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Neuntes Kapitel

Aber der Hofrat bekam es doch zu wissen. Wie und durch wen, das erfuhr Charlotte nicht. Und nun war ihres Bleibens in Spandau nicht mehr. Die Eltern drängten darauf, daß sie nach Hause zurückkehre. ›Du bist nun lange genug fort gewesen‹, schrieb die Mutter, ›daß Deine Erziehung vollendet sein kann. Was Du jetzt nicht gelernt hast, wirst Du nie lernen. Also wir erwarten Dich mit der ersten Post, nachdem Du diesen Brief erhalten hast. Dein väterlich besorgter Schwager Hauke schreibt mir, daß Du eine unvernünftige, ganz ungehörige Liaison angeknüpft habest, ich weiß nicht, von wem Du soviel Unvernunft hast. Von mir nicht.‹

Auch der Vater hatte geschrieben und verlangte ihre unverzügliche Rückkehr. Seine Zeilen waren strenger, als er sich je sonst einen Ton gegen sein Töchterchen erlaubt hatte.

Das hatte die Mutter ihm eingeblasen, er mußte so schreiben! Mit vor Zorn glühenden Augen sah Charlotte auf das Briefblatt nieder, zerknitterte es und schleuderte es dann zur Erde. Ihr Fuß trat darauf. Das würde sie dem Schwager heimzahlen, ihm, ihm allein hatte sie es zu verdanken, daß sie jetzt fort mußte, jetzt wo es am schönsten war! Revell, der ihrem Herzen bisher ferngeblieben war, erschien ihr jetzt als das einzige, was das Leben lebenswert machte, als der, den sie liebte und ewig lieben würde. Sie hing an seinem Halse, nicht achtend, ob jemand sie belauschte, rücksichtslos ihren Ruf preisgebend: »Ich liebe dich, ich liebe dich!« Gestammelte Worte, heiße Tränen.

Ihm wurde bange bei ihrer Leidenschaft. Nein, das hatte er nicht gewollt, daß sie sich kompromittierte, sie kompromittierte ihn ja mit, es konnte ihm im Avancement schaden, ihm womöglich die Karriere ruinieren. So schön und so begehrenswert sie gewesen war, gerade durch ihre Kühle, jetzt war sie beängstigend. Er streichelte ihre glühendgeweinten Wangen und sah sich dabei scheu um. Ja, ja, es war bitter, daß sie sich trennen mußten – auf Ehre, er hatte noch nie ein Weib so heiß geliebt – aber sie würden sich ja wiedersehen. »Zwei treuliebende Herzen wie die unsrigen sind nicht zu trennen!«

Da lachte sie laut auf, mitten aus ihren Tränen heraus: ach, das glaubte er ja wohl selber nicht.

Ihre scharfsichtige Feinfühligkeit machte ihn fast verlegen: woher wußte sie es, daß er gestern abend schon nach einer neuen Liebe Umschau gehalten hatte? Von ›ewiger Liebe‹ dichten ja nur die Dichter – er war kein Dichter. Aber er gab sich Mühe, jetzt, da der Abschied so nahe war, doppelt feurig zu erscheinen. –

Es war ein glühender Abschied, ein hundertmaliges Abschiednehmen an diesem letzten Abend, an dem sie sich trafen. Es war Charlotte noch einmal gelungen, im Dämmern aus dem Haus zu entkommen, obgleich der Schwager aufpaßte. Die Nähmamsell, die oben neben ihrer Stube heute nähte, war ihr willfährig, sie gab ihr zehn gute Groschen, ihr letztes Taschengeld, dafür lieh die ihr ihre Haube und ihren Mantel, und darin vermummt ging sie dreist zum Hause hinaus. Morgen mußte sie ja fort.

Wenn es nur nicht so kalt und düster auf der Wallpromenade gewesen wäre! Nun fing es gar an zu schneien. Wo waren die Frühlingsahnungen hin, die den Fink zum Singen getrieben hatten? Vor Wochen schon hatte die Weite beglänzt im Sonnenlicht gelegen und ein lächelnder Himmel den See überblaut hatte – jetzt war es noch einmal Winter geworden. Revell hatte seinen Mantel um Charlotte geschlagen, darunter lag ihr sich neigender Kopf an seiner Brust. Törichte Worte der Leidenschaft, leidenschaftliche Worte des Hasses stiegen herauf an sein Ohr. Oh, er möchte jetzt nicht in des Hofrats Haut stecken, es war nicht gescheit von dem gewesen, daß er sie an die Eltern verraten hatte. Ein ganz rabiates Frauenzimmer! Er fühlte sich einigermaßen erleichtert, als es endlich der letzte Abschiedskuß war. Mit einem »Lebe wohl!«, das wie ein greller Aufschrei klang, hatte sie sich von ihm losgerissen und war davongestürzt.

