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In Spandau war ein fünftes Kind geboren, ein recht kräftiges. Sämtliche Stuben der Haukes hallten wider von seinem ungebührlichen Geschrei. Aber die Mutter war schwach, die fünf Geburten so bald hintereinander hatten die Frau erschöpft, welk und müde lag sie noch wochenlang in den Kissen. Charlotte weinte, als sie die Schwester zum erstenmal wiedersah. Aber es waren nicht Tränen des Mitleids, es waren Tränen unterdrückter Wut. Wenn der Schwager Jettchen wahrhaft liebte, würden nicht so viele Schreihälse deren Kräfte verbrauchen. Aber konnte der überhaupt wahrhaft lieben? Sie möchte es wohl einmal versuchen, ihn auf die Probe stellen.
Sie war jetzt alt genug, um genau zu wissen, wie man das macht. Sie war so weich und schmiegsam zu ihm, daß ihre frische Schönheit, die neben der ermüdeten Schwester doppelt wirkte, alle Rücksicht und alle Vorsicht in ihm schweigen ließ. Durch ihre Blicke, die ihm nicht gleichgültig schienen, kühn gemacht, hoffte er: hatte sie sich anders besonnen? Sie wich ihm nicht mehr aus – ja, sie liebte ihn! Aber wenn er dann, zu einer Begierde entfacht, die er nicht mehr zu zügeln vermochte, ihr von Liebe sprach, von einer Liebe, die ihn, wie er in einem maßlosen Sichvergessen stammelnd sagte, dazu bringen könnte, Frau und Kinder zu verlassen, brauchte sie nur zu sagen: »Und deine Stellung? Was werden sie hier in Spandau sagen, wenn du als Hofrat –« und schon war er ernüchtert, alles Blut wich aus seinem Gesicht. Dann lachte sie ihn aus mit einem hellen, spitzen, fast schneidenden Lachen. Mit Augen, die böse funkelten, sah sie ihn an und drehte ihm mit einer Gebärde den Rücken, die er sich ebensogut als beleidigte Eitelkeit wie als schmerzliche Enttäuschung auslegen konnte. Jeder dritte aber hätte Verachtung darin gesehen.
Und doch, ganz gleichgültig war er Charlotte trotz alledem nicht. Er war ein schöner Mann und von einnehmendem Wesen, Jettchen hatte sich, wie sie selber der Schwester erzählte, damals ja auch gleich so in ihn verliebt, daß sie, vor Angst, er möchte sich zurückziehen, sofort bereit war, ihren katholischen Glauben aufzugeben und ihm jedes Zugeständnis zu machen. Ach, Jettchen! Mit einer geringschätzigen Gebärde zuckte Charlotte die Achseln. Wie war eigentlich Jettchen in die Familie von Weiß geraten? Von der Mutter hatte sie keine Spur, und unähnlichere Schwestern, als sie beide waren, konnte man sich auch nicht denken. Blieb nur der Vater übrig – ja, viel eigenen Willen hatte der Papa auch nicht, er ließ sich völlig von der Mutter bestimmen, obwohl sie nicht herzlich miteinander waren. Warum war er so schwach ihr gegenüber? Weil jeder Mann im Grunde das tut, was seine Frau will – sofern sie eine kluge Frau ist. Das sagte sich die kaum Erwachsene mit einem sicheren Instinkt. – –
Charlotte war nun eingeführt in die Gesellschaft von Spandau. Man ahmte genau das Treiben von Berlin nach; wie in der Hauptstadt, so war auch hier rege Geselligkeit: Kahnfahrten, Picknicks, Schäferspiele und venezianische Nächte in den den äußeren Fortifikationen zu gelegenen Gärten der Festung. Im Winter Schlittenfahrten, Bälle und Redouten. Da man, wenn man einen Theaterabend genießen wollte, nach Berlin hätte fahren müssen, entweder in die Königliche Italienische Oper, in das Französische Schauspiel oder in das kleine Deutsche Theater zur Döbbelinschen Truppe, was jedesmal mit der Umständlichkeit einer stundenlangen Reise verknüpft war, so spielte man selber Theater. Nicht die Schäferspiele des Sommers waren es, bei denen man sich allerhand Freiheiten erlauben durfte – wer fragte viel nach Etikette auf der lauschigen Waldwiese mitten im großen Spandauer Forst, wo nur das Wild aus dem Versteck der Büsche äugte und bei den sanften Tönen einer melodischen Flöte Hirt und Hirtin mit bebändertem Stab und blumengeschmücktem Schäferhut sich in ländlichem Reigen umschlangen? – jetzt im Winter spielte man ganz ernsthaft Theater. Es waren wirkliche Schauspiele, wie sie gelernte Schauspieler von Berufs wegen im Hinterhaus der Behrenstraße spielten, die man hier schlecht und recht einem sehr beifallsfreudigem Publikum vorführte. Und hierin exzellierte das Fräulein von Weiß.
