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Achtes Kapitel

Der im hohlen Baum zu Eis gewordene entflohene Sträfling schien das letzte Opfer des Winters gewesen zu sein; der grimmige Frost tat nun so, als ginge er jetzt auf Nimmerwiedersehen. Zu trauen war ihm freilich noch nicht, die Bauern um Spandau in der Niederung, deren Moorflächen sich nachts noch immer glitzernd überkrusteten, hielten die warmdampfenden Ställe noch fest geschlossen und ihre niederen Fensterchen unter dem kaum mannshohen First auch. Tief hingen die altersgedunkelten bemoosten Strohdächer der Tagelöhner und Scharwerker über Menschenleben, die keine anderen Wünsche kannten, als bei Torf und im Forst gesammeltem oder gestohlenem Holz warm zu sitzen, Brot genug zu haben und ab und zu einmal ein Schauspiel zu genießen, das zu jener Zeit noch öffentlich war, damit es abschreckend auf das gemeine Volk wirke.

Der Himmel meinte es gut mit allen, die heute, um solches Schauspiel zu genießen, sich nach Spandau aufmachten. Überall in der Öde noch unbestellter Felder wandernde Landleute im Sonntagsstaat. Der Himmel blaute so hell heute über dieser Öde, als sei es schon wirklich Frühling, und auf dem vom harten Winter gebleichten und gedörrten Gras der Wälle wärmte schon der Sonnenschein. Die Zitadelle mit ihren Kasematten schaute heute nicht gleich finster wie sonst drein, sie blickte fast freundlich auf die Straßen der Stadt, in denen viel mehr Betrieb, mehr Handel und Wandel waren als sonst je. Die Kaufleute hatten die Waren vor ihrer Haustür schön ausgestellt, standen selber dabei und priesen laut an. Die vom Lande kamen, benutzten gleich die Gelegenheit, um Fehlendes heute in der Stadt einzukaufen. Mancher Vater führte seinen Jungen an der Hand, um gegen selbstgesponnenes und -gewebtes Leinen dem ein Sonntagshabit anmessen zu lassen; auch manches Weib tauschte für die jetzt noch sehr seltenen Eier, die sie nicht hätte, hätte sie nicht die Hühner den ganzen Winter bei sich in der Stube gehalten, eine Schürze oder ein Halstuch ein.

Die Fischerfrau Ebel sollte heute hingerichtet werden, Glock zehn auf offenem Marktplatz. Das Gerüst mit dem Hauklotz, auf den die Mörderin den Kopf legen mußte, stand schon da; sehr Neugierige, die es nicht abwarten konnten, hatten sich bereits aufgestellt. Der Büttel trieb sie zwar zurück, es war ja noch viel zu früh, aber sie kamen immer wieder, aus Angst, zu hinterst zu kommen und nicht genug zu sehen. Es würde auch abgesperrt werden, ein Leutnant mit einer Kompanie war dazu kommandiert.

Daß die Tübbeke Ebel, das Fischerweib, die Armseligste von all jenen, die an der Havel Fische fangen und Krebse in den Seen, einmal so viele Menschen auf die Beine bringen würde, hatte sie nicht geahnt. Es hatte sich sonst nie einer um sie gekümmert. Sie wohnte in der niedrigsten Kate am äußersten Wallgraben; es wuchs da nichts als Schierling und Schweinediestel, und so feucht war es dort, daß das Strohdach verfaulte, es stank mit dem Sumpfwasser des Grabens um die Wette. Wenn Prinz Ferdinand, der jetzt das Regiment in Spandau führte, hier vorbeiritt, verfehlte er nie, zu sagen: »Une vue dégoûtante!« Aber das änderte nichts, die Kate blieb stehen. Nun würde sie aber doch wohl bald vom Erdboden verschwinden, schon hatten Buben das Fensterchen eingeworfen, aus der Tür Bretter gebrochen, und der Wind hatte vom Dach abgedeckt, was noch abzudecken dran war. Die Tochter der Ebel, die blöde Grete, saß im Spinnhaus, der Mutter aber machte man den Prozeß.

