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Zehntes Kapitel

Das Fräulein Christiane Sophie Regine Witte hörte wenig von ihrer Nichte. Sie saß in ihrem Charlottenburg, in dessen Stille nur das fast schon zu einem Schloß ausgebaute Landhaus der Rietz – die Enke hieß jetzt Rietz, der Kronprinz hatte sie mit seinem Kammerdiener verheiratet – einige ärgerliche Unruhe brachte, und dachte voller Sehnsucht an ihre Lotte. Ach, warum hatte man ihr das geliebte Wesen so bald wieder entrissen? Was war mit Lotten geschehen, daß man sie so rasch von Spandau entfernte?! Nicht einmal von ihr hatte man sie damals noch Abschied nehmen lassen, nur ein flüchtiges Briefchen hatte sie noch empfangen: »Teure, geliebte Tante, leben Sie wohl! Man hat mich verdächtigt, ich muß wieder nach Stendal zurück. Von Lüge und Intrige umgeben, flüchte ich mich in meine Unschuld und zu jener Macht, die über uns schwebt. Ich weine heiße Tränen, daß ich mich, durch die Schnelle meiner Abreise daran gehindert, nicht mehr von Ihnen verabschieden darf. Vergessen Sie nicht Ihre Ihnen bis in den Tod getreue, Sie dankbar liebende Lotte.«

Das arme Kind! Da steckte gewiß dieser elende Schwager, der Hauke dahinter! Einige Andeutungen, die Lotte ihr einmal gemacht hatte, wuchsen sich in des alternden Fräuleins Gedanken zu einem larmoyanten und zugleich spannenden Roman aus.

Die Witte hatte sofort an ihre Schwester nach Stendal geschrieben und zu wissen verlangt, warum man Lotten so plötzlich von Spandau weggenommen. Aber Frau von Weiß zögerte mit der Antwort: nur nichts von einer Liaison sagen, das könnte Lotten in den Augen der Tante herabsetzen. Darum ließ sie, als eine zweite, dringendere Anfrage kam, die schwarzen Blattern in Spandau ausbrechen, vor denen Lotte schleunigst habe flüchten müssen. Christiane Witte, ärgerlich die Achseln zuckend, hatte solch Märchen nicht geglaubt: natürlich war es der Schwager, dessentwegen das arme Kind fortgemußt hatte, die Schwester wollte das nur nicht schreiben, um den Schwiegersohn nicht bloßzustellen. In der Tante Augen wob sich um der Nichte Haupt die Glorie verkannter Unschuld.

Das war nun alles schon zwei Jahre her, aber in der Witte Herzen wuchs noch der Ärger, denn sie vermißte das zarte Schmeicheln und liebevolle Streicheln der Schwestertochter mit der Zeit immer mehr. Oh, was waren das doch für schöne vertraute Stunden mit Lotten gewesen! Sie hatte sich wie eine Mutter gefühlt. Wenn Lotte bei ihr schlief, hatte sie, die nachts sonst allezeit Einsame, den sanften Atemzügen ihres holden Kindes gelauscht und selber vor Glück, nun endlich, endlich einmal nicht mehr so allein zu sein, nicht schlafen können. Aber sie wachte dann gern, wurde sie sich doch so recht der geliebten Nähe und innigen Zugehörigkeit bewußt.

War es nicht eine Ungerechtigkeit des Geschickes, daß solch ein Weib wie die Rietz drüben, diese schamlose Mätresse, frei durch die Straßen ging, wohin sie wollte, in einer schönen Equipage fuhr? Daß der Kronprinz sie alle Tage ohne Scheu besuchte, bei ihr dinierte, soupierte? Daß aber Lotte, dieses engelreine Wesen, verdächtigt wurde? Sie fühlte sich in Lotte tief verletzt.