Wer hätte solch jungem Wesen eine »Emilia Galotti« zugetraut? Wenn das Stück auch nicht großen Beifall fand, die Darstellerin der Emilia fand ihn. Sie starb so sanft und anmutvoll – »eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert« –, daß die Zuschauer in Tränen zerflossen. Die Hofrätin in der vordersten Zuschauerreihe des großen Spandauer Saales, in dem beim Karneval die Redouten stattfanden und der Hanswurst auf der kleinen Bühne seine Purzelbäume schoß, hielt krampfhaft ihr spitzenbesetztes Taschentuch gegen den Mund gepreßt. Sie konnte ein immerwährendes Aufschluchzen nicht unterdrücken. Ihre erschrockenen Augen starrten die Schwester an, fast schämte sie sich: war das wirklich ihre Schwester Lottchen, die eben noch ein Kind gewesen war, auch jetzt zuweilen noch auf ihren Schoß hopste, den Arm um ihren Nacken schlang und ihr allerlei Blödsinn ins Ohr tuschelte? Nein, das war Lottchen nicht mehr, das war eine ganz andere, eine ganz fremde Charlotte, die sie nichts anging, von der sie nichts wußte, deren ach so fernes Wesen ihr fast Angst einflößte.
Als Charlotte, nachdem die Vorstellung beendet war, zu ihr in den Saal herunterkam – schon im Ballkleid, es sollte sich noch ein Tanz anschließen –, wisperte sie erregt: »Leg' andere Schminke auf, diese macht dich so blaß! Die Schatten unter den Augen wisch auch weg – ich kenne dich ja gar nicht mehr!«
Kannte Charlotte sich denn selber? Sie fühlte nur, daß es ihr lag und ihr gefiel, eine andere vorzutäuschen, als die sie wirklich war. Eine andere, vollständig eine andere.
»Die Demoiselle Weiß hätte das Zeug dazu, die größte Schauspielerin des Jahrhunderts zu werden«, hörte sie jemanden enthusiastisch sagen.
»Da sei Gott vor!« Und war das jetzt nicht Kandidat Banges Stimme? Der auch hier?! Sie fühlte, sie allein, ihre Emilia hatte ihn hergelockt, sonst wäre er niemals gekommen, er ging ja nicht in Gesellschaft. Sie hörte ihn weitersprechen (oder hörte sie das nur in ihren Gedanken?) ›Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?‹ – Aber dann ganz laut: »Fräulein von Weiß hat es nicht nötig, Komödiantin zu werden.«
Was sollte das heißen? Betonte er das ›zu werden‹ nicht ganz besonders? Sie vermied es den ganzen Abend, ihm zu begegnen.
An ihres Schwagers Arm wandelte Charlotte durch den Saal, sie war sehr stolz heute, ihres vollen Erfolges bewußt. Und der Hofrat war nicht minder stolz, denn »Gib mir deinen Arm«, hatte Charlotte gesagt, »ich bin zu müde, um zu tanzen.« Aber dann hatte sie doch getanzt. Mit einemmal ließ sie ihn stehen, war mit einem Herrn von Revell im nahe sich umschlingenden Rundtanz davongeschwebt. Ein junger Offizier, der hier in Garnison lag, arm wie eine Kirchenmaus, weiter nichts an ihm, nur daß er gut tanzte. Ein schönes Paar, schlank, fast gleich groß, und jung, so jung! An dem Hofrat nagte Eifersucht.
»Wir gehen jetzt«, sagte er zu seiner Frau, die er in einem Kreis schon älterer Damen fand; sie unterhielten sich über Kinder und Dienstboten.