»Mord«, sagten die Richter. Die Ebel hatte das kleine Kind der Grete, das kaum geboren war, nackt, wie es auf die Welt gekommen, auch nackt ausgesetzt in die dunkle Kammer hinten heraus, wo Nordwinde eisig gegen die baufällige Wand bliesen und jeder Tropfen Feuchtigkeit sogleich gefror. Sie leugnete auch gar nicht; als man sie griff, gestand sie ihre Untat gleich ein. Kann ein Weib solch ein Unmensch sein? War sie bei Sinnen? Oder war sie betrunken gewesen? Keinen Schnaps getrunken. Sie sagte immer nur: »Zu arm, zu arm«, schlug sich an die Brust und wiederholte wieder: »Zu arm.«

Die blöde Tochter war nicht verantwortlich zu machen, mit der Mutter aber war streng ins Gericht zu gehen, mit ihr konnte man kein Mitleid haben. Hätte der Büttel sie nicht geschützt, die Weiber hätten sie gleich auf der Stelle zerrissen. So saß sie nun eingelocht bei Wasser und Brot, ohne Feuer und Licht. Sie saß viele Wochen, denn es galt, durch ärztliche Beobachtung zu erweisen, daß sie zurechnungsfähig sei. Der Kreisphysikus sollte das Gutachten abgeben auf seinen Eid. Niemals war Heim etwas schwerer geworden; Mitleid faßte ihn immer wieder: stand denn dieses Weib nicht auf einer so tiefen Stufe der menschlichen Entwicklung, daß ihm der Mord am Neugeborenen nichts anderes war, als dem Zappeln eines gefangenen Fisches ein Ende zu machen? Und doch war die Ebel zurechnungsfähig. Als ihr bekanntgegeben wurde, daß sie wegen Mordes zum Tode verurteilt war, nahm sie das ruhig auf, aber als sie weiter hörte, daß auf öffentlichem Markte ihre Enthauptung stattfinden sollte, jedermann zum abschreckenden Exempel, schnürte sie sich noch am gleichen Abend die Kehle zu. Sich aufzuhängen, dazu fehlte der Nagel und auch der Strick; aber den Bändel ihres Unterrocks hatte sie sich so fest um den Hals gewickelt, daß sie schon blau war, als man sie röcheln hörte. Der Kreisphysikus mußte sie wieder ins Leben zurückrufen; er hätte es lieber gesehen, sie wäre nicht wieder erwacht.

Auch Gotthold Bange, der jetzt zum Garnisonpfarrer in Spandau ernannt war und nebenbei noch das Amt des Gefängnisgeistlichen versah, mußte zugeben, daß die Angeklagte verantwortlich zu machen sei. Er gab sich viel Mühe mit ihr; nun ihr Leib nicht mehr zu retten war, hätte er gern ihre Seele gerettet, er warb um die, er kämpfte um die mit der Starrköpfigkeit, mit der stumpfen Gleichgültigkeit, die das Fischerweib zeigte. Stumm wie ihre Fische waren, so blieb auch sie. Er sprach zu ihr in Worten, die so warm klangen, von einem so heiligen Pathos getragen waren, daß sie einen Stein hätten bewegen können; wäre eine Gemeinde zugegen gewesen, so wäre die in Tränen zerflossen. Er flehte die Sünderin förmlich an, zu bereuen, damit das Blut Christi sie weißwasche und »dir vergeben werde durch die Gnade unseres Herrn Jesu Christi«. Sie aber schüttelte stumm den Kopf. Wollte sie keine Gnade? – –

Nun, an diesem hellen Tag, ging das finstere Schicksal zu Ende. Aber die meisten dachten nicht daran, wie finster dieses Schicksal war, sie freuten sich, daß die Sonne hell schien und daß sie etwas zu sehen bekamen. Es war wie ein Festtag. Die Bäcker hatten guten Zuspruch, weiße Wecken und zuckerbestreute Fladen wurden viel verlangt, man brachte denen, die zu Hause hatten bleiben müssen, davon mit. An einer Straßenecke stand der wohlbekannte Mann mit dem Stelzfuß, der auf Jahrmärkten die Moritaten mit dem Stock auf der in schreienden Farben bemalten großen Leinwand zeigte; die Moritat war dieses Mal noch nicht in Bildern zu sehen, aber bereits in Reimen zu hören. Er brachte sie einem sich dicht um ihn sammelnden Publikum mit schallender Stimme zu Gehör, bis der Büttel kam und ihn davonjagte.

