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Zweites Kapitel

Ob Nanette, die Jungfer, beim täglichen Frisieren der gnädigen Frau etwa Andeutungen gemacht hatte? Nanette ärgerte sich schon lange über die Vertrautheit der französischen Mamsell mit dem Fräulein. War sie, Nanette, denn nicht ebenso viel wie diese dumme junge Person, die nur ein bißchen Französisch parlieren konnte? Konnte die vielleicht das Haar so fein toupieren, daß es hoch stand über der Stirn und dann von hinter den Ohren her in langen gedrehten Locken nach vorn auf den Hals fiel? Und verstand die, eine Casaque so geschickt zu schneidern, daß sie bauschte und doch nicht dick machte?

Die Jungfer hatte eine geheime Wut auf die französische Mamsell. Ehe die gekommen war, hatte sie bei dem Fräulein geschlafen, ihr Bett hatte nicht in der Dienstbotenkammer gestanden, die nur ein winziges Fensterchen besaß und stets halb dunkel war und ganz ohne Ofen. Auch hatte sie der Bediente da nicht so oft belästigen können. Oh, sie war eine anständige Person, eine sehr anständige, sie würde dem jungen Fräulein nicht solch unanständige Geschichten erzählt haben, wie die Französin es tat! Nanette verstand sich aufs Lauschen, sie hatte das »Du« gehört und auch noch anderes.

Es war an einem Abend, als Herr und Frau von Weiß wieder in Gesellschaft gegangen waren, Charlotte lag schon im Bett, Zéphire saß noch am Schultisch und schrieb einen Brief an ihren Geliebten.

Charlotte diktierte. »Nun schreibe: ›Du, mein Geliebter, Sehnsucht meiner Seele, einziger Wunsch meines Lebens!‹«

»Aber so kann ich doch nicht schreiben!«

»Schreibe: ›Einziger Wunsch meines Lebens! Ich sehne mich so nach Dir, daß ich krank bin. Wann werden wir uns wiedersehen? Wann uns küssen, wann uns in den Armen halten, von niemandem belauscht? Wenn das nicht bald sein kann, dann sterbe ich. Ich werde an den Fluß gehen – der ist tief –, ich werde mich ertränken, mich und mein Verlangen.‹«

Zéphire fuhr auf: »Non, mais – non, das kann ich nicht schreiben! Er wird sich ängstigen, er wird glauben, daß es die Wahrheit ist.«

Das Mädchen lachte: »Nun, so laß es ihn doch glauben.« Und altklug setzte sie hinzu: »Das schadet gar nichts, wenn ein Mann sich ein bißchen um uns ängstigt, desto liebevoller ist er nachher.«

»Nein, ich kann so nicht schreiben!« Zéphire sagte es weinerlich. »Ich werde schreiben, wie mir wirklich zumute ist: daß ich ihn liebe, so liebe, daß ich geduldig warten will, bis wir uns wiedersehen. Ganz geduldig warten werde und sparen, sparen, bis wir so viel beisammen haben, daß wir uns heiraten können.«

»Du bist dumm!« Charlotte rümpfte das feine Näschen. »Und was hast du dann? Dann bist du doch alt und häßlich, denn so lange dauert es sicherlich, bis ihr so viel gespart habt, daß ihr heiraten könnt. Wenn du ihn aber recht ängstigst, dann sputet er sich, dann wird er alles tun, um dich eher heiraten zu können. Also schreibe: ›Oder ich werde zu einem Apotheker gehen, und er wird mir das geben, was ich, ein einsames, verlassenes Mädchen, das keinen Freund auf Erden mehr hat, brauche, damit es –‹«

»Oh, mon Dieu! Non, non!« Zéphire hob abwehrend die Hände: »So etwas kann ich nicht schreiben. Das ist ja lauter Unsinn.«

»Gar kein Unsinn. Aber wenn du nicht willst, dann laß es.« Charlotte war ärgerlich, sie hatte sich ganz hineingedacht in die Rolle eines liebend-verzweifelnden Mädchens. »Ich würde jedenfalls so schreiben.« Sie wendete sich im Bett nach der Wand und kehrte der Stube den Rücken.