»Wir müssen noch auf Lotten warten«, sagte sie, »wenn sie doch noch tanzt!«
»Fällt mir gar nicht ein.« Es klang scharf. »Geh hin, sage ihr, daß sie sich verabschiedet. Es dauert mir zu lange.« – –
Als sie auf dem Heimweg waren – fahren konnte man in Spandau nicht, man ging zu Fuß –, schritt die Hofrätin mit ein paar Bekannten voraus, hinterher gingen der Hofrat und seine Schwägerin. Der Mond war halb, er warf erst ein bleiches, zitterndes Licht auf der verödeten Straßen. Ein paar Betrunkene wankten, um eine Ecke drückte sich ein Frauenzimmer, das, als es die Herren in Gesellschaft von Damen sah, die Hoffnung aufgab. Eisig klirrte der Frost. Es war so kalt, daß die Havel zugefroren war, auch alle Kanäle und die mit Wasser gefüllten Wallgräben hatten eine Eisdecke – schwarzes Eis –, der Mond konnte sie nicht erhellen. Charlotte schauderte, sie hatte gehört, daß in der Festung Gefangene lagen, achtzig Fuß tief unter der Erde: wie kalt, o wie kalt mußte es sein, wenn man da gefangen lag!
Der heiße Atem des Schwagers wehte sie an, stand wie ein Rauch in der Nacht. »Warum hast du mit diesem Kerl, mit diesem Revell, getanzt?« zischelte er hinter zusammengebissenen Zähnen.
»Weil er mir gefiel.« Sie sagte es gleichgültig. Wie ein leerer Schall glitt die Stimme des Schwagers ihrem Ohr vorbei; ihre Seele war in der Mondnacht. Sie hatte heute abend Bewunderung geerntet, mehr als Bewunderung, der Herr von Revell hatte ihr gesagt, daß er sie anbete, aber dies bleiche, kalte Licht bezauberte sie weit mehr, verzauberte sie: war sie noch Charlotte von Weiß? Oh, wäre sie doch jener Mondstrahl, so keusch und so kalt, der da vor ihnen her gespenstig über das hartgefrorene Pflaster der Straße lief, nun so nah vor ihnen war, daß man nur zuzufassen brauchte, und man hielt ihn fest in der Hand! Und gleich war er doch wieder weg, schon da drüben, jenseits der Straße im Graben, auf schwarzes Eis einen blanken Schein werfend. Wie solch ein Mondstrahl täuschte! Er war hell und doch nicht hell, schien durchsichtig wie klares Glas und war doch alles andre eher als durchsichtig. Tief duckten sich Schatten, in ihrer Schwärze lauerte etwas, der kalte Strahl, der an sie rührte, ließ sie noch viel dunkler erscheinen.
›Eine unheimliche Nacht‹, hörte Charlotte jemanden sagen. Unheimlich? Eine kalte, unerbittliche, grausame, aber zauberisch-schöne Nacht! Sie zog ihren Mantel fester um sich, an ihren nackten Schultern hatte sie es eisig verspürt, aber sie selber war heiß, das Blut trieb ihr rasch durch die Adern.
Der Schwager drängte sich näher an sie, die Vorangehenden sahen sich nicht um, und sonst war niemand mehr auf der Straße. Er wagte es, sein Gesicht ganz nah an das ihre zu bringen: »Mach mich nicht toll! Du bist eine ganz herzlose, abgefeimte Kokette!«
Sie stieß ihn zurück: »Laß mich!« Mit weit geöffneten Lippen sog sie die Nachtluft ein; sie hatte, erregt vom Schauspiel, ein volles Kelchglas in einem Zug ausgetrunken – Damen nippten sonst nur –, aber doch noch hatte sie Durst, einen ungeheuren Durst, aber nicht nach gewässertem Wein und Limonade, nicht nach Mandelmilch, nicht einmal nach Sekt, nach keinem der Getränke, die einem angeboten wurden im Saal beim Kerzenschein. Sie alle löschten den Durst nicht.
Von überall her, aus den Straßenwinkeln und Häusernischen schienen ihr Geister zu drängen, die auch durstig waren, durstig wie sie; sie fing an zu eilen, der voraufgehenden Schwester und den Bekannten nach, wie um zu fliehen.
