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Elftes Kapitel

Es machte in Stendal einiges Aufsehen, daß der Geheime Gerichtsrat und Regierungsdirektor Ursinus sich mit dem Fräulein von Weiß verlobt hatte. Wenn es nun auch kein Prinz war, auf den die Hochmütige so lange gewartet zu haben schien, so war es doch ein hoher Beamter, dem noch eine weitere Karriere bevorstand. Und dasselbe sagten die Eltern der Tochter: Ursinus kam in nicht allzu ferner Zeit sicherlich wieder nach Berlin zurück, schon war am Oberappellationsgericht eine leitende Stellung für ihn in Aussicht genommen. Und er besaß zudem ein großes Haus am Gendarmenmarkt und ein kleineres in der Französischen Straße, in der feinsten Gegend, dessen erste Etage er dann mit ihr beziehen würde. Frau von Weiß malte Charlotte das Glück, das ihrer wartete, in den strahlendsten Farben aus. Und welch ein rücksichtsvoller, feiner Gatte, der nie zuviel von seiner Frau verlangen würde! Wie rührend besorgt war der gute Ursinus, daß seine Lotte sich nicht mit Arbeit übernahm! Er würde ihr Dienstboten genug halten, sie sollte ihre schönen Hände schonen.

»Wenn er nur nicht so alt wäre«, sagte Charlotte finster.

»Alt, alt?« Die Mutter tippte ihr auf die Stirn: »Du bist wohl nicht ganz bei Verstand. Ich sagte dir schon einmal: in den besten Jahren. Was bedeuten Jahre bei einem so wohlgepflegten und wohlkonservierten Mann, der sich zudem niemals Debauchen zugestanden hat, selbst in seiner Jugend nicht! Du ahnst gar nicht, mein Kind, was das heißt, einen Gatten zu bekommen, dessen moralischer Wandel so makellos wie ein reines weißes Tuch vor aller Augen daliegt!« Und sie fuhr noch fort, in gleicher Tonart die Solidität und vorbildliche Lebensführung des Bräutigams zu preisen.

Ach, das war ihr ja so gleichgültig; eine vorbildliche Lebensführung am allergleichgültigsten. Charlotte gähnte. Es spannte sie gräßlich ab. Sie hatte genug davon; auch der Vater pries ihn ja aus Leibeskräften, doch war der wenigstens so vernünftig, ihr Ursinus nur in seiner Karriere vor Augen zu führen. Berlin, Berlin, sie kam nach Berlin! Sie machte ein Haus auf, sie kam als hohe Beamtenfrau in die Hofkreise, sie verkehrte mit Prinzen und Diplomaten, mit den Gesandten fremder Mächte. Berlin war noch nicht so überreich an Schönheit und Geist, daß man an ihr achtlos vorübergehen würde. Der kranke apathische Mann war ganz lebhaft bei der Ausmalung solcher Aussichten geworden. Auch er hatte in Wien einst in Hofkreisen verkehrt – es war doch eine ganz andere, eine besondere Luft, die einen da umwehte.

Ja, wenn die Aussicht auf Berlin und ihr Aufstieg dort nicht gewesen wäre! Charlotte war sich klar bewußt, daß sie sich dann niemals an der Jagd auf Ursinus beteiligt haben würde. Nicht, daß sie ihn nicht hätte leiden mögen, er war ja auch wirklich sehr nett zu ihr, aber das, dessen sie bedurfte, das sie verlangen konnte, verlangen mußte, das hatte er nicht. Er langweilte sie. Jeden Abend kam er, und jeden Abend saß er bei ihr, sah entzückt zu, wie sie fleißig an der Aussteuer nähte, und haschte, wenn es ihn überkam, nach einer ihrer Hände und spielte verliebt mit ihren Fingern. Mehr getraute er sich nicht. Ganz kindisch war der alte Narr, er hatte jedem ihrer Finger einen besonderen Namen gegeben: nun ließ er den dicken Däumling den schlanken Goldfinger besuchen und Kleinnaseweis guckte zu. Widerlich! Charlotte hätte auffahren mögen, schreien: »Lassen Sie meine Hand los«, aber dann schrie sie doch nicht.