Es blieb eine Weile still, nur Zéphires Gänsekiel kratzte wieder über das Papier. Plötzlich hielt das Kratzen inne, die kleine Zéphire warf den Gänsekiel hin, seufzte und stützte den Kopf in die Hand: ach, es war wirklich eine recht aussichtslose Sache! Lotte hatte recht: man wurde alt und häßlich darüber. Ihre Tränen fingen an zu rinnen und machten große runde Flecken auf dem dünnen Papier des Briefbogens. Und sie hatte doch wirklich so großes, großes Verlangen. Ein Schluchzen stieg in ihr auf – ach, da stand er ja vor ihrer Sehnsucht, der Liebe, der Geliebte! Wie hübsch er ist, stramm und schlank, die Knöpfe an seiner Uniform blitzen – seine Augen blitzen nicht minder – er schaut zu ihr, die verstohlen hinterm Vorhang lugt, mit einem raschen Blick hinauf. Zu ihrem Fenster steigt es empor mit verliebten Grüßen. Die Grenadiere marschieren, ihre Beine in den gelben Gamaschen heben und senken sich so gleichmäßig, als steckte eine Maschine in ihnen – trab, trab, eins, zwei, eins, zwei – sie hört es ganz deutlich. Die Regimentsmusik spielt, der junge Leutnant, den Säbel gezogen, führt sie zur Übung auf die Tempelhofer Heide, und ihre achtzehn Jahre ziehen hinterdrein. »Oh, mon Dieu, mon Dieu!« So nah, so nah, und doch so fern, so erschrecklich fern! Es würgte sie in der Kehle. Und wenn sie daran dachte, daß sie morgen in aller Frühe wieder in diese scheußliche kalte Kirche mußte, in der sie nicht beten konnte, in der der seit Jahrhunderten drinsteckende, mit Moder feucht durchschwängerte Weihrauchdunst ihre Kehle zum Husten kitzelte, dann war es ihr besonders traurig zumute. ›Ein einsames, verlassenes Mädchen, das keinen Freund auf Erden mehr hat‹ – sie schluchzte laut.

»Siehst du, nun weinst du!« Charlotte hatte sich wieder nach der Stube gekehrt. Sie hatte noch nicht geschlafen, ihre Gedanken waren noch bei Zéphires Brief und waren all den Empfindungen nachgegangen, die die Schreiberin erregt hatten. Zéphire hatte ihr so oft von dem Geliebten erzählt, daß sie ganz genau wußte, wie der aussah, wie er sprach, selbst den Klang seiner Stimme, der noch nicht rauh war, noch ein wenig jünglinghaft hoch, hatte sie im Ohr. Liebte auch sie ihn? Nein, so dumm war sie nicht, daß sie sich solch einen pauvren kleinen Leutnant aussuchen würde, der im Monat nichts hatte als seine zehn Taler Sold. So pauvre zu sein, war unerträglich, ebenso unerträglich wie es war, hier in dem langweiligen Nest zu wohnen und alle Morgen in die graue Kirche zu laufen, in der sie das Bilderbuch am Hochaltar nun schon so oft gesehen hatte, daß sie das herzlich satt hatte. Ach, wie kalt würde es morgen wieder da sein! Zéphire hatte in Berlin erst viel später in ihre Kirche gemußt. Und auch nicht zu knien hatte die gebraucht auf eiskaltem Steinboden, sondern bequem gesessen in einer Bank. Es fror sie. »Ich höre den Wind am Fenster, er bläst bis hierher. Laß das Schreiben, Zéphire, komm zu mir, daß wir uns wärmen!«

Und Zéphire gehorchte. Sie hielten sich fest umschlungen und flüsterten. Da öffnete sich plötzlich die Tür, sie hatten keinerlei Geräusch gehört.