Es stand jetzt bei ihr fest: sowie der Geheimrat Ursinus, dieser in jeder Beziehung untadelige Mann, der zudem Lotten sehr geneigt war, wieder bei ihr erschien, würde sie ihm rückhaltlos die ganze Sache vortragen. Und sie würde mit seiner Hilfe ein Testament machen, in dem sie ihre Schwestertochter Lotte zur alleinigen Erbin einsetzte. Was ging sie die übrige Verwandtschaft an? Sie zürnte Jettchen zu sehr – hätte diese denn nicht für die Schwester energisch eintreten müssen? Aber die Hofrätin war eine Null. Mochten sie und ihr Mann nun dafür, daß sie Lotten so schlecht behandelt hatten, jeder Erbschaft verlustig gehen.

Es kam Christiane Witte sehr gelegen, daß Ursinus sich durch ein Briefchen bei ihr anmeldete: er würde morgen kommen, um sich von ihr zu verabschieden. Verabschieden, warum?! Reiste er fort? Wohin reiste er denn? Doch wohl nicht fort für immer? An dem Schrecken, der sie durchzuckte, merkte das Fräulein, wie gewogen sie ihm war. Wenn sie ihn auch nicht oft gesehen hatte, so war es doch jedesmal eine angenehme Stunde gewesen, die sie miteinander verbracht hatten. Ach, vielleicht wäre er noch öfter gekommen, hätte sie nicht so viel von ihrem teuren Verstorbenen gesprochen – allzu viel! Sie hätte nicht ihre unvergängliche Liebe, ihre Treue bis übers Grab hinaus so betonen sollen. Wenn Ursinus, dieser vornehme, feinfühlige Mann, dieser Kavalier von besten Sitten, der niemals die Grenzen überschritt, nie die Hand der Dame eine Sekunde zu lange in der seinen behielt, nur deren Fingerspitzen mit seinen Lippen berührte, wenn dieser Mann, von dem sie, ohne anmaßend zu sein, fühlte, daß er wohl nicht abgeneigt gewesen wäre, mit ihr den Bund der Ehe zu schließen, wenn dieser Mann jetzt fortging, dann war sie ganz verlassen. Christiane Witte, einen fast vorwurfsvollen Blick zum Bild des einst Geliebten hinüberwerfend, brach in Tränen aus.

Sie konnte auch andern Tages ihre Betrübnis kaum verbergen: »Oh, wie schade, wie schade!«

Auch der Geheimrat Ursinus war ein wenig bewegt und verlegen darüber, daß diese angenehme und von ihm hochverehrte Dame seinen Abgang so zu bedauern schien. Jetzt tat es ihm leid: wirklich, er hätte öfter herkommen und versuchen sollen, sie von ihren einsiedlerischen Schrullen und den Grillen toter Liebe abzubringen, denn von einer ihm so sympathischen Häuslichkeit, voller Blumen und Ordnung und voll einer pedantischen Reinlichkeit, gerade so wie er sie wünschte, war nirgendwo anders etwas zu finden. Ach, es war ein betrüblicher Zustand, Junggeselle zu sein! Besonders, wenn man älter wurde. Ach, daß man des erst so recht inne wird, wenn es zu spät ist! Welchen Ärger hatte man mit Wirtschafterinnen, diesen alten Drachen; man darf nicht einmal aufmucken. Und nimmt man eine junge, hübsche Person, so ist man nicht sicher, daß man sie nicht eines Tages, falls man unvermutet heimkommt, mit einem Galan im eigenen Junggesellenbett findet. Ach, es war schon ein schlimmer Zustand, das Junggesellentum! Auch er sandte einen vorwurfsvollen Blick hinüber zum Bild des uniformierten jungen Mannes. Und das schlimmste war, daß er jetzt von Berlin fort mußte; Berlin bot doch wenigstens einige Surrogate: Theater, Konzerte, Paraden, öffentliche Amüsements aller Art, und nicht zum wenigsten den Hof. Wenn man sich auch nicht mit allem einverstanden erklären konnte, was bei Hofe vor sich ging – die Prinzen lebten etwas reichlich locker, besonders der Thronfolger, dessen kostspielige Dirnenwirtschaft auch den großen König ärgerte –, so war es doch immerhin eine erfreuliche und ehrende Auszeichnung, zu Hofe geladen zu werden. Des allen sollte er nun aber verlustig gehen, denn wenn er auch avancierte zum Regierungsdirektor – was bot ihm Stendal?!