Am Abend gab es bei den Haukes noch eine heftige Szene. Hauke war doch dahintergekommen, daß Charlotte das Haus verlassen hatte; wohin war diese Dirne in Haube und Mantel der Nähmamsell gerannt? Natürlich, um sich mit dem Zigeuner zu treffen! Die eingeschüchterte Näherin hatte alles verraten. Und doch hätte er dieser ›Dirne‹ gern Hände und Füße geküßt und hätte sie ›Engel‹ genannt, hätte er derjenige sein dürfen, den sie heimlich traf. Nun sie nach Hause kam, noch glühend von Küssen und Tränen, faßte er sie gleich an der Tür ab. Sie widersetzte sich, aber er zerrte sie in die Stube, wo Jettchen saß und zitterte. Es bangte ihr um die Schwester. Hauke hielt Lotten so fest gepackt, als wäre sie eine Verbrecherin. Die arme Lotte, es mußte ihr doch schwer sein, von dem Geliebten zu scheiden, sie sah so verweint aus.

»Wo bist du gewesen?« schrie Hauke und schüttelte das Mädchen, »natürlich wieder bei dem Revell, diesem Lumpen, diesem Windhund, diesem Betrüger, diesem Mädchenjäger, diesem Spieler und Schuldenmacher, diesem ganz und gar nichtsnutzigen –«

»Schweig!« Charlotte begehrte auf. »Er ist immerhin mehr als du. Was bist du denn? Laß mich los!« Sie machte ihren Arm frei, und nun schrie sie ihm ins Gesicht: »Bist du kein Mädchenjäger, bist du kein Betrüger? An mir hast du dich vergreifen wollen, als ich fast noch ein Kind war. Nachgestellt hast du mir bei Tag und bei Nacht, jede Stunde, jede Minute, ich konnte mich kaum Deiner erwehren. Deine Frau hast du –«

»Du Lügnerin, willst du wohl schweigen!« Er hob die Hand, er wollte sie schlagen, da warf sich die Frau dazwischen. Das Blut der Familie empörte sich nun doch in ihr. »Du sollst sie nicht schlagen, du darfst sie nicht schlagen! Lotte, was hat er getan – dir nachgestellt, bei Tag und bei Nacht, sagst du? Und mich, mich« – sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus –, »mich so betrogen!«

»Es ist nicht wahr! Alles erlogen!« Hauke war bleich vor Angst und vor Zorn.

»Es ist doch wahr!« Charlotte war auch bleich, aber sie triumphierte. Es war ein großer, ein höhnischer Triumph, in dem sie sich gegen den Schwager wandte: »Du hast mich verraten, jetzt verrate ich dich!« Und sich zur Schwester wendend, sagte sie dann weicher: »Armes Jettchen, paß gut auf ihn auf. Er ist so treu wie ein Kater, der im Mondschein über die Dächer schleicht und nach allen Katzen miaut. Bei mir hat er freilich kein Glück gehabt –« sie machte eine Gebärde des Abscheus –, »bei andern könnte er's haben.« – – – –

Als am andern Morgen das Fräulein von Weiß in die Postkutsche stieg, hätte der Leutnant von Revell ruhig zugegen sein können, es begleitete sie niemand bei der Abreise. Auch im Hause nahm keiner Notiz von ihr, die Kinder schliefen noch, und der Hofrat und die Hofrätin waren nicht zu sehen. Nur ein Zettelchen wurde ihr von der Magd gegeben, darauf war flüchtig gekritzelt und die heimliche Schrift fast von Tränen verlöscht: »Lotte, leb wohl, ich bete für dich.«

Das war von Jettchen wohl gut gemeint, aber dumm war es, dumm wie immer! Charlotte lächelte kalt. Ihr Gemüt war verhärtet, sie empfand nur Trotz: eine Unverschämtheit, sie so zu behandeln. Wie eine niedere Dienstmagd, die Unrecht getan hat, vielleicht gestohlen, so mußte sie dieses Haus verlassen. Und nicht einmal die Zeit hatte man ihr gelassen, um nach Charlottenburg zu fahren, von Tante Christiane noch Abschied zu nehmen. Aber sie würde wieder auftreten, und dann –?!