Mit einem raschen Schritt trat Frau von Weiß ein. Zéphire hatte nicht mehr die Zeit, hinüber in ihr Bett zu schlüpfen; sie war aufgesprungen und stand nun im kurzen Hemdchen zitternd vor der Gnädigen – eine arme ertappte Sünderin.

Auch Charlotte war sehr erschrocken; sie war bleich geworden, aber mit Trotz sah sie die Mutter starr an.

Frau von Weiß kochte vor Empörung. »Was – wie – und das untersteht Sie sich?« fuhr sie die Mademoiselle an. »Ich habe es nicht glauben wollen, nun sehe ich es ja selber. Heraus aus dem Zimmer, heraus hier! Packe Sie ihre paar Sachen zusammen, morgen mit dem Frühesten verläßt Sie mein Haus!«

»Oh, Madame, pardon, mille fois pardon, haben Sie Mitleid mit mir, gnädige Frau! Es soll nie mehr wieder geschehen, haben Sie Erbarmen mit mir! Ich bitte sehr, jagen Sie mich nicht fort – meine Mutter, oh, meine arme Mutter!« Zephire weinte, sie hob flehend die Hände: wie konnte sie so plötzlich zu Hause bei der Mutter auftauchen, weggejagt, ohne Stellung! Sie machte Miene, sich vor der gnädigen Frau niederzuwerfen.

Frau von Weiß wich zurück. »Keine Sentiments«, sagte sie streng. »Ich kann keine Person im Hause dulden, die ein Kind zu Ungehorsam und Unschicklichkeiten verführt.«

»Sie hat mich nicht verführt«, schrie plötzlich Charlotte. Sie bäumte sich auf, sie ballte die Fäuste. »Warum lassen Sie uns so frieren, warum wird hier nicht mehr Holz in den Ofen getan? Weil Sie pauvre sind, ganz miserabel pauvre!« Sie kreischte gellend, sie zitterte am ganzen Körper. »Zephire soll nicht gehen, Zephire soll bei mir bleiben! Wenn eine andre kommt, ich kratze sie ins Gesicht! Ich will nicht mehr in die Kirche gehen – ich friere, oh, wie ich friere! Ich sterbe!« Sie verdrehte die Augen, Schaum trat ihr vor den Mund.

Entsetzt riß die Mutter am Klingelzug: »Hilfe! Das gnädige Fräulein hat Krämpfe!«

Das gnädige Fräulein wurde jetzt ganz steif.

Nanette stürzte herbei, der Bediente, Herr von Weiß schon im Nachtkamisol. Die Eltern aufgelöst vor Schrecken, die französische Mamsell im Hemde und in verzweifelten Tränen – eine unbeschreibliche Szene. – – – –

Es hatte Charlotte nichts genutzt, am anderen Tage verließ Zéphire das Haus. Gerade noch, daß man sie so lange duldete, bis die Post nach Berlin abging. Einen dichten Schleier übergehängt, daß man ihr verweintes, von den vielen Tränen ganz zerstörtes Gesicht nicht sehen sollte, bestieg sie den Postwagen. Nanette schmiß ihr den Reisekorb nach: dich bin ich los! Aber wenn sie gedacht hatte, nun von der Demoiselle wieder in alten Gnaden angenommen zu werden, so hatte sie sich getäuscht.

Charlotte war krank, blieb auch noch lange krank. Vergebens flehte die Mutter sie an, eine Suppe zu sich zu nehmen; es wurde etwas Besonderes für sie gekocht, ein Lieblingsgericht, aber auch das verschmähte sie. Mit einer Zähigkeit sondergleichen hielt sie daran fest, nichts zu essen.

»Eine Krise, eine Krise«, sagte der Medizinalrat, den die besorgten Eltern zu Rate zogen, »die liegt in den Jahren.« Weiter wußte er nichts. Er verordnete kalte Umschläge auf den Kopf, heiße Umschläge auf den Leib und Baldriantee, der die Stube mit seinem widerwärtigen Geruch erfüllte, denn die Patientin goß ihn heimlich hinter das Bett. Und die Umschläge vertauschte sie, sowie sie allein war; die heißen auf den Kopf, die kalten auf den Leib.