Sie konnte alles von ihm haben, was sie wollte. Die Möbel wurden in Berlin bestellt. Ein großer Trumeau, ein Toilettetisch, ein Lüster mit lauter Glasgehängen, die im Licht der Kerzen wie tausend Diamanten funkelten, waren schon eingetroffen. Auch bereits das große Ehebett, weil die Kissen nach seiner Breite angefertigt werden mußten.

Mit einem mütterlich-verschmitzten Lächeln sah Frau von Weiß das Bett an: ah, ihre Lotte war ja so schön und trotz aller Schlankheit breit genug gebaut, so daß sie Kinder haben würde ohne besondere Beschwerde, schöne, kräftige Kinder.

Auch Charlotte sah das Bett an, ihre Miene war starr dabei, kein Zug in ihrem Gesicht verriet, daß ihr graute. Und je näher der Tag der Hochzeit kam, desto mehr graute ihr. Mußte es denn sein, mußte sie diesem Alten angehören? Hatte sie denn keinen freien Willen mehr? Und gab es denn keinen Weg, auf dem sie allem, vor dem ihr graute, entrinnen konnte?

*

Auch Ursinus, der glückliche Bräutigam, war nicht ganz so glücklich, wie er sich vorredete zu sein. Das schöne Mädchen, auf dessen Locken er abends beim Fortgehen einen zarten Kuß hauchte, wobei er flüsterte: »Schlaf wohl, geliebte Lotte, bald die Meine«, hatte sein Blut zu rascherem Lauf gebracht, aber doch nicht zu so raschem, daß er sich nicht sagte: es wird dir nicht leicht fallen, all deine Junggesellengewohnheiten aufzugeben. Er war gewöhnt, morgens im Bett in aller Gemütsruhe sein Frühstück zu sich zu nehmen, er las dabei und putzte an seinen Fingernägeln. Das würde er nun wohl nicht mehr können, sie war für's pünktliche Aufstehen; in einem reizenden Negligé, das frauliche Schlafhäubchen noch auf den Locken, würde sie schon seiner harren am Frühstückstisch. Und abends? Er war gewöhnt, zeitig schlafen zu gehen – sie würde in Gesellschaften wollen. Es war ihm auch ein dringendes Bedürfnis, vor der Nacht ein Purgativ zu nehmen, das den Darm erleichterte –, was für eine Figur würde er dann machen in dem warmen Unterhabit, das er für alle Fälle immer anbehielt, und in der gestrickten Mütze mit dem Zipfel? Die junge Frau würde manches zu übersehen haben. Wenn sie nur sonst nichts vermißte?! Er hatte Angst.

Auch Frau von Weiß hatte Angst: Lotte würde doch zu guter Letzt nicht noch Sperenzien machen? Die Tochter war stumm und kalt, nur wenn Ursinus da war, zwang sie sich zu einiger Freundlichkeit. Sie hätte am liebsten die Tochter keine Minute aus den Augen gelassen, es dämmerte ihr, daß Charlotte anders sei als andere Mädchen. Prächtige Möbel, schöne Stoffe, die der Bräutigam freigebig für ihre Kleider schenkte, konnten Charlotte nicht zu dem machen, was jede andere dadurch gewesen wäre: eine glückliche Braut. Aber die Ehen, die nicht aus Liebe, sondern aus Achtung geschlossen werden, die werden nach alter Erfahrung stets die besten und glücklichsten, das beruhigte die Mutter.

Auch Herr von Weiß war nicht sorgenlos. Er lag sehr viel zu Bett, war gelb und eingetrocknet und hatte nichts zu sagen, aber er bereute jedes Wort, durch das er vielleicht die Verlobung Lottens mitgefördert hatte. Das war doch auch noch gar nicht so sicher, daß Ursinus wieder nach Berlin zurückversetzt wurde, eben erst war er hierhergekommen. Der Senatspräsident am Oberappellationshof, als dessen Nachfolger er sich bereits sah, saß auch noch fest, war übrigens kaum ein paar Jahre älter als Ursinus. Es würde für Lotte furchtbar sein, wenn sie sich hätte bestimmen lassen, Ursinus zu heiraten einzig dieser Aussicht wegen! Ach, er selber würde die Enttäuschung ja nicht mehr erleben, in seinem Innern fraß ein Wurm, der ihn aufzehrte, zwei Monate, drei Monate, ein halbes Jahr höchstens gab er sich noch. Er würde ja gern sterben, wenn er nur wüßte, daß es mit Lotten gut ging. Der Vater suchte vergebens in den Augen seiner Tochter zu lesen, aber diese Augen waren unergründlich. –

