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Über Glück und Unglück

Das Glück ist ein abstrakter Begriff, der abgezogen ist von einigen Lustgefühlen. Seit Plato suchen die Philosophen das »höchste Gut«, wie die Chemiker den Stein der Weisen suchen; aber das höchste Gut existiert so wenig als das höchste Quadrat, oder das höchste Karmesinrot; es gibt Karmesinfarben, es gibt Quadrate, aber es gibt kein allgemeines Wesen, das man so nennen kann. Das Glück, das man so phantasiert, wäre eine ununterbrochene Reihe von Lustgefühlen. Das ist unvereinbar mit unseren Organen, mit unserer Bestimmung. Essen und Trinken macht großen Spaß, wie auch der Geschlechtsgenuß. Aber würde der Mensch fort und fort auf diese Weise genießen, seine Organe hielten das nicht aus, und die Menschheit ginge an der Lust zugrunde. Ohne Unterbrechung von einer Lust zur andern übergehen, ist auch ein Wahn. Die Frau, die empfangen hat, muß niederkommen, und zwar mit Schmerzen; der Mann muß Holz spalten und Steine behauen, was kein Vergnügen ist. Heißt man Glück einige über das Leben hin verstreute Lustgefühle, so gibt es Glück. Dauernde, immer wechselnde Lust gibt es nicht auf dieser Erdenkugel; da müßt ihr anderswo suchen.

Heißt man Glück einen äußeren Zustand wie den des Reichtums, der Macht, des Ansehens, so täuscht man sich nicht minder. Da ist mancher Köhler glücklicher als mancher Fürst. Wie viele häßliche Bürgersweiber fühlen sich wohler als Helena und Kleopatra. Immerhin, wenn wir sagen: Ein junger, gesunder Maultiertreiber hat viel voraus vor dem alten Karl V., Karl V. – seit 1519 Kaiser, dankte 1556 ab, † 1558 den die Gicht plagt, so kommen wir über die Wahrscheinlichkeit nicht hinaus. Es könnte immerhin auch sein, daß Karl V. an seinen Krücken mit Vergnügen daran zurückdenkt, daß er einmal einen König von Frankreich und einen Papst König von Frankreich – Franz I.; Papst – Clemens VII. in seiner Gefangenschaft hatte, und daß er mit dem Maultiertreiber nicht tauschen möchte. Nur Gott, dem Herzenskundigen, kommt es zu, zu entscheiden, wer der Glücklichste ist.

Nur im Punkt der augenblicklichen Lust- oder Schmerzempfindung kann man das Los zweier Menschen vergleichen, wobei man von allem anderen absehen muß. Ein gesunder Mensch, der ein gutes Rebhuhn verzehrt, hat ohne Zweifel einen Augenblick, der dem eines von der Kolik gequälten Menschen vorzuziehen ist. Weiter aber läßt sich nichts Sicheres sagen. Das Innere eines Menschen kann man gegen das Innere eines andern Menschen nicht abwägen; für Gefühle und Willensregungen fehlt uns die Waage.

Wir haben mit Plato begonnen und wollen mit Solon schließen, dessen großes Wort so großen Erfolg gehabt hat: Man soll niemand vor seinem Tod glücklich preisen. Dieser Lehrspruch ist wie so viele anderen vom Altertum geweihten Sentenzen im Grunde doch nur eine Kinderei. Der Augenblick des Todes hat nichts zu tun mit dem Los, das man im Leben kosten durfte. Man kann eines gewaltsamen und schmachvollen Todes sterben und doch alle Freuden genossen haben, deren die menschliche Natur fähig ist. Es ist sehr wohl möglich, ja sehr gewöhnlich, daß ein glücklicher Mensch einmal nicht mehr glücklich ist; hat er darum seine glücklichen Augenblicke etwa nicht gehabt? Was soll also das Wort Solons heißen? Daß es nicht sicher ist, daß ein Mensch, der heute etwas Frohes erlebt, morgen etwas Frohes erlebt. Dann ist es aber eine ebenso unbestreitbare wie platte Wahrheit, so platt, daß es sich nicht verlohnte, sie auszusprechen.

Wir haben ein großes Thema zu behandeln. Es handelt sich um das Glück oder wenigstens darum, so wenig als möglich unglücklich zu sein in dieser Welt. Sie fragen mich, ob ich ungefähr glücklich sei. Ja freilich gibt es nur ein Ungefähr in diesem Genre. Was ist Ihr »Ungefähr«, gnädige Frau? Gemeint ist wahrscheinlich die Marquise du Deffand, die 1753 erblindete Sie haben Ihre beiden Augen verloren, die ich einst vor dreißig Jahren so schön gesehen habe. Aber Sie haben noch Freunde, Geist, Phantasie, einen guten Magen. Ich bin viel älter als Sie, ich verdaue nicht, ich werde taub. Der Juraschnee macht mich blind. Das ist ziemlich abscheulich. Ich habe hier in Ferney Ferney – hier an der Schweizer Grenze hatte Voltaire sein Landgut eine Kolonie gegründet. Mitten in meinen Unternehmungen nimmt mir der Abbé Terrai [der Finanzminister] 200.000 Franken. Das ist eine Verlegenheit für einen Papierschmierer, wie ich die Ehre habe es zu sein, Und doch werde ich mich nicht umbringen. Die Philosophie ist zu etwas gut; sie tröstet.

Es gibt – vielleicht – einen ziemlich angenehmen Zustand in der Welt, das ist der eines Dummkopfes. Aber ich kann Ihnen diese Existenzweise nicht vorschlagen. Es ist komisch, daß kein Wesen von Geist ein Glück möchte, das auf Dummheit gegründet ist, und doch ist klar, daß man dabei einen guten Tausch machen würde. Ich kann das nicht leiden, wenn Sie sagen, je mehr man denke, um so unglücklicher werde man. Das ist wahr für Leute, die schlecht denken; die sind zu beklagen, weil sie krank an der Seele sind, und jede Krankheit ist ein trauriger Zustand. Aber Sie, deren Seele so kerngesund ist, fühlen Sie doch, was Sie der Natur schuldig sind! Ist denn das gar nichts, von den unglücklichen Vorurteilen geheilt sein, welche die meisten Menschen, besonders die Frauen, an der Kette halten? Seine Seele nicht einem Scharlatan ausliefern, sein Wesen nicht durch Gefühle der Angst und des Aberglaubens entehren, wie sie eines denkenden Wesens unwürdig sind, in einer Unabhängigkeit sein, die frei macht von der Notwendigkeit des Heuchelns?

Das Wort glücklich scheint mir bloß für Romane zu passen. Es ist mein heißester Wunsch, daß das Wort für Sie zuträfe. Sie sagen, Sie möchten sich gerne darauf beschränken, zu vegetieren. Das ist gerade, wie wenn Sie sagten, Sie möchten sich gerne langweilen. Die Langeweile ist das Allerschlimmste. Die Annehmlichkeiten eines Freundeskreises, auf den man sich verlassen kann, sind ein ebenso reelles Vergnügen, wie ein Rendezvous in der Jugend. Essen Sie gut, pflegen Sie Ihre Gesundheit, machen Sie sich die Freude, daß Sie manchmal Ihre Gedanken diktieren, um das, was Sie gestern dachten, mit dem zu vergleichen, was Sie heute denken; dann haben Sie zwei der größten Freuden, die man sich denken kann: Sie leben mit der besten Gesellschaft von Paris und Sie leben mit sich selbst.


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