»Sie hat Fieber, hohes Fieber«, seufzte die Mutter, »ihre Stirn glüht, schon wieder ist die Kompresse ganz heiß.« In diesen Tagen gab es Augenblicke, in denen Frau von Weiß sich doch heimlich Vorwürfe machte, die französische Mamsell so Knall und Fall hinausgeworfen zu haben. Es war zwar empörend, was diese Person sich erlaubt hatte – ›Du‹, und des Fräuleins Bett mit zu benutzen! – man hätte sie natürlich in einigen Wochen entlassen, doch erst wenn Lotte gesund war. Aber es schien der stolzen Frau wiederum unmöglich, sich nur einen Tag länger so demütigen zu müssen. Sie redete Charlotte zu, sie ging sogar so weit, ihr zu versprechen, keine andere Mamsell mehr ins Haus zu nehmen. Herr von Weiß erschien immer wieder ängstlich am Bett seines Töchterchens und streichelte das über den Bettrand niederhängende, keinen Druck erwidernde schlaffe Händchen. – –

Als Charlotte es vor quälendem Hunger nicht mehr aushalten konnte, wurde sie wieder gesund. Sie bekam freilich noch einmal einen Rückfall, als sie an Zéphire geschrieben hatte und nun die Mutter nach deren Straße und Hausnummer fragen mußte, denn diese Angabe war nötig in dem großen Berlin. Aber Frau von Weiß behauptete, sie nicht zu wissen. Da zerriß Charlotte ihren Brief in winzige Fetzchen, stampfte mit den Füßen und fiel wieder zuckend aufs Bett.

Nach und nach verloren sich solche Krisen. Aber es war, als sei etwas anderes hineingekommen in Lottes Gesicht – war die reine Stirn dieses Engelsantlitzes nicht mehr ganz so rein? War dies zarte schöne Oval des Gesichtes nicht mehr ganz so kindlich? – –

»Es wird das beste sein, wir geben Lotten jetzt zu unserer Hofrätin nach Spandau«, entschied die Mutter, »da sie doch durchaus keine neue französische Mamsell mehr leiden will. Und ich muß sagen, nach den gemachten Erfahrungen ist es mir selbst lieber, es kommen solche Weibsbilder nicht mehr ins Haus. Jettchen ist eine vorzügliche Person, eine vorbildliche Gattin und Mutter, Lottchen hat da nur Gutes vor Augen, und wir haben die schönste Gelegenheit, sie weiterbilden zu lassen. Ihr Französisch ist noch immer mangelhaft. Und einen Tanzmeister hat sie noch gar nicht gehabt.«

Herr von Weiß war diesmal ganz einverstanden mit seiner Gattin: sie hatte recht, obgleich er sein Töchterchen schwer vermissen würde, war es für dessen Wohl so das beste. Wenn nur die unvermeidlichen Kosten der Reise und der weiteren Bildung nicht wären! Wenn Hofrats sie auch sicher gern umsonst aufnehmen würden, bare Ausgaben konnte man ihnen doch nicht zumuten.

»Ich werde an meine Schwester Christiane nach Charlottenburg schreiben«, sagte Frau von Weiß. »Es muß ihr doch eine Freude sein, für ihr Schwesterkind etwas zu tun.«

*

Fräulein Christiane Sophie Regine Witte saß in ihrer hübschen kleinen Wohnung, die sie in dem ersten Stockwerk eines angenehmen Landhauses inne hatte, an der baumbepflanzten Landstraße, die fast vom großen Tiergarten bei Berlin bis zum Königlichen Charlottenburger Schloß einigermaßen gut chaussiert hinlief, und wunderte sich. So hatte ihr Schwester Ernestine ja noch nie geschrieben, so liebreich und so vertrauensvoll! Schon die Anrede: »Teure, geliebte Schwesterseele!« tat ihr unendlich wohl.