»Lauf doch nicht so!« Hauke hielt sie am Mantel zurück; die Gelegenheit dieser einsamen Nacht war zu günstig, er fieberte danach, ihr zu sagen, daß sie, so wie sie sich stelle, ihn quäle – ihn und sich –, er wußte es ja doch, daß sie ihm ungern nur widerstand. Mit diesem Leutnant von Revell hatte sie nur getanzt, um ihn zu reizen. Dafür mußte sie ihm aber jetzt – »einen Kuß geben«, wollte er sagen –, aber schon schlug sie ihn ins Gesicht: »Da hast du ihn!«
Und im gleichen Augenblick rasselnder Trommelwirbel, fern hallende Stimmen, dumpfes Geschrei, Gewehrschüsse, die, die schlafende Nacht erschreckend, knatternd ein langes Echo erweckten. Von der Zitadelle? Alarm?!
Vom Wallgraben her kam das Durcheinandergeschrei. Der Graben war tief und sumpfig, Algen und Wasserlinsen zogen den, der ihn durchschwimmen wollte, in ihre Schlingen, aber jetzt war er zugefroren – sollte ein Häftling über ihn flüchten?!
Ängstlich nach ihrem Gatten rufend, kam die Hofrätin zu ihm zurückgelaufen, sie hing sich zitternd an ihn.
Er sagte unwirsch: »Wozu deine Alteration?«
»Aber wenn sie ihn nun einfangen?!«
»Dann wird er morgen erschossen. Oder kommt in ein noch tieferes Loch. En avant!« Er bot ihr den Arm und ging hastig weiter: in der Tat, es war nicht angenehm, in so etwas hineinzugeraten. Hier war der Graben, womöglich lief der Kerl einem noch in den Weg. Fort, schnell nach Hause! »Komm, Lotte!«
Aber Charlotte blieb stehen: »Geht nur!« Sie rührte sich nicht.
»Lotte, so komm doch!« Jettchen zerrte sie. »Du kannst hier nicht stehenbleiben!«
»Du bist ja wahnsinnig!« schrie der Hofrat. Lotte fing wahrhaftig an, nachgerade zu exzentrisch zu werden. »Jetzt kommst du mit!« Er faßte aufgeregt ihren Arm, sie machte ihren Arm wieder frei.
Und Trommelwirbel und Schüsse. Schüsse ohne sichtbares Ziel ins Dunkel hinein. Und Kommandorufe. Rauh klangen sie durch die Nacht. Wildes Geschrei. Es kam näher. Auf der Zitadelle schien alles erwacht, Lichter huschten. Trompetenstoß, dem einer aus anderer Richtung antwortet – Hundegebell, die Spürhunde sind losgelassen.
»Schnell, schnell!« drängte Hauke. Es war nicht das erstemal, daß entsprungene Sträflinge oder desertierte Soldaten den Bürger anfielen.
Aber Charlotte zögerte immer noch, sie sah sich um, eine unbezähmbare Neugier hatte sie erfaßt: wie sah solch ein Mensch aus, solch ein Verbrecher? Und als hätte ihre Neugier ihn gerufen, so war er auch schon da.
Vom Graben herauf stampfte es, es durchbrach die begrenzende Hecke, im zitternden Mondlicht floh ein Mensch, raste dahin mit keuchendem Atem, die Brust offen, das Sträflingshemd in Fetzen zerrissen. Er läuft, läuft, läuft um sein Leben. Aber hinter ihm läuft auch einer, fast ebenso schnell, der Schnellste der Wachthabenden; Ehrgeiz stachelt ihn an und die Gier, die Belohnung zu erwerben, die ausgesetzt ist für den, der einen entsprungenen Sträfling einfängt. Menschenjagd. Sie keuchen, sie stolpern, sie gleiten aus, ihr Keuchen ist so laut wie das Fauchen eines Blasebalgs. Hinter ihnen Drohrufe, Flüche, Hundegebell, anfeuerndes »Faß ihn«, die ganze Jagdwut entfesselter bestialischer Gelüste.
Vor Charlotte springt ein Mensch aufs Pflaster, zerrissen, zerschunden, verwildert, von Kerkerhaft abgezehrt, aber doch stark noch an Beinen und Armen, seine Brust ist zottig, sein Gesicht zur Fratze verzerrt, sein zur Hälfte geschorener Kopf glänzt wie ein Totenschädel im Mondschein. Er will fliehen – wird er entkommen? Aber hinter ihm streckt sich schon die Hand aus, die Soldatenfaust, die unabschüttelbar ihn packen wird.