Heute war keine Magd im Hause zu halten, und keine Herrschaft verwehrte ihr, zuschauen zu gehen. Man machte sich selber ans Kochen. »Es ist ein warnendes Schauspiel und sehr erziehlich«, sagte die Hofrätin. »Man darf keine zurückhalten, sich das anzusehen. Sie wird abgeschreckt.«

»Meinst du?« sagte Charlotte. Sie spürte ein sonderbares Prickeln, bis in die Fingerspitzen ging ihr das. Es mußte etwas sehr Eigentümliches sein, wenn ein Mensch durch Menschenhand zu Tode gebracht wird, etwas Gewaltsames, Schauerliches. Aber sie mochte es doch gerne sehen. Sie scheute sich nur, das zu sagen. Sie konnte sich doch auch unmöglich unter den Pöbel mischen, auf offener Gasse zwischen den Gaffern stehen. Die Frau Apotheker hatte sie zwar eingeladen, ihre Fenster gingen hinaus auf den Markt, aber Jettchen hatte dummerweise die Einladung abgelehnt. Wenn sie nun doch hinginge? Sie brauchte es ja vorher Jettchen gar nicht zu sagen. Oder war es doch ein zu widerwärtiges Schauspiel?

Sie ging in ihr Zimmer hinauf und begann einen Brief zu schreiben: »An Seine Hochwohlgeboren den Herrn Leutnant Freiherrn Maximilian von Revell.« – Er hatte nun schon so oft sich nach ihrem Befinden erkundigen wollen, war immer abgewiesen worden an der Tür, daß es nun wirklich in der Ordnung war, ihm ihr Bedauern darüber auszusprechen. Jettchen durfte freilich nichts davon wissen, die hatte gesagt: »Den Revell schlag dir nur aus dem Kopf, Hauke sagt mir, er hat keinen Pfennig, und du hast doch auch kein Vermögen.«

Wer sagte denn, daß sie ihn heiraten wollte? Sie dachte nicht daran. Aber er war liebenswürdig und hübsch, warum sollte sie denn unliebenswürdig gegen ihn sein? Der Schwager gönnte sie nur keinem anderen, weil er sie nicht haben konnte. Aber nicht ihre Fingerspitzen sollte der mehr berühren. Wenn er sich noch einmal etwas herausnahm, gleich würde sie gehen und es Jettchen sagen; dann würde die einmal sehen, was für einen sie zum Mann hatte, nach außen vornehm und scheinheilig fromm, aber im Innern –?! Pfui, wie waren die Menschen doch schlecht!

Das Armesünderglöcklein fing an zu läuten, sie warf den Federkiel hin. Nein, sie konnte nicht schreiben, da läutete es ja für die Fischerfrau! Wie der jetzt wohl zumute war? Wer das wüßte! Sie seufzte. Wie es überhaupt einem Menschen zumute ist, der stirbt? Ihre Neugier stieg. Ob das Weib sich sehr fürchtete? Jeder Mensch hängt am Leben und stirbt nicht gern. Hing sie selber denn nicht am Leben? Gewiß. Aber manchmal war der Gedanke: ›Wenn du willst, kannst du sterben‹, doch sehr schön.

Das jämmerlich dünne Glöckchen bimmelte wieder, nun hielt sie nichts mehr zurück. Sehen! Sie wollte, sie mußte zusehen.

Leise, damit niemand sie höre und sie etwa zurückhalte, schlich sie die Treppe hinab. An den Häusern drückte sie sich entlang, im dunklen Mantel, nur ein Spitzentüchlein über den Locken. Atemlos erreichte sie die Apotheke, schlüpfte schnell hinein. Schon traten die Soldaten an. War das nicht Revell, der sie kommandierte? Jetzt bildeten sie die Kette, jetzt kam niemand mehr durch. Doch – der Karren!

Es flimmerte ihr vor den Augen, sie war allzu rasch gelaufen, alles Blut war ihr siedend zu Kopf geschossen. Rote Kringel, schwarze Kringel, sich drehende Kreise, zuckender Zickzack, wirbelnde Sonnen, hüpfende Sterne, Farben, Flecken, blau, grün und gelb, ein Durcheinander, ein Wirrwarr. Ah, nun sah sie endlich wieder! Sah Gestalten, Menschen, viele Männer im Bauernkittel, im Bürgerrock, in Hüten, in gemeinen Kappen, Frauen in Kopftüchern, ohne Kopftücher, in den kleinen Häubchen der Dienenden, in den großen Hauben der Bürgerfrauen. Wie das wimmelte, sich drängte, wie Ameisen kribbelte. Die hellen Flecken der Gesichter, die Gespanntheit in aller Mienen konnte sie jetzt deutlich erkennen. Wie sie die Augen herausdrückten, die Mäuler aufrissen!