»Stendal?!« Die Witte schrie laut auf: Stendal, da lebte ja ihre Schwester, Frau von Weiß, und im Hause der Eltern ihre geliebte Lotte! Sie schlug die Hände zusammen, sie errötete wie ein junges Mädchen vor lauter Freude. »Da müssen Sie aber gleich Besuch machen. Meine Schwester wird hocherfreut sein. Bringen Sie Grüße von mir als Postillon d'amour, viele innige Grüße!«

Ursinus räusperte sich, als sei ihm etwas in die Kehle gekommen: natürlich würde er doch Besuch machen, wenn ihm auch der Mann selber wegen seiner ihm wohlbekannten Antezedenzien nicht gerade sympathisch war. Aber das sagte er natürlich nicht.

Das Fräulein war ganz aufgeregt: »Wie wird sich Lotte freuen! Oh, sie wird glücklich sein!«

»Meinen Sie?« Ursinus lächelte ein wenig geschmeichelt.

»Sie wird sich nicht kennen vor freudiger Überraschung. Kann sie doch schöne Reminiszenzen mit Ihnen feiern. Ich gebe Ihnen für Lotten ein Briefchen mit, geben Sie's ihr heimlich, bitte, meine Schwester Weiß braucht es nicht zu lesen. Ich muß Lotten manches schreiben, was nur für sie allein bestimmt ist. Ach, die arme Lotte, sie ist so wenig am Platz im Hause der Eltern!«

»Ist das möglich?« Ursinus war ganz erstaunt: »Ich denke, ein junges Mädchen blüht am schönsten und glücklichsten, umhegt im Elternhaus.«

»Lotte ist nicht mit der gewohnten Elle zu messen. Sie ist etwas ganz Besonderes, weit hinausgewachsen über ihr Elternhaus. Meine Schwester ist, Gott sei's geklagt, etwas zu sehr für Äußeres – Kleider, Putz, Gesellschaften –, und dafür ist Lotte nun gar nicht. Sie ist ernst und gediegen über ihre Jahre hinaus. Ihr Sinn ist weit mehr auf Inneres gerichtet. Was habe ich mit Lotten für ernste Gespräche geführt! Ein wahrhaft gediegenes Mädchen!«

»Ach?!« Der Geheimrat war ganz erstaunt, das hatte er noch gar nicht bemerkt.

»Und von einem tiefen religiösen Gefühl erfüllt. Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber sie ist, durch die Haukes veranlaßt, zur protestantischen Kirche übergetreten, und ich kann ihr deswegen nicht einmal zürnen, denn sie ist ebenso gottgläubig und gottesfürchtig wie wir Katholiken.«

*

Als der Geheimrat und Regierungsdirektor Ursinus am Hause des Herrn von Weiß zu Stendal den lang herabhängenden Draht der Hausglocke, der vom Regen rostig geworden war, zog und ein schepperndes Geklingel ihm in die Ohren gellte, sah er plötzlich eine Katze vor sich stehen auf der oberen Hausschwelle. Sie war kohlschwarz, hatte kein weißes Härchen an sich, ihre grasgrünen gläsernen Augen mit den gegen das Licht zu einem länglichen Strich gewordenen, senkrecht stehenden Pupillen sahen ihn unheimlich starr an. Ein abergläubischer Schreck durchrieselte ihn: schwarze Katze über den Weg bedeutet Unheil. Wo kam diese ekelhafte Bestie auf einmal her? Er scheuchte sie, aber sie rührte sich nicht vom Fleck, machte nur einen hohen Buckel und sträubte das Fell. Was hieß das, sollte sie ihm den Eintritt wehren? War sie ein Zeichen der Warnung, von höherer Macht gesandt? Unruhe überkam Ursinus. Sollte er lieber gehen, ein andermal wiederkommen oder besser gar nicht? Aber schon hatte sich die Tür geöffnet und ein höchst harmlos aussehender junger Mensch, mehr einem Bauerntölpel als einem herrschaftlichen Diener gleichend, bat ihn, einzutreten. Er konnte nicht mehr zurück, denn schon rief eine Frauenstimme aus dem oberen Stockwerk: »Wer ist da?«