Gekränkter Stolz half Charlotte über die elende Abreise weg. Sie setzte sich dicht ans Fenster, lehnte den Kopf an die Scheibe und stierte hinaus. Nach was sah sie mit diesen starren, unheimlich großen Blicken? Er konnte vielleicht doch noch kommen, von ferne stehen, und jetzt, wo keiner sonst zugegen war, doch noch zu ihr an den Wagenschlag treten. Sie hatte es heimlich gehofft. Er war nicht gekommen.

Nun saß sie und starrte in ihren Schoß. Man war schon weit von Spandau fort, Stunden waren bereits vergangen, aber Fassung hatte sie noch nicht gewonnen. Träne auf Träne tropfte ihr langsam herab. Mochten die Leute, die mitfuhren, von ihr denken, was sie wollten, sie mußte weinen, denn nun nagte noch Angst an ihr, Angst vor Stendal. Was wartete da auf sie? Nichts, gar nichts. Vielleicht würde es sie dann doch freuen, den Vater wiederzusehen? Aber sie glaubte selber nicht recht daran.

Eine klägliche Rückreise von Spandau, und wie schön war damals die Hinreise gewesen! Sie so voller Erwartung und voller Gier auf das Neue. Und der Reisegefährte, der gute Ursinus, so nett, so voller Aufmerksamkeit für das kleine Mädchen! Ein paar Jahre war das erst her, aber das kleine Mädchen war ein großes geworden, ein Mädchen, noch jung und doch nicht mehr jung, ein Mädchen, das gut sein kann, aber auch böse. Sie fühlte es deutlich, ihre Erbitterung und ihre Enttäuschung machten sie böse. Jedenfalls kein zum Glück geborenes Mädchen. Charlotte verfiel in ein trostloses Brüten; sie quälte ein Gefühl, das sie früher schon flüchtig gestreift hatte, heute beharrlich: es wäre besser, man wäre nicht geboren. Die Schneeflocken, die gestern abend noch auf ihn und auf sie fielen, waren heute Regen geworden, der klatschte gegen das undichte Fenster und sprühte seine Tropfen bis in den Wagen hinein. Es fror sie bis in das Herz. Das wurde eiskalt.

Als Stendal endlich erreicht war, der Mond zog eben herauf, stieg sie leichtfüßig aus dem Wagen. Jetzt hatte sie sich wieder in der Gewalt.

Als hätte keine ungewohnte Strenge sie nach Hause zurückbeordert, so war der Empfang, denn als Frau von Weiß nun ihre hochgewachsene, zu vollster Schönheit entwickelte Tochter sah, war sie so geschmeichelt in ihrer mütterlichen Eitelkeit, daß sie jeden Vorwurf vergaß. Lotte war ja klug, aber sie fühlte sich doch noch klüger: sie würde dieses erlesene Wesen schon glücklich lancieren. So küßte sie ihr Kind auf die Stirn, in die die Locken ein wenig zerzaust hingen: »Wir müssen dich aber besser frisieren, meine Lotte – à la Chinoise würde deine schöne Stirn noch besser zur Geltung bringen.«

»Wie Sie wünschen, Maman!« Charlotte beugte sich ein wenig und küßte die Hand der Mutter. Beide Frauen waren groß, aber die Tochter erschien noch größer als die Mutter – ein anderes Format.

Der Vater hatte nicht mit zur Post kommen können. »Weiß ist unpäßlich«, sagte die Mutter, »er leidet stärker denn je an der Galle. Wenn wir die Mittel dazu hätten, würde er eine Kur in dem berühmten Karlsbad gebrauchen – aber die haben wir ja leider nicht. Du mußt eine gute Partie machen, meine Tochter!«

Ja, das wollte sie auch, damit sie hier fortkam. Charlotte fühlte die Luft des Elternhauses wie eine schwere Beklemmung. Die war ihr sofort auf die Brust gefallen und wurde beklemmender mit jedem Tag. Herr von Weiß, den die Freude des ersten Wiedersehens mit seinem Töchterchen ein wenig aufgemuntert hatte, war bald wieder in seine alte gallige Laune verfallen, und er wälzte sich auch oft ganz plötzlich in Stunden währenden, qualvollen Koliken. Wenn Charlotte ihn so leiden sah, dann bedauerte sie ihn wohl und suchte durch heiße Umschläge, die sie ihm mit großer Pünktlichkeit machte, seine Schmerzen zu lindern. Aber im Grunde dachte sie: wäre es ihm nicht viel besser, Gott erlöste ihn? Was hatte er von einem Leben, das für ihn nur Zurücksetzung und Schmerzen bedeutete?