Wie aufregend war das! Charlotte, die eine Hand gegen ihr klopfendes Herz drückend, hielt sich mit der anderen am Vorhang fest. Nicht gesehen werden, aber selber sehen, sehen!

Sie sah nichts. Die Fenster der Hofapotheke blickten wohl auf den Markt, aber das Schauspiel fand mehr nach der rechten Seite zu statt. Doch sie hörte.

Eine Stimme, klar, kalt und deutlich: jetzt las der Richter noch einmal das Urteil vor. Jetzt brach er das Stäbchen entzwei. Und jetzt, erklang jetzt nicht Banges Stimme? Seine schönste Stimme. Wohllautend warm, feierlich pastoral, er betet. Die Stimme schweigt. Nun dumpfes Gemurmel. Und jetzt ein Wogen, ein Wellenschlagen im Meer der Menschen. Das Meer brandet, schwillt an – sie wollen sehen, alle wollen es sehen, sie recken die Hälse, sie stellen sich auf die Zehen.

Unwillkürlich hob auch Charlotte sich auf den Zehenspitzen. Sie konnte nichts sehen, und doch sah sie alles, alles – – – jetzt wurde das Weib hinauf geschleppt, die Stufen zum Richtblock hinan, jede Stufe schon ein Tod! Die Henkersknechte zerren sie ungestüm, ihr graues Haar hängt wirr, von ihrem welken Hals ist das Hemd, darinnen sie sterben soll, herabgerissen, man will ihr ein Tuch um die Augen binden, aber sie widersetzt sich, stößt um sich wie eine Rasende, wehrt sich mit Händen und Füßen. Man muß ihr die Arme nach hinten biegen, ihr die Hände auf dem Rücken zusammenschnüren – ah, es ist ein zu grausamer Tod, dieses Sterben auf dem Richtblock, ein gemeiner Tod! Sie schreit, sie kreischt, ihr Heulen wird das eines tollen Wolfes – der Henker im roten Hemd drückt ihr mit Gewalt den Kopf nieder, die Knechte halten sie eisern fest – das Schwert blitzt, es ist erhoben, seine Schneide glänzt im Sonnenschein – – –

Ha, war das jetzt nicht in Wirklichkeit ein Schrei? Charlotte fuhr zusammen. Ein Schrei ertönte, ein furchtbarer Schrei, der letzte Schrei einer Weiberstimme: »Arm!« Und dann war's vorbei. – – –

Die Schaulustigen hatten sich schnell verstreut, nun ging es in den Alltag wieder zurück, jeder an sein gewohntes Tun. Aber Charlotte stand noch immer am Fenster, sie starrte ins Leere, an allen Gliedern war sie gelähmt, ihr Blut war wie Eis. Was war ein Leben? Ein kurzer Schritt nur war's vom Leben zum Tode. Sie fühlte sich elend, angewidert, entsetzt und doch auch beruhigt, und alle Neugier war gestillt: es läßt sich schnell Schluß machen, wenn man es will.

Die Frau Hofapotheker kam jetzt auf sie zu, sie bedauerte lebhaft, ihren Gästen nicht mehr haben bieten zu können, es war leider nur so wenig zu sehen. Nun bot sie kleine Kuchen an und Schokolade in Tassen. Aber Charlotte lehnte ab, die Süßigkeiten hätten ihr übel gemacht; sie ging. Es war ihr auf einmal so eng geworden, entsetzlich eng in dem Zimmer. Aber auch draußen ließ dieses Beengtsein nicht nach, dieser schwer auf die Brust sich legende Druck: Luft, frische Luft! Aber die Luft roch ihr nach Blut.

Heraus aus den stinkenden Gassen, weg, nur weg! Ihr war, als müsse sie fliehen, vor allem und auch vor sich selber. Wie hatte sie nur dahin gehen können, sich so etwas ansehen wollen, sie, Charlotte von Weiß?

Gott sei Dank, nun war sie auf der Wallpromenade. Noch niemals war sie allein hier gewesen, nun war sie es, allein, ganz allein. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie die große Weite, die sich vor ihr breitete, an sich drücken, in ihr vergehen. Man sah von hier aus das flache Land der Havel sich dehnen bis fern an den Horizont. Der hing niedrig, und die dunklen Moorflächen und noch dunkleren Massen der Wälder gingen in ihn über. Das Eis war geschmolzen in schon wärmlicher Sonne, die Moore hatten trübwässerige Spiegel, aber hell, wasserhell und vom sich spiegelnden Himmel freundlich überblaut, glänzte ein großer See. Ein Flug wilder Enten, von weitem gesehen wie Spatzen so klein, flatterte über ihm und ließ sich dann auf ihn nieder. Man sah sie wie Punkte sich wiegen. Dürr stand noch das Schilf am Ufer. Es grünte auch hier auf besonntem Wall noch kein Gräschen, aber es war der einsam Hinundhergehenden doch, als spüre sie Frühling. Nicht lange mehr, und es spazierten die Störche dort im Moor, neigten die langen Schnäbel, und vom Winterschlaf aufgeschreckte Frösche quarrten den Tag an.