An Charlotte saust es vorbei, wie Sturmwind weht es sie an, weht sie fast um – oh, der Arme! – rasch hält sie den Fuß vor, der Verfolger strauchelt darüber, stolpert, fällt, liegt auf dem Pflaster, schimpft und flucht. Der Verfolgte nutzt das. Jetzt hat er schon einen Vorsprung, wie ein Hirsch setzt er weiter in gewaltigen Sprüngen. Da ist das Ende der Straße, ein Weg nach rechts, ein andrer nach links, der Flüchtende biegt nach links ein.
Und der Mond löscht sein Licht hinter Wolken aus. Der Verfolgte ist verschwunden in der Finsternis.
»Dahin«, schreit Charlotte dem Verfolger zu, der sich jetzt aufgerafft hat, »dahin!« Aber sie zeigt nicht nach links, sie zeigt nach rechts.
Jetzt war das ganze Kommando zur Stelle. Hauke und seine Damen wurden umringt und ausgefragt: hatten sie den Entsprungenen gesehen? Hier mußte er gelaufen sein, hier bei ihnen vorbei. Die Soldaten waren nicht höflich, sie schlugen einen Ton an, als seien diese nächtlichen Passanten einer Begünstigung des Flüchtlings schuldig.
Hauke, den seine Frau mit beiden Armen umklammert hielt, halb ohnmächtig vor Schreck, das Gesicht an seiner Brust verbergend, behauptete, daß er nichts gesehen habe, niemanden. Ein Kolbenstoß belehrte ihn, daß man ihm das nicht glaube. Vergebens suchte sein Blick umher: war denn kein Offizier dabei, der ihn kannte? Im Licht der hochgehaltenen Kienfackeln, deren Ruß in großen schwärzenden Flocken niederregnete, sah er lauter Gesichter, die roh waren und wütend über entwischte Beute. »Hofrat, was schert uns ein Hofrat? Komm Er jetzt nur mit zum Verhör. Vielleicht daß Er ihn dann doch gesehen hat!«
»Ich habe ihn gesehen!« Charlotte reckte sich gerade auf. Ihr Gesicht war trotz flackernden Scheins jetzt deutlich zu sehen, einer hielt ihr seine Fackel so nahe vor, daß ihr Haar fast ansengte. Sie stieß die beiseite. Ihr Gesicht war sehr hochmütig: »Lasse Er das! Ich sah einen Menschen laufen – dahin!« Und wie vorher, so wies sie auch jetzt nach rechts.
»Warum hat die Demoiselle das nicht gleich gesagt?« Die grobe Stimme war längst so grob nicht mehr.
»Warum hat Er mich denn nicht gleich gefragt?« Sie lächelte, als sie das sagte, so von oben herab und zugleich so heimlich belustigt, daß der blöde Kerl ganz verblüfft war.
»Ohne Tritt – marsch!« Die Kolonne wendete sich eilig nach rechts. Jetzt sah man sie nicht mehr, hörte nur noch ihr Traben. – – – –
»Was fiel dir ein, die Soldaten so irrezuführen?« herrschte der Schwager Charlotte an, als sie zu Hause waren.
Sie zuckte die Achseln.
»Ich sage, ich habe niemanden gesehen, weil ich mit solchen Sachen mich nicht bemengen will, und du steht neben mir und sagst, du hast ihn gesehen – was soll das heißen?«
Sie zuckte wieder nur stumm die Achseln, ging zur Schwester hin, die noch immer verängstigt dastand, küßte sie und sagte: »Gute Nacht.« –
Ob es ihm wohl gelungen war, zu entkommen? Draußen blieb alles still, kein neuer Alarm. Mitleid, das sie selten weich machte, hatte sich ihrer bemächtigt. Sie dachte, als sie die hohe Treppe zu ihrem Stübchen hinaufstieg, an jenen Menschen, der, verwildert, mit vor Angst und Anstrengung verzerrtem Gesicht an ihr vorbeischoß. Die Kerze, die sie trug, flackerte, sie brannte mit langer Schnuppe, Talg floß nieder und tropfte ihr heiß auf die Finger – Tränen, die nicht abzuwischen waren. Wer mochte um ihn weinen? Eine Mutter? Eine Frau? Eine Schwester? Ein Mädchen, dem er die Ehe versprochen? Sie konnte die Gedanken von ihm nicht losreißen. Der Glanz des Abends, ihr Triumph, die Anbetung des jungen Revell waren verblaßt, sie dachte nur an den Sträfling, an den Verbrecher. Hatte er geplündert, geraubt, gemordet? Er war noch jung, seine Schnelligkeit, die Gewandtheit, mit der seine sehnigen Glieder sich in gewaltigen Sprüngen schnellten, waren ungeheuer. Noch hatten elende Wassersuppen und trockenes Brot nicht all seine Kraft verzehrt – jung, und vielleicht noch zwanzig, dreißig, vierzig Jahre eingesperrt bleiben – fürchterlich!