»Besuch!«

»Frage Er doch nach dem Namen!«

»Hier meine Karte!« Der Geheimrat schickte den Tölpel mit seiner Karte nach oben. Kaum, daß der oben sein konnte, so rauschte es auch schon die Treppen herab. Frau von Weiß, hochgeschnürt, das Haar gepudert, sorgfältig angezogen, kam, beide Hände ausgestreckt, auf ihn zu: »Wie freue ich mich, verehrter Herr Geheimrat! Gleich beim Aufstehen heute morgen sagte mir's eine innere Stimme: Heute kommt er! Ich bin ja so glücklich, endlich in der Lage zu sein, Ihnen danken zu können für die große Freundlichkeit, die Sie meiner Lotte erzeigt haben. Jahre ist's her, aber ich habe Ihre damalige Güte immer in dankbarer Erinnerung bewahrt. Darf ich bitten?« Und sie führte ihn an der Hand wie im Triumph in ihren Salon zu ebener Erde.

Da saß Lotte und stickte.

»Sieh mal, Lotte, wen ich dir hier bringe! Deinen ehemaligen Reisegefährten und liebenswürdigen Beschützer!«

Langsam hob die junge Dame die gesenkten Augen; sie blickten ein wenig getrübt durch das angestrengte Sehen auf die unendlich mühsame, feine Perlenstickerei, aber jetzt, Ursinus erkennend, wurden sie groß und leuchtend: Gott sei Dank, endlich ein Mensch! Einer, der etwas zu erzählen wußte, das sie interessierte, er kam von Berlin, von Berlin! Und aufspringend und so achtlos die Arbeit zur Seite werfend, daß die Perlen niederrieselten, begrüßte sie ihn: stand Berlin noch, und hatte er noch Tante Christiane gesehen?

Berlin ließ seine schöne Freundin grüßen, und die Tante die über alles geliebte Nichte auch. Ursinus erging sich in blumigen Redensarten. Die seine Laune zerstörende schwarze Katze war völlig vergessen. Was war aus seiner kleinen Schutzbefohlenen für eine herrliche Erscheinung geworden! Sie war jetzt noch schöner, als da er sie von Charlottenburg abgeholt und durch Berlin geführt hatte!

Charlotte befragte ihn mit großer Lebhaftigkeit nach vielem: brauste das großstädtische Leben noch in gleicher Weise durch die langen und breiten Straßen, zog das Militär noch mit klingendem Spiel auf, schrien die Schusterjungen noch so keck, und ritt der große König noch immer seinen Schimmel von der Parade und zeigte sich seinem ihn in Ehrfurcht grüßenden Volk? Sie war liebenswürdig und überaus angeregt.

Ursinus nicht minder. Es machte ihm Freude, von seinem lieben Berlin zu berichten; so war ihm das doch nicht ganz entschwunden. Er hörte sich zudem gern erzählen; mit einem kleinen Stich ins Lehrhafte sprach er geläufig und gut.

Frau von Weiß saß still dabei, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit führte sie heute nicht das große Wort. Das hatte sie ja gar nicht gewußt, daß der Geheimrat mit Lotten in Berlin zusammengewesen war, sie da herumgeführt hatte. Davon hatte ihr die Tochter kein Wort gesagt – worauf ließ das schließen? Daß sie sich für ihn interessierte? Das gebe Gott! Und er für sie? Das gebe Gott erst recht! Er war ein reifer, ein etwas sehr reifer Mann, aber welches Mädchen, das er erwählte, könnte sich nicht glücklich schätzen?

Nach Herrn von Weiß wurde gar nicht gefragt. Erst als Ursinus schon im Begriff stand, sich zu verabschieden, fiel es ihm ein.