Ein Fink schlug plötzlich. Wie, kaum der harte Frost, der starre Himmel des Winters vorbei, und schon ließ der sich hören? Konnte der's nicht erwarten, lockte sich schon eine Frühlingsgefährtin? Es klang heiter – ah, und so süß! Charlotte seufzte. Sie lauschte, stehenbleibend, den Kopf geneigt, die Blicke wie suchend ins Weite gerichtet. Auch sie lockte etwas. Nach der Kälte des Todes, die sie heute verspürt hatte, lockte die Wärme des Lebens. Hier war kein Blutgeruch mehr, hier duftete es nach auftauender, treibender Erde. Sie sog diesen Duft, die Lippen geöffnet, tief in sich hinein. Sie fing an, schneller auf und nieder zu laufen, ihr Atem ging rasch, ihr Blut, das vorhin wie vereist in ihren Adern gewesen, floß jetzt lebendig. Der Mantel wurde ihr lästig, sie ließ ihn von ihren Schultern gleiten und riß rasch das umhüllende Tüchlein vom Haar. Ein Windchen kam und spielte in ihren Locken; sie hatte die nie nach der Mode gepudert, deren schönes seidiges Blond niemals dadurch entstellt.

»Wie ein englischer Kupferstich« – wer hatte das doch einmal von ihr gesagt? Ach so, der Geheimrat Ursinus. Seit sie mit ihm in Berlin gewesen war, hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Wenn er nur nicht schon so ältlich wäre! Er paßte besser zu Tante Christiane als zu ihr. »Ach, lieber Gott, ich bin noch sehr jung!« Sie sagte das plötzlich ganz laut. Es war zuletzt unleidlich gewesen in Charlottenburg, die Tante war wirklich gut, aber immer hatte sie ihr den Ursinus gepriesen.

Ein Schritt, der eilig hinter ihr her kam, ließ Charlotte aufschrecken. Sie sah sich rasch um, aber das Erschrecken auf ihrem Gesicht wandelte sich schnell in ein Lächeln: ah, da war ja Revell! Hatte er sie hierher gehen sehen, war ihr nachgegangen? Schon küßte er ihre Hand.

Die Damen, die Revell wohlwollten – und alle wollten ihm wohl –, nannten ihn einen jungen Mars, die Herren dagegen nannten ihn einen Zigeuner. Er war schlank und schwarz, mit leicht gebogener kühner Nase und blitzenden dunklen Augen; unter den hier meist blonden Gesichtern fiel er auf. Und er wußte das und baute auf seine Erscheinung. Er und das Fräulein von Weiß gaben stets das schönste Paar ab. Wo immer sie in Gesellschaft zusammentrafen, führte er mit ihr die Quadrillen an und führte sie auch zu Tische. Aber über ein neckendes Tauschen von Blicken und ein Spiel mit galanten Worten war es noch nie hinausgegangen. Daß er sie anbete, hatte er ihr zwar letzthin gesagt, und sie hatte es gern gehört, aber daß es ihr wonnevoll sein könne, wenn er, wie jetzt, seine Lippen fest, saugend auf ihre Hand preßte und sie gar nicht losließ, das hätte sie nicht gedacht. Aber es war so: es war wonnevoll. Es durchrieselte sie heiß, eine Welle von Rot überflutete ihr Gesicht, sie schlug die Augen nieder und wagte es nicht, ihn anzusehen. Ein Glück, daß gesenkte Lider Augen verhüllen, sonst hätte er vielleicht zu viel gesehen. Benahm sie sich nicht wie ein simples Bürgermädchen, wie eine törichte kleine Gans? Charlotte nahm sich zusammen; ihre Stimme zur Ruhe zwingend (aber ein leicht zitterndes Hauchen verriet doch ihre erwartungsvolle Unruhe) sagte sie: »Herr von Revell, Sie sind mir gefolgt, wie durften Sie das? Sie kompromittieren mich.«

