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Der unveränderliche Charakter

Kann man dem Charakter nach anders werden? Ja, wenn man körperlich ein anderer wird. Ein Mann mag als gewalttätiger, starrsinniger Zänker geboren sein und im Alter einen Schlaganfall bekommen; dann kann er ein weinerliches, schüchternes, dummes Kind werden. Sein Körper ist nicht mehr derselbe. Solange sein Blut, sein Rückenmark, seine Nerven dieselben sind, wird sein Temperament so wenig anders als der Trieb eines Wolfs oder eines Marders.

Der Charakter wird von unseren Gedanken und Gefühlen gebildet; nun steht es fest, daß man sich seine Gedanken und Gefühle nicht selbst gibt; also hängt unser Charakter nicht von uns ab. Wäre dem so, wer wäre da nicht vollkommen? Wir können uns keine Neigungen und keine Talente geben; wie sollten wir uns Charaktereigenschaften geben können? Wenn man nicht nachdenkt, glaubt man, man könne alles machen; wenn man nachdenkt, sieht man, daß man nichts machen kann.

Wollt ihr den Charakter eines Menschen von Grund auf ändern, so müßt ihr ihn täglich mit Abführmitteln purgieren, bis ihr ihn umgebracht habt. Karl XII. in seinem Wundfieber auf dem Weg nach Bender Karl XII. – Karl XII. – schwedischer König, in seiner Regierungszeit endete die schwedische Vormachtstellung im Ostseeraum, † 1718. Bender – sein fluchtort nach der Schlacht bei Poltawa 1709 war nicht mehr derselbe Mensch. Man konnte ihn lenken wie ein Kind.

Wenn ich eine schiefe Nase und Katzenaugen habe, so kann ich sie hinter einer Maske verstecken. Kann ich mit dem Charakter, den mir die Natur gegeben hat, etwa mehr tun?

Religion und Moral können der Kraft des Temperaments einen Zügel anlegen; sie können sie nicht zerstören. Das Alter schwächt den Charakter ab; der Baum trägt nur noch minderwertige Früchte; aber sie sind noch immer von derselben Art; er bekommt Astknoten und Moos und den Wurmfraß; er bleibt doch immer eine Eiche oder ein Birnbaum. Könnte man seinen Charakter ändern, man würde sich einen geben, man wäre der Herr der Natur. Kann man aber sich etwas geben? Empfangen wir nicht alles? Versucht einen Schlaffen mit Unternehmungsgeist zu durchdringen; einen feurigen, stürmischen Menschen zu dämpfen, daß er teilnahmlos wird; einem unmusikalischen Menschen Neigung zur Musik einzuflößen – ihr könntet ebensogut einen Blindgeborenen sehend machen wollen. Wir verbessern, wir mildern, wir verbergen was uns die Natur mitgab; wir schaffen nichts Neues.

Man sagt zu einem Züchter: Sie haben zu viele Fische in diesem Fischteich, sie werden nicht gedeihen; Sie haben zu viel Vieh auf Ihrer Weide; es ist zu wenig Futter da, es wird abmagern. Nun mögen nach dieser Mahnrede die Hechte die Hälfte der Karpfen meines guten Mannes verschlingen und die Wölfe die Hälfte seiner Schafe: die übrigbleibenden gedeihen prächtig. Kann er nun stolz sein auf seine Züchterkunst? Dieser Ökonom bist du. Eine deiner Leidenschaften hat die anderen aufgefressen, und du meinst, über dich selbst einen Sieg errungen zu haben. Gleichen wir nicht fast alle dem neunzigjährigen General, der junge Offiziere antraf, wie sie mit Freudenmädchen etwas Unfug trieben. »Meine Herren«, sagte er ganz entrüstet, »ist das das Beispiel, das ich Ihnen gebe?«


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