Es waren qualvolle Nächte, die Charlotte schlaflos verbrachte oder in wirren Träumen, die noch qualvoller waren. Ein Gratulationsbrief aus Spandau hatte vieles in ihr aufgerührt. Jettchen schrieb überschwenglich: Frau und Mutter zu werden, das größte Glück des Weibes auf Erden, sie danke der himmlischen Vorsehung, die die geliebte Schwester solchem Glück entgegenführe. Hauke schrieb weniger überschwenglich, aber er gratulierte auch herzlich, verfehlte jedoch nicht, ihr noch einige Spandauer Neuigkeiten mitzuteilen: der Doktor Heim war zum Leibarzt des Prinzen Ferdinand und zum Hofrat ernannt worden, Spandau würde ihn wohl am längsten gehabt haben, schon jetzt würde er häufig zu Konsultationen nach Berlin gerufen. Mit Bange war es ebenso; alles, was gut war, schluckte eben Berlin. Und Spandau hatte noch eine Sensation: der Leutnant von Revell seligen Angedenkens – ›seligen Angedenkens‹ schrieb er, oh, der Boshafte! – war wegen skandalöser Beziehungen zu einer Wachtmeisterstochter strafversetzt worden in eine ganz elende Garnison in einer der neuen schlesischen Provinzen. Und der König, um ein Exempel zu statuieren, hatte ihm befohlen, diese Person zu heiraten.

Es hatte Charlotte doch getroffen, wenn sie auch selber nichts mehr von Revell wissen wollte; ihr Stolz war tief gekränkt: also so bald bin ich ersetzt worden? Und von einer Wachtmeisterstochter?!

Diese Kränkung hatte noch gefehlt, um ihr Grauen vor dem jetzt fertig bereiteten Ehebett und vor dem, der darin neben ihr liegen sollte, noch furchtbarer zu machen. Manche Nacht hatte sie schon vor ihrem Bett auf den Knien gelegen und Gott angerufen; Banges Zeiten waren wiedergekehrt. In ihrer Höllenqual, aus der sie keine Erlösung sah, flüchtete sie in die einstigen Vorbereitungsstunden der Konfirmation, in der Himmlisches mit Irdischem sie, wie in Liebesgeflüster sich vermischend, an Banges Hand der Wirklichkeit entrissen hatte. In der nächtlichen Stille durch Gebetsanrufungen sich steigernd, hatte die Erregte Halluzinationen. Sie sah Blut fließen – Christi Blut, heiliges Märtyrerblut, hingegeben zur Entsühnung aller Sünden. Sie hörte Banges wunderbares Organ, er kniete wieder neben ihr, er hob, mit seinen Händen vereint, ihre Hände empor: »Gott, wo bist du? Gott, sieh uns an, wir rufen dich! Gott, höre uns –« ah, da war Gott! Jetzt neigte er sich zu ihr, sie fühlte wieder seine Hand, sie legte sich auf ihre Stirn, auf ihre Brust. Gott hatte Banges Züge.

Und sie sah auch das Blut jenes Weibes fließen, jener Fischerfrau, die hingerichtet worden war auf dem Spandauer Markt. Oh, wie kurz ist doch der Schritt vom Leben zum Tode, eben noch ein Schrei: »Arm!«, und schon war jene weit weg, wußte nichts mehr von Qual und Grauen. Warum hatte die eigentlich gerufen: »Arm«? Das Weib war sehr arm gewesen, das war die einzige Erklärung für sein Verbrechen, und die führte es auch an in letzter Stunde als eine Entschuldigung vor Gott, vor den Menschen, vor sich selber. Arm-Sein, Zu-arm-Sein! War sie, Charlotte von Weiß, denn nicht auch arm?!