Sie saß auf dem Schemel an ihrem Bett, sie war todmüde – Theater gespielt, getanzt, sich anbeten lassen, ein langer, langer Abend – und nun fühlte sie plötzlich, daß ihr Fuß sehr schmerzte. Dieser zarte Fuß hier hatte den Verfolger zu Fall gebracht. Sie streckte ihn von sich, zog Schuh und Strumpf ab und sah, daß der Knöchel hoch angeschwollen war, der heftige Stoß des nägelbeschlagenen Soldatenstiefels hatte ihn getroffen. Aber dem Verfolgten hatte sie dadurch geholfen. Wo war der jetzt?! Irrte er noch in der eisigen Nacht und suchte ein Obdach?! Mitternacht war schon längst vorbei, sie hörte die Turmuhr schlagen: schon zwei! Ihre Kerze war niedergebrannt, ihre Kräfte waren auch zu Ende – ach, und wie sehr heftig der Fuß schmerzte! Wer würde zu dem Armen barmherzig sein? Wer war barmherzig? Niemand. Es gibt keine Barmherzigkeit, denn keiner versteht den anderen, denn niemand weiß, was in der Brust des anderen vorgeht. Von anderen nicht gekannt, verdammt, geht man zugrunde.
Sie seufzte tief, und dann falteten sich ihre Hände. Wird eine gutmütige Bäuerin, wenn er an ihre verschlafene Hütte klopft, ihm die Tür des Stalles öffnen, daß er unterkriecht beim Vieh? Oder wird er ein gefälliges Mädchen finden, daß ihn bei sich versteckt? Vielleicht hatte er Glück. Und wenn er das nicht hatte? Daß Gott sich seiner erbarme!
*
Die Demoiselle Weiß war unpäßlich, der Leutnant von Revell hörte es mit Bedauern, als er andern Tags seine Aufwartung machen wollte und sich erkundigen, wie den Damen das Fest bekommen sei.
»Du nimmst ihn nicht an«, fuhr Hauke seine Frau an, »jetzt nicht, und überhaupt nicht. Eine Unverschämtheit von dem jungen Laffen, sich unaufgefordert in ein Haus zu drängen«
»Unaufgefordert nicht. Ich glaube, Lottchen hat ihn aufgefordert«, gestand Jettchen kleinlaut.
»Was, Lotte? Unmöglich! So etwas tut sie nicht.«
»Wie soll sie sich denn aber verheiraten«, wagte die Hofrätin schüchtern zu sagen, »wenn sie einem jungen Mann nicht ein bißchen entgegenkommt? Lotte muß doch heiraten. Hat Revell nicht Vermögen?«
»Keinen Pfennig.« Der Hofrat machte unsanft die Tür des Zimmers hinter sich zu und stieg die Treppe zur Stube seiner Schwägerin hinauf. Er wartete auf sein Klopfen das »Entrez!« nicht erst ab, sondern trat gleich ein. »Du warst zwar gestern abend so unartig, daß es eigentlich viel zuviel Güte von mir ist, dich aufzusuchen. Aber ich höre, es geht dir nicht gut. Soll ich nach dem Heim schicken?«
»Ich bitte darum«, sagte sie ebenso höflich. Sie machte sich gerade Umschläge auf den schmerzenden Knöchel, der Mann sah diesen nackten Fuß, der so zart war, daß unter der schneeigen Haut das blaue Geäder durchschimmerte, und der Ton, den fortab beizubehalten er sich gestern in dem ersten Ärger geschworen hatte, ein gemessener, leicht tadelnder Ton, war im Augenblick geschwunden. Wie sie so dasaß, das Füßchen auf einen Schemel hochgelegt, die Hände, von denen die Ärmel des Negligés weit zurückgefallen waren, in dem Wasser des Beckens, das sie auf dem Schoß hielt, erschien sie ihm matt und hilflos. Mit einem hastigen Schritt war er neben ihr.