»Weiß wird sehr bedauern«, sagte seine Frau, »er ist leider etwas unpäßlich. Aber wir hoffen, sehr werter Herr Geheimrat, Sie recht bald und für länger bei uns zu sehen. Würde Ihnen vielleicht der nächste Sonntag genehm sein? Um 1 Uhr zu Tisch – ganz ungezwungen, nur im Familienkreis.«

Der Geheimrat erinnerte sich plötzlich wieder der schwarzen Katze: war das nicht gleich zu intim? Er war von Natur schüchtern und durch Erziehung zurückhaltend, so zögerte er mit der Zusage.

»Ach ja, kommen Sie«, sagte da Charlotte und sah ihn so freundlich auffordernd an, daß seine Zurückhaltung Zusage wurde. Warum denn auch nicht, warum sollte er seinen langweilig einsamen Sonntag nicht lieber in der angenehmen Gesellschaft dieser liebenswürdigen jungen Dame verbringen? Er hatte ihr ja auch noch so vieles von der Tante auszurichten; Christiane Witte hatte ihn ganz zu ihrem Vertrauensmann und Berater gemacht. Es gelang ihm, das Briefchen, das sie ihm geheim mitgegeben hatte, nur von Lotte bemerkt unter deren zur Seite geworfene Handarbeit zu schieben. Lotte dankte ihm mit einem schnellen Zwinkern ihrer von seidigen Härchen langbewimperten Lider.

Ursinus kam sich kühn vor und auch wichtig.

*

Es machte sich ganz ungesucht, daß der Geheime Gerichtsrat und Regierungsdirektor bei den Weiß verkehrte. Man sah ihn fast jede Woche mindestens einmal den vom Regen rostig gewordenen, langhängenden Draht der Klingel am Weißschen Hause ziehen. Ursinus sah keine schwarze Katze mehr, er sah nur das weiße Miesekätzchen mit himmelblauen Augen, das Charlotte von Weiß in ganz feinen Perlen auf ein Stuhlkissen stickte. Es war ihm recht behaglich, dabeizusitzen und zuzusehen, wie ihre schlanken Finger ein Perlchen nach dem andern auf die Nadel spießten. Saß sie auch nicht zu viel so übergebeugt, und strengte sie sich auch nicht die schönen Augen zu sehr an? Es war nicht Mode, daß junge Mädchen draußen spazierengingen, Tanzen war eigentlich die einzige angemessene Leibesübung, aber Lotte mache sich ja viel Bewegung im Hause, versicherte ihm die Mutter. Ach, wenn sie die tatkräftige Unterstützung Lottens nicht hätte, wie sollte sie dann wohl auskommen mit so wenigem Personal? Der Diener war ein Tölpel, aber er war wenigstens ehrlich, darum behielt man ihn, und auch die Jungfer, die zwar so launisch war, daß keine Köchin neben ihr aushielt. Aber da sie perfekt im Schneidern war, mußte man ihr die Launen nachsehen und das Kochen selber besorgen.

»Das hat Lotte gekocht – das hat Lotte gebraten – diesen Kuchen hat Lotte gebacken«, das bekam Ursinus bei jedem Imbiß zu hören, den er im Weißschen Hause einnahm. Welch eine Geschicklichkeit in Handarbeiten, und welch eine Tüchtigkeit in Küche und Keller! »Nimm nie eine zur Frau, die nicht gut kochen kann«, hatte seine Mutter immer gesagt, »der Männer Liebe geht durch den Magen.« Und sein Magen war besonders aufmerksam zu behandeln. Ursinus litt nach des Arztes Meinung und besonders nach seiner eigenen an einem chronischen Magenübel. Welche Ursache dieses Übel eigentlich hatte, hatte noch nicht festgestellt werden können, soviel er auch dokterte, fleißig Pillen nahm, um den trägen Darm anzuregen, und alle Frühjahr und Herbst zur Ader ließ. Sowie er etwas schwer Verdauliches aß, bekam er Herzklopfen, saures Aufstoßen und Vapeurs, die ihm beängstigend zu Kopfe stiegen.