Heute weinte Charlotte. Dieses »Arm-Sein, Zu-arm-Sein« war Entschuldigung genug, wenn auch sie ein Ende machte. Nicht einem andern Leben, wie jene es getan hatte, nein, dem eigenen Leben. Sie beschloß zu sterben. Eine wahre Gier zu sterben hatte sie plötzlich überkommen. Aber wodurch sollte sie sterben? Wild sah sie sich um: nichts dafür zur Hand. Doch, da war ja noch der Krug aus Glas, der ihr heute morgen zerbrochen war, er hatte scharfe spitze Scherben. Mit der spitzesten derselben hinein in die dünne Haut über der Handwurzel, da, wo die blaue Ader deutlich sichtbar ist und der Puls klopft! Es tut gar nicht weh – nein, nein, man fühlt es kaum. Mit der Schärfe des Glases immer weiter hinein gestochen, geschnitten, gesäbelt – das Blut, das erst nur gesickert, springt jetzt auf einmal wie ein Quell.

Sie hielt die Hand von sich ab: nicht beschmutzen. Es rinnt auf die Erde, es läuft wie ein dünnes Bächlein über die Diele. Ah, ihr Blut, ihr rotes Blut! Tastend faßt sie mit ihrer anderen Hand um sich, sie taumelt – ein Schwindel. Gesichter tauchen auf, drehen sich um sie im Wirbel: Revell, Ursinus – da, wieder Ursinus, Bange, Revell, und da – Gott, der Bange so ähnlich sieht!

Charlotte ist schwach, sehr matt, aber schlecht ist ihr nicht, in einer seltsamen Gleichgültigkeit sieht sie ihr Leben dahinfließen – oh, welch ein kurzer Schritt nur vom Leben zum Tode, nicht der Rede wert!

Und doch, etwas ist plötzlich dabei, das sie auf einmal beängstigt, sie hört noch die Turmuhr schlagen: zum letztenmal?! Das preßt ihr einen Schrei aus, einen halblauten, schon mehr röchelnden Schrei. Dann fällt sie um und reißt im Stürzen einen Schemel mit sich.

*

Was war das?! Der kranke Mann, der immer schlecht schlief, oft stundenlang wach lag, richtete sich halb auf: »Hörst du nicht?«

Aber Frau von Weiß hatte nichts gehört, sie war etwas ungnädig, gestört zu werden. Was sollte denn auch sein, wahrscheinlich jagte die Katze Mäuse.

»Dabei poltert es doch nicht so. Ein Stuhl fiel um, es klang wie ein Schrei von drüben. Aus der Schulstube!«

Frau von Weiß fuhr auf: ein Schrei? Aus der Schulstube? Es wird doch Lotten nichts sein? Instinktmäßig dachte die Mutter sofort an das, worüber sie sich in letzter Zeit oft heimlich beunruhigt hatte. Schon war sie aus dem Bett und über den Flur in der Schulstube. – –

Unheimliche Stille. Herr von Weiß saß zitternd im Bett: sollte er auch gehen und nachsehen? Aber er war plötzlich so schwach, daß er nicht aufstehen konnte, seine Beine waren gelähmt, seine Hände, mit denen er sich auf dem Bettrand stützen wollte, versagten, sie waren hilflos vor eisiger Angst. Oh, man hätte Lotte nicht überreden dürfen, ihr nicht den Ursinus aufdrängen! Vor Schwäche und Reue fing der kranke Mann an zu weinen. Da saß er nun machtlos, ganz hilflos, und seine Frau kam nicht wieder und sagte ihm nicht, was es mit Lotten war. Er fing an zu rufen, aber seine Stimme war schwach, man hörte ihn nicht. Jetzt endlich Tritte! Seine Frau lief mit nackten Sohlen eilig, wie gejagt über den Flur. Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt kam sie endlich!

»Was ist mit Lotten?« Seine Augen, groß und vor Entsetzen geweitet, starrten aus geisterbleichem Gesicht.

»Der Krug – der Krug«, stieß Frau von Weiß mit fliegendem Atem heraus. »Der Glaskrug ist zerbrochen, sie hat sich an einem Scherben die Hand verletzt – nur ruhig, es ist weiter nicht schlimm! Willst du wohl ruhig sein!« Er hatte aufschreien wollen, sie fuhr ihn an: »Häng es nur gleich an die große Glocke! Es ist ja weiter gar nichts, ein Ritz. Es blutet nur stark. Habe ihr es schon umwickelt, das Bluten hört auf. Ich schicke aber doch zum Medizinalrat. So sei doch nur ruhig!« Man hörte jetzt den Burschen trappeln und gleich darauf die Haustür zuschlagen. –

Frau von Weiß hatte die Fassung nicht verloren und auch die Haltung nicht. Als Ursinus am andern Morgen Veilchen schickte und sich erkundigen ließ, wie sein Fräulein Braut geschlafen habe und wann sein Besuch ihr angenehm sei, bedankte sich die Mutter freundlichst im Namen der Tochter und bat ihn, zu kommen; jederzeit sei sein Besuch lieb und angenehm.