Wenn die Tochter sich über den Vater beugte und ihm den heißen Umschlag auflegte, dann strich er wohl mit seinen vom Angstschweiß des Anfalls gefeuchteten Fingern über ihre Hand: »Mir ist übel vergolten worden, meine Tochter, was ich andern zum Vorteil tat – aus Idealismus. Krank, verkannt, kaltgestellt in einer meiner längst nicht würdigen Stellung! Oh, mein Wien, mein Wien, hätte ich das doch niemals verlassen!«

Ja, Wien mußte eine schöne Stadt sein. Ob es noch schöner war als Berlin? Jedenfalls schöner als Stendal. O Gott, was war das hier für ein ödes Nest! Und die Menschen? Gräßlich. Kleinbürgerlich, ohne weiteren Blick, beengt in ihren Anschauungen wie in ihren Stuben. Dagegen war Spandau ja fast eine Großstadt gewesen; die Nähe Berlins hatte die Enge der Festung geweitet. Mit einem wahren Heimweh dachte Charlotte dorthin zurück. Selbst der Schwager schien ihr jetzt nicht ganz so verabscheuenswert mehr. Was hatte er denn weiter sehr Schlimmes getan? Ihr nachgestellt, ja – war ihm denn das ganz zu verdenken bei Jettchen als Frau? Die war recht reizlos – nicht äußerlich, sie hatte den Weißschen Typ – aber ihr fehlte jegliches Salz. Und wenn etwas schmecken soll, so bedarf es des Salzes. Hierher nach Stendal hätte Jettchen ganz gut gepaßt, sie hätte sich mit den Rätinnen und mit den anderen Damen der Honoratioren sehr gut unterhalten, über Kinder und Dienstboten flüssig geschwatzt.

Frau von Weiß war in Stendal schon etwas aus dem Rahmen gefallen, die Tochter tat es noch mehr. Die Fräulein ihres Alters zogen sich scheu von ihr zurück: die Demoiselle Weiß war ja ganz unschicklich frei, sie sprach davon, daß sie Theater gespielt hätte, Theater gespielt wie eine Komödiantin! Und »Emilia Galotti«, pfui, ein solch unpassendes Stück! Das las man nur hinter verschlossenen Türen, wenn man es überhaupt las. Man las viel lieber sinnige, minnige Liedlein, bei denen man Ströme von Tränen vergießen konnte.

Charlotte von Weiß lachte über die Gänseblümchen, aber es war ihr doch hart, daß sie in Gesellschaft oftmals vereinsamt stand. Die Mutter hatte sie überall präsentiert, sie wurde eingeladen, aber sie gefiel nicht in Stendal, das fühlte sie. Selbst die Herren bissen nicht so an, wie Frau von Weiß es erwartet hatte, nun korrigierte sie an der Tochter herum: »Sei nicht so hochnäsig, blicke nicht so unnahbar!«

›Als ich anders blickte, war es Euch auch nicht recht‹, dachte Charlotte. Sie sagte es aber nicht – wozu auch? Es tat ihr fast leid, wie die Mutter sich mühte. Ganze Tage saß die mit der Jungfer und nähte. Sie erfanden Roben, die nicht viel kosten durften, die aber ein Dégagé hatten, einen Schick, der viel zeigte und noch viel mehr erraten ließ.

In den Kaffeekränzchen, die sehr in Mode waren, wurden die Toiletten der Demoiselle Weiß eifrig besprochen: hatte man so etwas schon gesehen bei einer sittsamen Jungfrau? Der Ausschnitt der Taille vorn so tief, daß die Schwellung des Busens trotz Busentuchs deutlich zu sehen war! Und beim Gruß begnügte sie sich nur, den Kopf zu neigen, anstatt sich mit den Knien ehrbar herabzusenken und feierlich langsam wieder emporzurichten. Von ihrem Tanzen gar nicht zu reden. Die tanzte ja den neumodischen Walzer! Und so, als wäre gar nichts dabei. Hatte sie denn keine Ahnung davon, wie anstößig solch ein Walzer war? Und sie spielte auch Karten! Auch diese Unsitte jetziger Zeit machte sie mit. Und dieses Mädchen wollte hier einen Mann bekommen?! Niemals.

