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Epilog

Die Zitadelle der Festung Glatz erhob sich wie eine Burg aus Ringmauern und umkreisenden Wällen auf dem Bergbuckel, an dessen Fuß das Städtchen des gleichen Namens sich duckt. Weit sieht man von hier oben über die ganze Grafschaft – armes Land, Weber und Glasbläser, Hunger auf den Gesichtern, Kinder, die selbst im harten Winter nicht Strümpfe tragen – bis hin zu den Glatzer Bergen. Blau und duftig, im Sommer mit dunkelnden Wäldermassen, im Winter schneeweiß und lange, lange noch Eis- und Schneelasten tragend, während es anderwärts schon anfängt zu blühen, bauen sie dem Blick eine Grenze.

Der Blick der Ursinus suchte oft diese Grenze. Wie lange war sie nun schon hier oben? Sie zählte nicht mehr. Jahre, viele Jahre. Ihr zur Seite, eine freiwillige Gefangene, die treue Zéphire. Man hatte eingewilligt, ihr diese unbescholtene und an keinerlei Umtriebe denkende, harmlose Person als Gesellschafterin und zugleich als Wärterin, die für sie haftete, zu lassen. Es war eine besondere Vergünstigung. Und andere Vergünstigungen wurden ihr nach und nach auch noch zuteil. Den Steinboden ihrer Zelle deckte ein Teppich, sie hatte sich aus ihrem früheren Haushalt einiges kommen lassen dürfen. Über ihrem schmalen Bett, mit härener Decke gedeckt, hing das Abendmahl von Leonardo da Vinci, eines der letzten Geschenke ihres verstorbenen Gatten; oft sandte sie einen Blick hinauf, der den Judas nachdenklich streifte, dann aber mit frommer Inbrunst auf dem milden Antlitz des Christus verweilte. Unter der mit ein wenig Glas verwahrten Schießscharte stand im vorgebauten Winkel der dicken Mauer ihr Schreibtisch aus der Französischen Straße. Daran schrieb sie jetzt und rechnete und verwaltete von hier aus – ein vorsichtiger Geschäftsmann und umsichtig wie ein juristisch geschulter Anwalt – ihr beträchtliches Vermögen. Hier empfing sie die Bittschriften, die die Armen des Städtchens, zu denen Zéphire, von ihr gesandt, gabenspendend hinabstieg, an sie richteten. Ihr Prozeß und weswegen sie hier, ihrer Freiheit beraubt, saß, war vergessen. Berlin, das sich über den Skandal Ursinus so fieberhaft erregt hatte, die ganze Mitwelt, die daran teilgenommen, hatten sie vergessen. Ob sie selber auch ganz vergessen hatte? Das wußte selbst Zéphire nicht.

Nur ein einziges Mal, da beide Frauen in einer stillen Stunde, als die Arbeit der Sträflinge aufgehört hatte, ihr Kettengerassel, das Poltern ihrer Karren, das Schurren ihrer Spaten, die rauhe Stimme des Aufsehers verstummt waren, schien sie daran zu denken. Die Sonne lohte noch, dann fiel sie plötzlich, unerwartet rasch sinkend, hinter die Berge. »Wie ich, wie ich«, sagte die Ursinus. Und dann, sich zur Gefährtin wendend, mit einem hastigen Geflüster, das Zéphire ängstlich erschien: »Glaubst du an eine Wiedervergeltung nach dem Tode?«

»Ich glaube daran«, sagte Zéphire überzeugt. Aber als sie die Augen der anderen sah, setzte sie rasch hinzu, liebevoll die umschlingend: »Du, Geliebte, brauchst sie ja nicht zu scheuen. Du bist ein Engel!«

Einen »Engel« nannte sie nicht nur die treue Zéphire. Auch die Armen im Städtchen nannten sie so. Und noch manche andere. An dem Schreibtisch unter der Schießscharte der dicken Mauer hatte die Ursinus ihr Testament aufgesetzt und in diesem unter vielen anderen Legaten, die sie für wohltätige Zwecke bestimmte, dem Verein »zur Besserung der Strafgefangenen« eine Summe von fünftausend Talern vermacht. Und hinzugeschrieben:

»Da ich fünfundzwanzig Jahre hindurch Gelegenheit hatte, zu bemerken, wie nötig dieser Verein ist, um diese einzelnen, mehr verirrten als verderbten Individuen zu retten.«

*

Als die verwitwete Geheimrätin Ursinus, geborene von Weiß, nach dreißigjähriger Haft im Sarge lag, so, wie sie es genau vorgeschrieben hatte, in schwarzseidenem Kleid, ein weißes Spitzenhäubchen mit blaßblauen Bändern auf dem noch reichen Haar, die Hände, an denen zwei Trauringe und ein Ring mit weißer Perle glänzten, gefaltet, weinte nicht nur die treue Zéphire.

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