, das man annehmen muß. Es ist bedauerlich, daß es Dogmen gibt, die von der lateinischen Kirche angenommen und von der griechischen Kirche verworfen werden. Aber wenn die Glaubenseinheit fehlt, so tritt die Liebe an die Stelle: die Herzen vor allem sollten einig sein.

Wir dürfen, glaube ich, bei dieser Gelegenheit von einem Traum berichten, der einigen friedlich gesinnten Personen Freude gemacht hat.

Am 18. Februar des Jahres 1763 unserer Zeitrechnung, als die Sonne ins Zeichen der Fische trat, wurde ich in den Himmel entrückt, wie alle meine Freunde wissen. Nicht Mahomets Stute Borak war mein Reittier; nicht der Flammenwagen Elias war mein Gefährt; auch ritt ich nicht auf dem Elefanten des Siamesen Sammonocodom, auch nicht auf dem Roß des heiligen Georg, des Schutzpatrons von England, noch auf dem Schwein des heiligen Antonius. Antonius – Antonius von Padua, Heiliger, † 1231, vollbrachte viele Wunder, berühmt sind seine Alpträume. Hilfreich bei der Suche nach verlorenen Gegenständen Ich muß in aller Einfalt gestehen, daß ich selbst nicht weiß, wie meine Fahrt vonstatten ging.

Daß ich ganz verblüfft war, wird man mir glauben; unglaublich wird man finden, daß ich sah, wie alle Toten gerichtet wurden. Und wer waren die Richter? Es waren, mit Verlaub zu sagen, alle diejenigen, die den Menschen Gutes erwiesen hatten, Konfuzius, Konfuzius – chinesischer Philosoph, lehrte Wege zu Ordnung, Achtung und Harmonie unter den Menschen, † v.C. 479 Solon, Solon – reformorientierter athen. Staatsmann und Gesetzgeber, † v.C. 560 Sokrates, Sokrates – griech. Philosoph, lehrte, daß Tugend lehrbar ist, erkannte die Bedeutung der Philosophie für die Vervollkommnung der Menschen, † v.C. 399 Titus, Titus – von Mit- und Nachwelt hochgeachteter röm. Kaiser. Er leitete die Rettungsmaßnahmen nach dem Vesuvausbruch 79, beseitigte die Schäden nach einem Großbrand in Rom und vollendete das Kolosseum, †81 die Antonine, Antonine – die in der Zeit von 138 bis 192 regierenden 4 Kaiser in Rom. Weitgehend war es eine Zeit des inneren und äußeren Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität Epiktet, Epiktet – griech. Philosoph der Stoa, † 138 Charron, Charron – Pierre Charron, franz. Philosoph, Vertreter des Skeptizismus, † 1603 de Thou, de Thou – Jacques-Auguste de Thou, franz. Geschichtsschreiber und Politiker, hatte Anteil an der Abfassung des Edikts von Nantes, † 1617 der Kanzler de l'Hospital; l'Hospital – Michel de l'Hôpital, franz. Politiker, war mehrmals Kanzler, wirkte auf einen Ausgleich der katholischen mit der hugenottischen Partei hin, wurde von der katholischen Partei heftig bekämpft. Er bewirkte, daß die Beschlüsse des Tridentinums in Frankreich nicht veröffentlicht wurden. †1573 alle großen Männer, die die von Gott gebotenen Tugenden gelehrt und geübt hatten, schienen allein befugt zu sein, sein Urteil zu sprechen.

Ich sage nicht, auf welchen Thronen sie saßen, wie viele Millionen himmlischer Wesen vor dem ewigen Baumeister aller Welten anbetend lagen, welche Menge von Bewohnern dieser zahllosen Welten vor diesen Richtern erschien. Nur einige hochinteressante kleine Einzelheiten, die mir auffielen, will ich berichten.

Ich bemerkte, daß jeder Tote, der seine Sache vertrat und seine schönen Gefühle ins Feld führte, die Zeugen seiner Taten neben sich hatte. Als zum Beispiel der Kardinal von Lothringen Kardinal von Lothringen – Nikolaus von Mercœur, war von 1544 bis 47 Bischof von Verdun, † 1577 sich rühmte, er habe einige seiner Ansichten beim Konzil von Trient durchgesetzt, und als er zum Lohn für seine Rechtgläubigkeit das ewige Leben verlangte, da umringten ihn sofort zwanzig Kurtisanen oder Hofdamen, auf deren Stirn gezeichnet war, wie oft sie ein Schäferstündchen mit dem Kardinal gehabt hatten. Auch sah man die, die mit ihm die Liga Liga – die katholische Partei während der Hugenottenkriege im 16. Jahrh. In Frankreich begründet hatten; alle die Mitwisser seiner verderblichen Ränke drängten sich um ihn.