Sie bemerkte seine Hast und senkte so rasch ihr Gesicht, daß der Kuß, der ihren Mund treffen sollte, nur die Haarlocke über ihrer Stirn berührte. Sie schien diese Berührung gar nicht bemerkt zu haben. Mit einem harmlos freundlichen Lächeln sah sie zu dem Schwager auf: »Es ist sehr lieb von dir, daß du den Arzt holen lassen willst.«
»Wo hast du dir das bloß zugezogen?« Er faßte mit unruhig tastenden Fingern an den geschwollenen Knöchel.
»Au!« Sie zuckte unwillig, aber sie zwang sich wieder, freundlich zu scheinen. »Ich bin ein rechter Pechvogel. Als ich heute nacht so müde war, trat ich auf der Schwelle da fehl, der Fuß knickte mir so um, daß ich hinfiel.«
»Hättest du doch gerufen! Man hätte dir sofort Kompressen gemacht.«
»Danke. Ich wollte niemanden stören. Es war auch anfänglich nicht so schlimm.« – –
Also dieses Mal waren es keine Launen und auch keine hysterischen Krisen? Doktor Heim hatte seine Patientin gut im Gedächtnis behalten – er behielt alle seine Patienten so gut, wenn er sie auch noch länger nicht gesehen hatte, und sie nicht so hübsch waren wie das Fräulein von Weiß. Sie gefiel ihm heute besser als damals. Kein Getue. Und ganz tapfer war sie auch, als er ihr den Fuß einrenkte, der aus dem Gelenk gesprungen war und einen Bluterguß hatte. »Tat das weh?« fragte er mit seinem sarkastischen und doch guten Lächeln.
»Ein bißchen.« Sie lächelte mühsam; es hatte weh, sogar zum Schreien weh getan, aber sie hielt an sich. Sie kam sich wie eine Märtyrerin vor. Und der Doktor würde doch auch erzählen, welche Tapferkeit sie gezeigt hatte, die schmerzhafte Einrenkung ohne Laut zu ertragen. Sie war der Bewunderung sicher.
»Brav, brav«, sagte Heim und strich ihr übers Haar.
»Warum behandeln Sie mich noch wie ein Kind?« fragte sie und sah ihn von unten herauf ein bißchen schielend an, und doch so verführerisch schmollend, daß ihm, dem Ehrenfesten, obgleich sein Herz schon anderweitig gefesselt war, das Blut doch klopfte. Es machte ihn ordentlich verlegen. Er vermied die Antwort auf solche Frage. Verfiel diese reizende Person schon wieder in ihr früheres Getue? Schade! Aber Künstelei war leider jetzt so in der Mode. Wahrhaftig, da war ihm ein gemeines, ehrliches Bauernmensch, das sich nicht anders gab, als es war, eigentlich doch lieber, jedenfalls bequemer. Selbst die Ebel, das Fischerweib, das jetzt alle Gemüter hier beschäftigte, konnte, trotz ihrer Missetat, auf mehr Sympathie bei ihm rechnen als eine moderne Dame mit verlogenem Getue.
Als das schöne Fräulein von Weiß jetzt die Hand nach ihm ausstreckte, ihn auf den Stuhl neben sich niederziehen wollte und mit ihrem schmachtendsten Lächeln bat: »Sie bleiben doch noch ein wenig, Herr Doktor? Sie sind so nett. Und ich langweile mich so«, sagte er ziemlich brüsk: »Langeweile ist sehr gesund.« Und empfahl sich. Das sollte ihm fehlen, daß er diesem verwöhnten Dämchen die Zeit vertriebe!
»Ich habe doch arge Schmerzen«, klagte sie und rief noch hinter ihm drein: »was soll ich dagegen machen, werter Herr Doktor?«
»Umschläge, Umschläge, Umschläge.« Und damit machte er die Tür hinter sich zu.