Ursinus durfte nichts, gar nichts erfahren – niemals – kein Mensch durfte etwas erfahren! Der Medizinalrat hatte ohne weiteres an den Unfall mit dem Glaskrug geglaubt – warum auch nicht, Charlotte war ja eine so glückliche Braut. Durstig war sie gewesen, schlaftrunken aufgetaumelt, war gestolpert, den Krug in der Hand, und in das zerbrechende Glas gefallen. Und so unglücklich! Um ein Haar hätte sie sich verblutet. Welch ein Glück, daß sie noch geistesgegenwärtig um Hilfe rief! Diese selbe Erzählung bekam auch Ursinus zu hören, und noch viel ausführlicher, mit verschiedenen Einzelheiten ausgeschmückt.

Der Geheimrat war außer sich: welch ein schrecklicher Unfall! Seine Lotte, seine arme geliebte Lotte! Konnte er sie denn nicht sehen?

Frau von Weiß war sich nicht klar, was am besten zu tun sei; jedenfalls durfte man es Ursinus nicht verweigern, Lotten zu sehen, alles mußte vermieden werden, was irgendeinen Argwohn erwecken könnte. So führte sie ihn denn in die Schulstube, ihr Herz klopfte dabei.

Aber Lotte schlief. Die verbundene Hand lag vor ihr auf der Bettdecke, die andere Hand hatte sie an ihre Wange gelegt, leicht geneigt ruhte so ihr Haupt. Sie war sehr blaß, so marmorweiß das schöne Gesicht, daß man wähnen konnte, es fließe kein Tropfen Blut darin.

»Es war ein unfreiwilliger Aderlaß«, wisperte lächelnd die Mutter.

Ursinus war tief gerührt: wie lieblich sie dalag, ein Engelsbild! Er trat näher zum Bett, beugte ein wenig die Knie und küßte behutsam die verbundene Hand auf der Decke. Er hoffte, das Engelsbild würde die Augen aufschlagen, ihn ansehen.

Aber Charlotte schlief fest. Ihre langbewimperten Lider blieben geschlossen, es regte sich nichts in ihrem Gesicht, nur die Brust hob und senkte sich sanft in ruhigen Atemzügen.

»Wir wollen gehen«, flüsterte die Mutter, »der Blutverlust hat sie doch recht erschöpft. Jetzt schläft sie so süß.«

Ursinus zögerte, er hätte gern ein Wort von ihr gehört oder sie wenigstens noch länger betrachtet, aber energisch nahm ihn Frau von Weiß an die Hand: »Kommen Sie, kommen Sie, lieber Schwiegersohn!«

Er mußte folgen. Hand in Hand, auf Zehenspitzen balancierend, verließen beide das Zimmer.

Kaum waren sie draußen, so schlug Charlotte die Augen auf, sie hatte gar nicht geschlafen. Der Hauch eines Lächelns huschte über ihr Gesicht: der gute Ursinus, der hätte sie nun bald nicht mehr wiedergesehen. Aber es war doch besser, daß es noch nicht zu Ende gegangen war mit ihr. Sie war ja noch jung, was konnte sie noch alles Schönes erleben – trotz Ursinus. Durchs Fenster, das ein wenig offen stand, kam linde Luft herein, Schwalben schossen mit hohem schrillem Ruf draußen vorbei; die waren schon wiedergekehrt, es war Frühlingsluft, Frühlingsluft, und sie würde den Frühling auch wieder lieben. Einen Frühling, der jung und schön war, wie sie es auch war.