Gegenüber dem Kardinal von Lothringen stand Johannes Calvin, Calvin – Johannes Calvin, schweiz. Reformator, Begründer des Calvinismus, befürwortete wie Luther die Hexenverfolgung, war 1553 am Justizmord an Michael Servet beteiligt,† 1564 der sich in seiner groben Bauernsprache rühmte, wie er dem päpstlichen Götzen Fußtritte versetzt habe, nachdem andere ihn gestürzt hatten. »Ich habe«, sagte er, »gegen die Malerei und gegen die Bildhauerkunst geschrieben; ich habe einleuchtend gezeigt, daß die guten Werke nichts nütze sind, und habe bewiesen, daß es teuflisch ist, wenn man ein Menuett tanzt; jagt schnell den Kardinal von Lothringen von hier fort und setzt mich neben den heiligen Paulus!« – Während er noch sprach, sah man neben ihm einen flammenden Scheiterhaufen, ein fürchterliches Gespenst mit einer halb verbrannten spanischen Halskrause trat aus den Flammen hervor und schrie entsetzlich: »Ungeheuer, greuliches Ungeheuer, zittere, erkenne in mir jenen Servet, Servet – s. u. Calvin dem du die grausamste Todesstrafe angetan hast, weil er mit dir anzubinden wagte in der Streitfrage, wie drei Personen eine Substanz bilden können.« Da erging das Urteil der Richter, der Kardinal von Lothringen solle in den Pfuhl gestoßen werden, Calvin aber noch härter gestraft werden.

Ich sah eine unübersehbare Menge toter Menschen, die riefen: »Ich habe geglaubt, ich habe geglaubt.« Aber auf ihrer Stirn stand geschrieben: »Ich habe getan!« Und sie wurden verdammt.

Der Jesuit Le Tellier Le Tellier – Michel Le Tellier, Jesuit, Beichtvater Ludwig XIV., † 1719 erschien stolz mit der Bulle Unigenitus Bulle Unigenitus – päpstliche Bulle 1713 gegen den Jansenismus in der Hand. Aber ihm zur Seite erhob sich auf einmal ein kleiner Berg von zweitausend geheimen Verhaftungsbefehlen. Ein Jansenist zündete sie an, Le Tellier wurde vom Feuer bis auf die Knochen verbrannt; und der Jansenist, der kein geringerer Ränkespinner gewesen war als der Jesuit, bekam auch sein Teil Brandwunden.

Rechts und links sah ich Scharen von Fakiren ankommen, von Talapoinen, von Bonzen, Bonzen – buddhistische Priester von Mönchen, weißen, schwarzen, grauen; alle hatten sich eingebildet, um dem höchsten Wesen den Hof zu machen, müsse man entweder singen, oder sich geißeln, oder nackt einhergehen. Da hörte ich eine schreckliche Stimme sie fragen: »Was habt ihr den Menschen Gutes getan?« Darauf trat düsteres Schweigen ein; keiner wagte zu antworten; und sie wurden alle ins Narrenhaus des Weltalls geführt, eins der größten Gebäude, das man sich denken kann.

Einer schrie: »An die Verwandlungen des Xaca muß man glauben«; ein anderer: »Nein, an die von Sammonocodom«; »Bacchus hielt Sonne und Mond in ihrem Lauf auf«, sagte dieser; »die Götter haben Pelops wieder auferweckt«, sagte jener. »Hier ist die Bulle In Coena Domini, In Coena Domini – Bulle von 1363, eine Sammlung von Exkommunikationsandrohungen und -verfluchungen gegen Ketzer, noch heute in kraft, wird aber nicht mehr alljährlich am Gründonnerstg wie ehedem verlesen rief ein Neuangekommener. Und der Gerichtsdiener rief immerzu: »Ins Narrenhaus! Ins Narrenhaus!«

Als alle diese Rechtssachen ins Reine gebracht waren, hörte ich die Verkündigung des folgenden Gerichtsbeschlusses: »Im Namen des Ewigen, des Schöpfers, Erhalters, Belohners, Bestrafers, Verzeihers usw., usw., sei allen Bewohnern der hunderttausend Millionen Milliarden Welten, die zu bilden uns gefallen hat, kund und zu wissen getan, daß wir niemals irgendeinen der besagten Bewohner nach seinen verrückten Vorstellungen richten werden, sondern einzig und allein nach seinen Taten; denn so ist es unser gerechter Wille.«

Ich gestehe, das war das erste Mal, daß ich einen solchen Erlaß hörte; alle Erlasse, die ich bis jetzt auf dem Sandkörnchen gelesen hatte, auf dem ich geboren bin, endeten mit der Formel: »Denn so hat uns geruht zu belieben.«


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