Es sollte wie Vorwurf klingen, aber er nahm es nicht dafür. Mit leiser, leidenschaftlicher Stimme, mit diesem Ton, der ihm schon manchesmal zum Siege verholfen hatte, bat er: »Gnädigstes Fräulein, schönste Göttin, schenken Sie mir einen Blick! Vergeblich bin ich an Ihrer Tür gewesen – nun sehen Sie mich hier doch wenigstens an!«

Lockte der Fink immer noch? Charlotte hob die Lider und sah Revell an. Seine dunklen Augen, schwimmend vor entzücktem und entzückendem Verlangen, senkten sich tief in die ihren, so tief und so lange, daß auch ihre Augen jede Zurückhaltung verloren. Und wenn es auch nur ein Spiel war, so war es doch ein wunderschönes, ein süßes Spiel. Charlotte gab sich diesem Spiel hin. –

Noch nie war sie so glücklich gewesen wie in dieser einen Stunde. Sie, die bewußt den Schwager reizte, um ihn dann, ebenso bewußt, wieder zurückzuweisen, sie, jedem Mann gegenüber kokett war, es sein mußte wie in einem Zwang, sie, immer berechnend, war in dieser Stunde ganz ohne Berechnung. Sie glaubte zu lieben und geliebt zu werden.

Revell hatte sie von der Höhe des Walles heruntergeführt. Ohne jede begrünende Deckung war man da noch zu weit sichtbar; sie schlichen auf der inneren Seite des Walles, auf einem schwach getretenen, unebenen Pfad. Aber daß er sich schlecht ging, das merkten sie nicht. Der Leutnant hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, sie so ganz an sich gezogen, und sie schmiegte sich willig an. Sie hätte gewünscht, daß sie so in Ewigkeit gehen könnte. Ihre Augen waren in einer süßen Mattigkeit halb geschlossen, sie dachte nicht daran, daß das, was sie tat, aller Sitte entgegen war; sie wollte auch nichts sehen von der Welt, von gar nichts und von gar niemandem mehr etwas wissen, sie wollte nur küssen, küssen. Oh, es war himmlisch, göttlich schön!

Eine unwillige Bewegung Revells störte sie auf, er schimpfte plötzlich: »Verfluchte Kerle!« Sie schreckte zusammen, das paßte so wenig in diese weiche, verschwimmende Stunde. Sie waren gesehen worden, von drüben. An der Umfassungsmauer der Zitadelle wurde ausgebessert, da standen ein paar Sträflinge. Sie trugen Ketten, die Kette am Fuß, von einer Eisenkugel beschwert, klirrte bei jedem Tritt. Schwere Karren, mit Sand und Steinen beladen, zerrten sie hinter sich her, aber ihre bleichen Gesichter grinsten, ihre zur Hälfte glatt wie ein Ei geschorenen Köpfe mit daran ragenden Eisenhörnern nickten teuflisch herüber: ein Liebespaar! Sie machten unzüchtige Gebärden.

War den verdammten Schweinehunden die Lust zu so etwas noch immer nicht vergangen? Peitschen, peitschen und noch einmal peitschen, bis sie verrecken! Der Offizier bebte vor Wut. Aber er konnte im Augenblick nichts, gar nichts gegen diese Schweine machen, überhaupt nichts, denn wenn er auch ermittelte, wer von diesen viel zuviel Milde genießenden Halunken es gewesen war, es hieße seine Dame dadurch kompromittieren. So drückte er denn ihr vor Schrecken erblaßtes Gesicht fest gegen seine Brust und führte sie fort.

Als die nächste Biegung sie diesen widerlichen Blicken entzogen hatte, umfaßte er sie noch einmal mit beiden Armen und flüsterte eilig: »Wir müssen uns wiedersehen. Aber wann und wo?!« Er war nicht mehr recht bei der Sache, diese Halunken hatten ihn zu sehr gestört.

Auch Charlotte war plötzlich ernüchtert. Sie würden sich wiedersehen, natürlich, sie mußten sich ja wiedersehen, aber ihr war, als wäre das Schönste von dieser Stunde der Entzückung doch fort.

Bleich, abgespannt, verstimmt kam sie nach Hause. Viel zu spät, das Mittagessen war längst vorüber.

»Wo warst du?« herrschte der Schwager sie an.

Sie sah in sein vor Eifersucht und Argwohn ganz aus den gewohnten glatten Falten gezerrtes Gesicht und lächelte: »Das möchtest du wohl wissen, mein Lieber. Ich sage es dir nicht.«


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