Wie sie wohl heute aussehen mochte? Eine Neugier plagte sie: wie sieht jemand aus, der schon beinah gestorben ist? Sie stieg aus dem Bett, noch etwas torkelig auf den Füßen, aber sie gelangte doch bis zum Spiegelchen über dem winzigen Waschständer. Bald würde sie einen Toilettentisch haben mit Büchsen und Büchschen, groß und schön und mit so viel Glas, daß sie sich bespiegeln konnte von oben bis unten und von allen Seiten. Der gute Ursinus! Es war am Ende doch gar nicht so schlimm, daß er alt war; er hatte sich ja auch nicht an sie gedrängt, die Weiß hatten sich jedenfalls mehr an ihn gedrängt. Und es war doch wahrhaftig nicht zu verachten, in solch eine Stellung zu kommen. Was war sie denn, ein Fräulein von Weiß, ja, und schön, aber würde ihr das denn den Eintritt in die Berliner Zirkel vermitteln? Nur durch Ursinus wurde es ihr ermöglicht, »Jemand« zu sein und eine Rolle zu spielen.

Charlotte nahm es sich vor in einer gewissen Zerknirschung, in die sie ihre heutige Schwäche und noch immer anhaltende Mattigkeit versetzten, liebenswürdig und rücksichtsvoll gegen Ursinus zu sein und sich immer mehr seine Vorzüge vor Augen zu stellen als seine Schwächen. Aber lächerlich war manches an ihm nun einmal doch.

*

Charlotte von Weiß trug noch immer ein schmales Streifchen Verband um ihr zartes Handgelenk, als sie dem Geheimen Gerichtsrat und Regierungsdirektor Theodor Ursinus zum Traualtar folgte. Heute war der Tag. Ein Maitag, der 19. Geburtstag der Braut, ein Maitag so licht und schön, daß es der Braut wohl nicht in den Kranz regnen würde, so sehr die Brautmutter das auch wünschte. Regentropfen im Kranz ersparen der Braut später die Tränen.

Diese Hochzeit war für Stendal ein Ereignis. Sie ging ja auch mit allem nötigen Pomp vor sich, dafür sorgte Frau von Weiß schon. Ursinus selber war nicht so für das Äußere, er hätte die Sache lieber in aller Stille abgemacht, er war aufgeregt und ängstlich. Aber die Schwiegermutter, die ihrer Sache nun endlich sicher sein konnte, sagte gekränkt: »Sie tun ja beinah so, werter Schwiegersohn, als sei die Hochzeit mit meiner Lotte Ihnen eine Blamage, die nicht unauffällig genug abzutun wäre!« Und da auch Lotte für eine größere Feier war, so schickte er sich drein. Er bat nur die weise Vorsehung, die er deutlich über seinem Leben walten fühlte, im stillen Kämmerlein, daß sie ihm beistehen und ihm Kraft verleihen möge.

Frau von Weiß war überall herumgelaufen in der Stadt, bei Bekannten und Unbekannten, und hatte Kinder aufgeboten, eine ganze Schar. In weißen Kittelchen mit angehefteten Florflügeln, Rosenkränze im Haar, sollten sie als Genien des Glücks, blumenstreuend das junge Paar hin zur Kirche und zurück von der Kirche umgeben. Lotte war anfänglich gegen solch Kinderaufgebot: Kinder stellen sich immer so dumm an und sind meistens ungezogen, aber die Idee war doch hübsch, und warum sollte man den Stendalern nicht etwas zu bestaunen geben? Ein bißchen Glanz und ein paar Blumen würden den reizlosen Stendaler Straßen gut tun. Sie half der Jungfer, die über die Genien, die sie einkleiden sollte, stöhnte, die Kittelchen nähen und besänftigte ihren Unwillen, indem sie ihr versprach, sie demnächst als Jungfer mit sich nach Berlin zunehmen.

Es gab unter den Zuschauern, die vorm Hochzeitshaus warteten, bis sich der Zug der Gäste anschickte, in die Kirche zu gehen, genug, die dann auf beiden Seiten mitliefen und vor lauter Rührung über die reizenden Genien fast zerflossen. Auch Ursinus war gerührt: ein schöner Gedanke von seiner Schwiegermutter – Genien des Glücks auf seinem Weg! So viel zartes Empfinden hätte er dieser sehr energischen Dame gar nicht zugetraut, aber man mußte sie doch schätzen. Wenn diese ganze Geschichte nur erst vorüber wäre! Er fühlte sich unbehaglich. Und doch hatte Lotte, als er kam, um sie feierlich abzuholen, in den Eskarpins und dem bestickten Frack, den er nur anzog, wenn er zu Hofe befohlen war, ihm das Jabot, das vorn aus der seidenen Weste fiel, sorglich zurechtgezupft und ihm die Brillantnadel mit einem so süßen Lächeln fester gesteckt, daß sein Herz hätte freudig klopfen müssen in der Gewißheit, dieses liebe Wesen bald sein Weibchen nennen zu dürfen. Er hatte ohne ein Wort auf ihre an ihm zupfenden Finger niedergesehen. Dann hatte er seiner Schwiegermutter den Arm geboten, und sie waren gegangen.