Die sorgfältige Kochkünstlerin hatte bald heraus, was ihm bekam und was ihm nicht bekam. Wenn sie ihm am Mittag eine junges Hühnchen vorsetzte, das sie selber gerupft, ausgenommen und weichgeschmort hatte, oder zum Abend ein Grießbreichen mit Milch, wie man es kleinen Kindern kocht und Zucker darüberstreut, so schmeckte ihm das nicht nur ausgezeichnet, sondern sein Magen dachte auch gar nicht daran, zu rebellieren. Am Ende war sein Magenleiden doch kein so unheilbares, wie er leider öfter schon hatte fürchten müssen. Nach solchen bekömmlichen Mahlzeiten schwanden Ursinus die hypochondrischen Gedanken, und er bemerkte auch nichts von den anderen Übeln, die ihn zuweilen beunruhigten. Das waren eben nur Zeichen, daß die Manneskraft mit den Jahren nachläßt, besonders bei einer von Jugend an so zarten Konstitution. Man sitzt auch nicht seit Jahren ungestraft über den Akten, betätigt nur den Geist und niemals den Körper.

Ursinus wurde zusehends frischer, vor allem vertrauender auf sich selber, die Nähe des jungen, schönen Mädchens, das töchterlich-vertraulich sich ihm gegenüber gab, wirkte auf ihn wie ein Jungbrunnen. Er setzte sogar ein wenig Fett an, wenn man bei seiner Magerkeit auch noch nicht viel davon sah.

»Er macht eigentlich sehr gute Figur«, sagte Frau von Weiß, als Ursinus sich verabschiedet hatte und sie ihm vom Fenster aus nachsah. Kerzengerade sich haltend und vorsichtig über hochstehende Pflastersteine balancierend, um nicht in die Pfützen der aufgeweichten Straße zu treten, wirkte die lange hagere Erscheinung recht vornehm.

»Er sieht jetzt besser aus wie damals, als ich mit ihm nach Spandau fuhr, und auch besser als in Berlin.« Charlotte dachte daran, wie alt er ihr damals vorgekommen war.

»Du bist eben jetzt auch älter geworden, liebe Lotte, und infolgedessen nicht mehr so kindisch, einen gesetzten Mann gleich einen alten zu nennen. Er ist in den besten Jahren. Du bist schon achtzehn, gehst auf die neunzehn zu, und das ist für ein Mädchen auch nicht mehr jung.« –

Ob er sich wohl bald erklären würde? Das war für Frau von Weiß der erste Gedanke am Morgen und der letzte am Abend. Wenn sie in dem großen Gardinenbett des Alkovens neben ihrem Gatten lag, setzte sie ihm ebenso zu mit ihren Hoffnungen wie mit ihren Zweifeln. »Ach, das wäre herrlich, wenn es nun bald so weit wäre! Ich möchte wirklich auch mal etwas Besseres essen als nur mageres Gemüse und dünne Suppen. Für dich ist ja fleischlose Kost das Bekömmlichste, ich und Lotte, wir müßten uns aber etwas zusetzen. Doch wie kann ich das? Stets Sonntags zu Mittag und dann in der Woche auch öfter noch abends, das kostet viel. O Gott, wenn das alles umsonst wäre!«

Herr von Weiß schwieg: was sollte er auch sagen? Er war ja nicht gefragt worden, als seine Frau diesen durch und durch trockenen Beamten, diesen ledernen Aktenmenschen mit Gewalt ins Haus zog. Wenn sie nun einen Fehlschlag erleben würde, so könnte er ihr den gönnen. Aber er durfte das ja nicht wünschen, Lottens wegen. Lotte mußte sich bald verheiraten, versorgt sein, denn, was seine Frau noch nicht wußte, aber er bereits, das war seine Pensionierung, die demnächst erfolgen würde. Eine magere Pension und kein Vermögen! Aber, wenn er auch nicht pensioniert würde, er hätte selber darum bitten müssen. Ach, er konnte ja nicht mehr! Die Schmerzen, die ihn jetzt fast täglich überfielen, an seinem Schreibpult, bei den Sitzungen, verzerrten sein Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse, weil er lächeln mußte, um die Kollegen seine Pein nicht merken zu lassen.