Es war Charlottes einzige Zerstreuung, Karten zu spielen. Sie spielte noch lieber, als daß sie tanzte. Mit wem sollte sie hier auch tanzen? Die meisten Herren waren steif – Besenstiele –, und die, die gut tanzen konnten, hielten sich doch zurück. Ach, es war etwas anderes gewesen, mit Revell zu walzen! Von seinem Arm eng umschlungen und doch lose gehalten, schwebte man hin wie im Flug die Schwalbe, die den Äther durchstreicht.

Man spielte jetzt viel, überall, sowohl in hohen wie in niederen Kreisen; von Regierungs wegen das Lotto, auf Jahrmärkten Glücksspiele aller Art, in Gesellschaft Tarock, Komet, Piquet, Triset und neuerdings den von England bezogenen schweren Whist. Frau von Weiß, selber eine leidenschaftliche Spielerin – keine Glückslotterie, in die sie nicht setzte, und kaum ein Nachmittag in der Woche, an dem sie nicht ihre Partie gemacht hätte – hatte nichts dawider, daß die Tochter auch Karten spielte. Beim Piquet, beim Triset und erst recht am Whisttisch konnte man einen Mann finden, der neben den körperlichen Vorzügen auch die geistigen Gaben einer Partnerin zu schätzen wußte.

*

Es wurde allgemach Zeit für Lotten mit einer Heirat. Bis jetzt hatte sich freilich noch keine geboten, voller Besorgnis überdachte die Mutter das in mancher schlaflosen Nacht. Sie rechnete nach: mit Dreizehn hatte sie Lotten nach Spandau zur Schwester gegeben, mit Sechzehn war Lotte wiedergekommen, nun ging sie bereits ins Achtzehnte, und noch immer kein Freier! Wer mit Achtzehn sich nicht verheiratet, der heiratet kaum mehr. Heutzutage heiratete man früh – war nicht Jettchen mit Fünfzehn vor den Traualtar getreten? Es gab viele junge Mütter, die selber noch in den Kinderschuhen standen. Ach, woher kam es nur, daß es mit Lotten so schwer hielt?! Das lag ganz allein an Lotten; es konnte nicht anders sein. Dieses schöne Gesicht mit seinen stolzen Zügen und seiner doch so sanften Anmut konnte zuweilen jetzt einen Ausdruck tragen von so viel Gelangweiltheit und Abweisung, daß man es in der Tat keinem Mann verdenken konnte, wenn er sich nicht herantraute. Übrigens, die Liaison in Spandau mit dem Leutnant mußte ihr doch nähergegangen sein, als man es bei einer so klugen Person hätte für möglich halten sollen. Die Mutter klopfte auf den Busch. Sie brachte eines Tages, als Lotte am Fenster saß und mit leeren Augen hinaus auf die leere Straße blickte, das Gespräch auf Spandau: »Jettchen erwartet das sechste Kind, sie scheint doch außerordentlich glücklich mit ihrem Hauke zu leben.«

»O ja«, sagte Lotte.

»Es wäre vielleicht gar nicht ungeschickt, wenn du zu dieser Zeit einmal wieder hinführest – natürlich nur über die Wochen –, Hauke würde dir gern das Reisegeld schicken, wüßte er dann doch seine Kinder währenddes gut versorgt. Du bist ja nun alt genug, um zu wissen, daß der Storch die Kinder nicht einfach aus dem Sumpf bringt.«

»Ich reise nicht hin.« Charlotte sagte das so bestimmt, und ihr Gesicht bekam plötzlich etwas so Eisernes, daß Frau von Weiß sich sofort dachte: aha, da stimmt etwas nicht. Entweder liebt sie den kleinen Leutnant nicht mehr, oder er ist ihr abgesprungen. Wenn sie sich nichts mehr aus ihm machte, so wäre das natürlich das allerbeste, aber warum war sie dann immer so mißgelaunt, so ganz und gar unfroh? Bei einem bißchen mehr Freundlichkeit und Entgegenkommen würde sich auch hier etwas Geeignetes finden.

