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Der Mensch nicht böse von Natur

Man ruft uns zu, die, menschliche Natur sei von Grund aus entartet, der Mensch sei als Teufelskind geboren. Das ist eine sehr unvorsichtige Rede. Denn du, lieber Freund, der du mir predigst, daß jeder als ein Entarteter auf die Welt kommt, du tust mir dann zu wissen, daß auch du als ein solcher geboren bist, daß ich mich also vor dir in acht nehmen muß wie vor einem Fuchs oder einem Krokodil. O nein, erwiderst du, ich bin wiedergeboren; ich bin weder als Ketzer noch als Ungläubiger geboren; mir kann man trauen. Die ganze übrige Menschheit freilich ist eine Masse von Ungeheuern.

Wie viel vernünftiger und schöner wäre es, wenn ihr den Menschen predigen würdet: Ihr seid alle gut geschaffen; so seht doch, wie entsetzlich es wäre, wenn ihr eure reine Natur befleckt! So redet man ja auch mit den einzelnen Menschen. Führt ein Chorherr ein anstößiges Leben, so ruft man ihm zu: Wie kann man nur die Würde eines Chorherrn so bloßstellen! Einem Richter führt man seinen Rang als königlicher Rat zu Gemüte, dem er einen mustergültigen Wandel schuldet. Einem Soldaten sagt man: Vergiß nicht, daß du zum Regiment Champagne gehörst! Und so sollte man jedem einzelnen sagen: Gedenke an deine Menschenwürde!

Was für einen Sinn hätte sonst die Redewendung, die man bei allen Völkern findet: Halte Einkehr bei dir selbst! Wären wir wirklich Kinder des Teufels und wäre unser Blut höllischer Saft, so hieße das ja: Folgt nur eurer teuflischen Natur, seid Betrüger, Räuber, Mörder! Das ist das Gesetz eures Vaters.

Der Mensch ist nicht böse geboren; er wird es erst, wie er krank wird. Wäre er krank geboren, so könnten die Ärzte ihn von dieser angeborenen Krankheit niemals heilen.

Lasst die Kinder zu euch kommen, ihr seht an ihnen nur Zeichen der Unschuld, der Freundlichkeit, der Schüchternheit; wären sie bösartig und grausam, so würde sich das doch zeigen, wie die kleinen Schlangen und die kleinen Tiger schon zu beißen suchen. Aber die Natur, die den Menschen keine Angriffswaffen mitgegeben hat, so wenig wie den Tauben oder den Hasen, sie hat ihnen doch keinen Trieb zur Zerstörung eingesenkt.

Wenn der Mensch also nicht böse geboren ist, warum sind dann doch so manche, von der Bosheitspest angesteckt? Wenn die Führenden von der Krankheit ergriffen sind, so stecken sie die andern an, wie eine Frau, die, von dem Übel befallen ist, das Christoph Kolumbus aus Amerika herüberschleppte, Übel, das Christoph Kolumbus ... – die Syphilis dieses Gift von einem Ende Europas zum andern verbreitet. Der erste Ehrgeizige hat die Erde vergiftet.

Nun werdet ihr sagen, in diesem ersten Ungeheuer hat sich nur der Keim entfaltet, der in allen Menschen liegt. Gewiß kann die Mehrzahl unserer Brüder so werden; aber hat denn jedermann das Faulfieber Faulfieber – Fleckfieber und den Stein deswegen, weil jeder diese Krankheiten bekommen kann.

Es gibt ganze Völker, die gutartig sind. Die Philadelphier, Philadelphier – ein Indianerstamm (?) die Banjanen Banjanen – die Kaste der Kaufleute in Indien haben nie jemand umgebracht. Die Chinesen, die Völker von Tonkin, Siam, selbst von Japan, kennen seit mehr als hundert Jahren keinen Krieg mehr. Wären die Menschen von Natur böse und getrieben von einem teuflischen Wesen, so fände man jeden Morgen Männer von ihren Frauen, Väter von ihren Kindern ermordet, wie man bei Tagesanbruch Hühner, die von dem blutsaugenden Marder erwürgt sind, vorfindet.

Wenn es eine Milliarde Menschen auf Erden gibt, so ist das viel; das ergibt ungefähr fünfhundert Millionen Frauen, die nähen, spinnen, ihre Kleinen stillen, das Haus oder die Hütte sauber halten und ihre Nachbarinnen ein bißchen verlästern. Ich kann nicht sehen, welches Unheil diese harmlosen Wesen auf Erden stiften sollen. Weiter gibt es wenigstens zweihundert Millionen Kinder, die sicher weder morden noch plündern, und ebensoviel Alte und Kranke, die das gar nicht mehr können. Bleiben höchstens hundert Millionen kräftige junge Leute, die Verbrechen begehen können. Von diesen hundert Millionen sind neunzig ganz von schwerer Arbeit ausgefüllt, die der Erde Nahrung und Kleidung abringen soll. Sie haben kaum Zeit zu Übeltaten. Unter die übrigen zehn Millionen gehören die müßiggängerischen Genießer der guten Gesellschaft, die Männer von Talent, die sich ihrem Beruf widmen, die Richter und Beamten, die Priester, die allen Anlaß haben, ein anständiges Leben zu führen, wenigstens äußerlich. Bleiben als wirkliche Bösewichter nur einige Politiker, weltlichen oder geistlichen Standes, die immer Unheil stiften wollen, und einige tausend Landstreicher, die den Politikern ihre Dienste verkaufen. Niemals steht eine Million dieser wilden Tiere zu gleicher Zeit im Dienst; und in diese Zahl schließe ich noch die Straßenräuber ein. Also hat man auch in den unruhigsten Zeiten höchstens einen Menschen auf tausend, den man böse nennen kann; und auch der ist es nicht immer.

Es gibt also sehr viel weniger Böses auf Erden als man glaubt und sagt; immer noch viel zu viel, gewiß. Aber die Freude am Klagen und Übertreiben ist so groß, daß man bei der geringsten Kratzwunde gleich über Ströme von Blut schreit. Ein trübsinniger Geist, dem ein Unrecht widerfahren ist, sieht die Welt voll von Teufelsgesellen, so wie ein junger Genießer, wenn er nach der Oper mit seiner Dame soupiert, sich gar nicht vorstellen kann, daß es auch arme Tropfe gibt.


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