Er ging wie im Traum: war er das wirklich, er, Theodor Ursinus, der so lange Junggeselle gewesen war und immer hatte bleiben wollen, der hier nun in seinem eigenen Hochzeitszug schritt? Er fühlte sich schwach und müde, nahezu unpäßlich; die ganze Nacht hatte er vor Aufregung nicht schlafen können, sich mit Selbstvorwürfen gepeinigt: wie hatte er nur so leichtsinnig sein und sich auf so etwas einlassen können, auf solches Abenteuer?! Ein allzu keckes Abenteuer dünkte es ihn. Im Augenblick dachte er nicht an Lotte, fühlte nichts von der Bezauberung, in die sie ihn verstrickt hatte. Oh, wäre er doch meilenweit fort! Ein Druck auf seinen Arm, an dem ihm die Schwiegermutter hing, erinnerte ihn daran, daß er hierzubleiben hatte.

»Sieht sie nicht himmlisch aus?« flüsterte Frau von Weiß und deutete mit den Augen auf die vor ihnen schreitende Braut.

Herr von Weiß hatte sich aufgerafft, wohl zum letztenmal in seinem Leben, er führte die Tochter zur Kirche, das heißt, sie führte mehr ihn als er sie. Neben seiner klein gewordenen, zusammengeschrumpften Gestalt wirkte die ihre doppelt groß. Hoch aufgerichtet ging sie; niemand, sie selbst nicht mehr, wußte davon, was erst vor kurzem in ihr an Qual gewesen, ruhig war ihr Gesicht, ihre Augen klar, ihr Mund blühend. Es mochte lieblichere Bräute geben, solche, die in sittiger Scham und geheimer Erwartung selig erglühten, aber sie war schön, königlich schön.

Die Haukes aus Spandau hatten zur Hochzeit nicht kommen können; Jettchen war zu sehr durch ihre Kinder behindert, und daß der Schwager nicht Lust haben würde, hier zu erscheinen, das hatte Charlotte vorher gewußt. Frau von Weiß bedauerte es sehr, doch würde Charlotte Schwester und Schwager ja bald wiedersehen, wenn sie erst in Berlin wohnte. Charlotte aber hatte, als sie den Absagebrief der Haukes las, mit der Hand eine Bewegung durch die Luft gemacht, als schnitte sie etwas durch: zwischen denen und ihr war es aus und vorbei. Sie brauchte die jetzt nicht mehr.

Aber Tante Christiane, die war gekommen. Um ihre geliebte Lotte in Kranz und Schleier zu sehen, noch dazu als Braut des teuren Ursinus, hatte sie die ihr früher so unmöglich erscheinende Reise nicht gescheut. Sie kämpfte mit Tränen wehmütigen Glückes während der ganzen Zeit an der Hochzeitstafel: daß sie das noch erlebte an ihrer Lotte, was sie selber nicht hatte erleben dürfen! Und heute doch fast selber erlebte, denn an der Hand der jungen Frau glänzte außer dem neuen Trauring ihr alter geliebter Ring mit der Perle. Lotte warf ihr mehrmals einen langen Blick zu und führte dabei den Perlenring an die Lippen.

Die Braut hatte Muße genug, mit der Tante Blicke zu wechseln, denn der Bräutigam saß sehr versonnen und still da. Er schien das Geschwätz und Geklapper der dreißig Geladenen gar nicht zu hören; auch die spaßhafte Tischrede des Herrn Oberforstrats, die reich an den Anspielungen war, die die Damen wie gewöhnlich erröten machten und die Herren schmunzeln, nötigte ihm kein Lächeln ab.

»Machen Sie Lotten glücklich, teurer Ursinus«, schluchzte Christiane Witte, als das Paar sich verabschiedete, um sich zurückzuziehen.


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