Wie unverbindlich dieser Mann war! Eigentlich nur ein Bauerndoktor. Mochte er denn zu seinen Bauern reiten, auf dem großen braunen Teufel von Pferd, das, wie man sich erzählte, kein anderer reiten konnte als der Doktor Heim. Unter ihm ging es aber vorzüglich, Schritt, Trab, Galopp auf den leisesten Druck. Halbe Tage dauernde Ritte waren es, die der Doktor wegen seiner weit draußen in Heide und Moor entlegen wohnenden Patienten machen mußte. Das imponierte Charlotte wieder: er war doch ein ganzer Mann. Und nun fand sie sich dumm, daß sie auch ihm nicht erzählt hatte, wie sie zu ihrem verletzten Fuß gekommen war; da hätte sie ihm imponiert. Aber auch daß sie nicht nach dem Flüchtling gefragt hatte, bedauerte sie, Heim hätte gewiß gewußt, ob man den Menschen wieder eingebracht hatte oder ob es ihm gelungen war, wirklich zu entkommen. Ein gewisses Mitgefühl und noch stärker die Neugier plagten sie. –
Neugier plagte ganz Spandau. Nun waren es schon Tage her: wo war der tollkühne Kerl geblieben? Ein früherer Soldat, der wegen Insubordination zu zwanzigjährigem Kerker verurteilt worden war. Noch immer war er nicht eingebracht, und er konnte doch unmöglich weit gekommen sein. Patrouillen durchschweiften ständig die ganze Gegend, bei den Bauern und in den entlegensten Waldhütten wurde Haussuchung gehalten; ein ganzes Aufgebot von Förstern, Grenzjägern, Gendarmen war auf den Beinen. Auch war ein Preis auf den Kopf des Entflohenen gesetzt. Und das Volk war arm –, wer würde sich den nicht gern verdienen wollen? –
Charlotte dachte nicht mehr an den Flüchtling – auch ihr Fuß war keine Erinnerung mehr an ihn –, da kam der Hofrat eines Tages in das Zimmer, in dem die Schwestern mit dem Mittagessen auf ihn warteten. »Nun haben sie ihn! Im Spandauer Forst, in einem hohlen Baum hat er gesteckt.«
»Tot – lebendig?«
»Natürlich tot. Bei solcher Winterkälte hält selbst ein Bär es nicht lange aus. Dazu ohne Futter und ohne Pelz« – der Hofrat lachte –, »er war ja nur im zerfetzten Sträflingskittel.«
»Schrecklich, schrecklich!« Die Hofrätin hielt sich die Augen zu. »Ich sehe ihn vor mir – ach, schrecklich, schrecklich!«
»Schrecklich«, sagte auch Charlotte. Aber sie hielt sich nicht die Augen zu, sie richtete sie weit geöffnet auf Hauke. Sie hätte dem Schwager die Worte herausziehen mögen. »Ob er verhungert ist?«
»Das wohl auch. Aber bestimmt erfroren.«
»Wie sah er aus? Erzähle doch!« Für Charlottes Ungeduld schilderte der Schwager lange nicht rasch und lebendig genug.
»Er stand aufrecht im Baum, er füllte die ganze Höhlung aus, selber ein Baum, so groß und stark. Aber steifgefroren, Eis geworden, man konnte ihn nicht bewegen. Und –«
»Hör' doch auf«, rief die Hofrätin und hielt sich die Ohren zu.
»Und – und?« Charlotte klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf: Jettchen sollte sich nur nicht so haben. »Und – also und –?!«
»Und die Füchse müssen ihn angefressen haben, so lange sein Fleisch noch Fleisch war. Vielleicht hat es auch ein Wolf getan. Seine Beine waren zerfleischt, von seinen Fingern waren ein paar abgebissen. Seine Nase war auch weg.«
»Oh –!« Die Hofrätin seufzte zittrig.
Charlotte seufzte nicht. Von dem Mitleid, das sie mit dem Fliehenden, Gehetzten gehabt hatte, und von den anderen Regungen, die sich diesem Mitleid verbanden, war jetzt nicht mehr viel in ihr, nur Neugier, eine grauenvolle Neugier, die zur Wollust wurde. Sie hielt ihre Hände in die Falten ihres Kleides verkrampft, beugte sich weit vor und hing mit ihren Blicken an dem Erzähler, als wollte sie ihm noch weiteres, noch Schrecklicheres von den Lippen ziehen. Ihre Gesichtfarbe, die rasch wechselte in Blaß und Rosenrot, von einem fliegenden zarten Erröten so leicht überhaucht wurde, war jetzt sehr bleich. Sie atmete rasch und erregt.
»Die Schilderung dieses grausigen Anblicks scheint Lotten angenehmer aufzuregen als eine Liebeserklärung«, sagte spöttisch der Hofrat. Es tat ihm wohl, der ihn sooft Quälenden auch einmal einen Hieb versetzen zu können.
»Wenn du das meinst, wird es wohl so sein«, sagte sie spöttisch. Und dann: »Jettchen, wir wollen jetzt endlich essen. Ich habe Hunger.«