»Du sagst ja gar nichts, Weiß! Es ist wirklich traurig, wie wenig du dich interessiert!«

»Ich interessiere mich schon.«

»Lottens Wohl liegt dir viel zu wenig am Herzen.«

Lottens Wohl –?! Es war gut, daß es dunkel war und die Frau den seltsamen Ausdruck nicht sehen konnte, den das Gesicht des Vaters bekam. War das denn Lottens Wohl, wenn sie diesen schon ältlichen und dazu noch kränklichen Mann heiratete? Herr von Weiß seufzte tief.

»Hast du wieder Schmerzen?«

»Nein, danke, es geht.«

»Du mußt zusehen, Weiß, daß die Sache endlich in Fluß kommt. Er hat viel übrig für sie, sie auch etwas für ihn – also warum nicht? Keine Frau kann einen Ehegemahl gerade so haben, wie sie ihn vielleicht haben möchte. Es ist jetzt das erste, deine ganz verdammte Pflicht und Schuldigkeit, daß du ihm den nötigen Schubs gibst: voran!«

»Wie soll ich das?« Es klang sehr kläglich.

»Du mußt!« Das klang sehr streng.

*

Nun war die Pensionierung des Kammerrates von Weiß doch statt eines Unglücks zu einem Glück geworden. Sie gab den Anlaß, daß Ursinus sich erklärte. Er kam und fand das schöne Mädchen in Tränen.

Ganz gegen ihren Willen mußte Charlotte weinen, denn was änderte diese Pensionierung eigentlich für sie? Das Trugbild eines vornehm geführten, herrschaftlichen Hauses war das der Weiß immer gewesen, es würde nach außen dasselbe bleiben. Vielleicht daß der Diener entlassen wurde, man scheuerte dann bei Nacht selber die Stiegen; man machte, elegant angezogen, weiter Gesellschaften mit, schnitt sich die Scheibe Brot nur dünner und kochte die Suppen noch magerer. Also für sie blieb es ziemlich dasselbe, und doch weinte sie. Nicht Mitleid mit der Mutter, die ganz außer sich war und von ihrer sonstigen Haltung ganz verlassen, war es, was ihr Tränen kostete; auch nicht Mitgefühl für den Vater war es. Nur Empörung, Empörung gegen ein Schicksal, das gerade sie dazu verdammte, hier in diesem Hause, in dieser Misere, in diesem Stendal zu leben. Es verlangte sie glühend heraus. Sie war im Kerker, war hinter vergitterten Luken, Eisenhörner an der Stirn gleich jenen Unglückseligen, die schwere Karren schieben, die klirrende Kette mit der Kugel am Bein nachschleppen.

Sie hatte Ursinus heute nicht eintreten hören. Wie ein Bild versteinerten Jammers saß sie da, nur lebendige Tränen rannen.

Der Geheimrat ging auf Zehen: das war ja rührend, wie diese gute Tochter sich für den Vater grämte! Und doch war es Zeit gewesen, höchste Zeit, daß der gar nicht mehr zu brauchende Beamte den Abschied bekam – er fühlte sich selber nicht ganz unschuldig an dieser Verabschiedung. »Fräulein Charlotte! Fräulein Lotte!«

Sie rührte sich nicht.

»Fräulein Lottchen!«

»Oh, mein armer, armer Vater!«

Ihr schluchzender Ton war so rührend, die Gebärde, mit der sie die Hände rang und dann vor das betränte Gesicht schlug, so ergreifend, daß Ursinus sich tief bewegt fühlte. Er vergaß, daß er eigentlich gerade gestern endgültig beschlossen hatte, lieber fest zu bleiben und nicht zu heiraten – die schwarze Katze war ihm wieder einmal zu Gesicht gekommen. Aber eine so gute Tochter wird auch eine gute Gattin sein. So legte er zart den Arm um die Weinende: »Meine geliebte Lotte!«

Da seufzte Charlotte von Weiß tief auf, und ihre Rechte entschlossen in seine Hand legend sagte sie fest: »Ich bin die Ihre!«


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