»Es waren doch schöne Jahre, die du bei Jettchen verbracht hast – die sorglosen Jahre erster Jugend. Es wundert mich eigentlich, daß du so wenig von Spandau sprichst, zumal du doch deine ersten Triumphe dort gefeiert hast. Sei mal aufrichtig, mein Kind, hast du gar keine Sehnsucht dorthin?«

»Keine.« Charlotte schüttelte, unmerklich spöttisch lächelnd, den Kopf: wie ungeschickt von der Mutter, sie auf diese Weise ausfragen zu wollen! Natürlich wollte die gern dahinterkommen, ob sie zu Revell noch in irgendwelchen Beziehungen stand. Äußere wären ja kaum möglich gewesen, denn jeder Brief, der ins Haus kam, wurde bemerkt. Und innere? Es rührte sich etwas in ihr und stieg ihr auf wie eine bittere Übelkeit. Daß er an jenem Morgen der Abreise nicht versucht hatte, sie noch einmal zu sehen, und sei es auch nur von ferne, das hatte sie ihm nicht verziehen. Und versuchen hätte er's doch wenigstens müssen, ihr ein Zeichen seines Gedenkens zukommen zu lassen – er hatte es nicht versucht. »So treuliebende Herzen wie die unsrigen kann man nicht trennen« – eine schöne Phrase! Sie hatte erst bitter darüber gelacht, jetzt lächelte sie nur, und keine Träne kam ihr mehr ins Auge. Auch noch weinen darüber? Wie dumm war sie doch auf ihrer Rückreise gewesen! Noch recht kindisch. Die Sache mit Revell war endgültig für sie abgetan; aber der Mutter das sagen? O nein, mochte die sich immerhin noch ein wenig darüber beunruhigen. Warum hatte man sie auch so unsanft herausgerissen aus einem Leben, das, trotz einiger Widrigkeiten, dem Leben hier tausendmal vorzuziehen war.

Ein tiefer Widerwille stieg oft in Charlotte auf gegen Stendal, gegen das Haus der Eltern, gegen das Leben überhaupt. Wenn solche Stimmung sie überkam, dann rannte sie, wie eine Gefangene im Kerker, in ihrem Zimmer, dem einstigen Schulzimmer, auf und ab. Eisenhörner, Eisenhörner, wie die Sträflinge auf den Wällen, daß sie sich die Stirn nicht an der Mauer einrannte! Sie schlug mit den Innenflächen der Hände an die Wände oder ballte ihre Fäuste und drückte die verzweifelt in ihr Haar. Sie biß ihre Lippen blutig in einem Nagen an ihnen mit spitzen Zähnen, um Schreie zu unterdrücken, die gellend sich Bahn brechen wollten: heraus, heraus hier! Sie mochte hier nicht mehr leben. Und war dieser Paroxismus von Raserei vorüber, warf sie sich völlig erschöpft aufs Bett, wühlte den Kopf ins Kissen und schluchzte herzbrechend. Dann stieg wohl das Bild jener einen in ihrer Erinnerung auf, die ihr hier in ihrer Kindheit so lieb gewesen war – jener guten, treuen Zéphire. Ach, Zéphire, wenn sie die doch wenigstens hätte! Aber auch die war ihr entschwunden. Wohin sie blickte, rund um sie eine Öde, eine sie angähnende, grenzenlose, den Tag zur Ewigkeit dehnende und sie krankmachende Langweile.

Um Charlottes Augen begannen sich tiefe Schatten zu legen, ihr Blick hatte weniger Glanz, häufiges Nasenbluten machte sie matt bis zur Ohnmacht. Der Medizinalrat wurde konsultiert, es war noch derselbe wie damals. Er sagte jetzt nicht mehr »Krisen, die liegen in den Jahren«, aber er betrachtete die schöne Gestalt, die halb entblößt nach der eingehenden Untersuchung vor ihm saß, mit einem ihm selber unbewußten lüsternen Lächeln. Er klopfte dann auf die nackte, schön gerundete Schulter: »Alle Organe in bester Ordnung. Aber die Demoiselle muß heiraten. Die Natur verlangt es.« Er wandte sich an die Mutter, die, verständnisvoll nickend, dabeistand: »Gnädige Frau, heiraten! Dann werden die Symptome der Anämie alsbald verschwinden. Eine andere Medizin kann ich nicht verschreiben.« –

»Heiraten, heiraten«, das war die Melodie, die die Mutter den ganzen Tag pfiff wie ein abgerichteter Star sein Lied. Heiraten! Fast glaubte Charlotte selber daran, daß das sie gesund machen würde, denn dann kam sie hier fort. Aber wen? »Schafft mir einen Mann, der einen Kopf, einen Leib, zwei Beine, zwei Arme und das nötige Geld hat. Ich werde ihn heiraten.«


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