Durch die fast unmöglich zu überbrückende Entfernung nach Wien – selbst eine Extrapost brauchte dorthin acht Tage – war bei aller Liebe doch eine gewisse innere Trennung eingetreten; auch als die Weiß nach Stendal übersiedelt waren und einmal die in Spandau verheiratete Tochter besuchten, hatte man sich nicht wiedergefunden. Nicht, daß man nicht einen gewissen Anteil aneinander genommen und auch gern an die gemeinsam im Elternhaus zu Berlin verlebten harmlos-glücklichen Mädchenjahre zurückgedacht hätte, aber wenn viele Meilen von Sand und Moor dazwischen liegen, dann wird eben auch das Band von Herz zu Herzen lockerer. Stendal konnte man in einer Tagereise erreichen, Frau von Weiß hatte auch einmal zu einem Besuch aufgefordert, aber wie es die empfindsame Christiane dünkte, nur so nebenbei. Und so hatte die Demoiselle Witte sich ganz in ihr einsames Leben eingesponnen und in die Erinnerungen an den verlorenen Freund. Es schien ihr auch nach Stendal zu weit; sie war ein wenig stark geworden und ein wenig kränklich und ein wenig bequem. Aber heute wachte ein warmes, lange in ihr verkümmertes Gefühl auf, als sie las, was die Schwester schrieb von nie erstorbener schwesterlicher Sehnsucht, und daß es ihr größter Wunsch sei, bevor Charon, der finstere Fährmann, sie in seinem Nachen entführe, die teure Christel noch einmal in die Arme zu schließen. Oh, was war mit Tinchen, dachte die Witte, war sie krank, daß ihr Gedanken an Scheiden und Tod kamen? Die Witte wurde ernstlich besorgt, und die Rührung über soviel immer noch zärtliche Liebe übermannte sie. Tränen tröpfelten nieder, sie weinte sich erst einmal recht satt. Dann aber jubelte es in ihr: Tinchen wollte, da sie nicht selber jetzt abkommen konnte, das Teuerste, was sie besaß, zu ihr schicken, das geliebte Kind Lotte, dessen Haupt alle Grazien geküßt hatten.

 

»Du glaubst nicht, wie beruhigend es mir ist, daß ich Dich so in der Nähe von Spandau weiß. Lotte soll einige Zeit bei unserer Hofrätin dort zubringen, da hier alle Möglichkeiten zu einer höheren Erziehung fehlen. Weiß und ich leben in leider recht beengten Verhältnissen, Weiß hat ein gänzlich unzureichendes Gehalt. Wir wissen zwar vor der Hand noch nicht, wie wir es aufbringen sollen, Lotten den Unterricht zuteil werden zu lassen, der unerläßlich für sie ist, will sie sich dereinst in der Welt die Stellung erringen, zu der ihre körperlichen und geistigen Gaben sie berechtigen, aber wir halten es für unsere Pflicht, wenigstens die Möglichkeit dazu anzubahnen. Du, geliebte Schwester, die Du Hand in Hand, Herz an Herz mit mir aufgewachsen bist, wirst es verstehen, welchen Kummer es mir bereitet, daß ich nicht die Mittel habe, diesem so begabten Kinde die allerbesten Lehrstunden zuteil werden zu lassen. Arme Mutter, ach, wo sind deine Wünsche, deine Hoffnungen hin, wohin deine ehrgeizigen Pläne?! Ach, meine geliebte Christiane, könnte ich doch an Deinem treuen Busen die Tränen ausweinen, die ich vor der mißgünstigen Welt verbergen muß! Du allein verstehst mich, der Gedanke an Dich ist mir ein Trost.

Ich bitte Dich, schreibe mir mit wendender Post, ob Du ein mütterliches Auge auf meine Lotte haben willst und ob ich darauf rechnen darf, sie in Deine besondere Fürsorge aufgenommen zu wissen. Binnen acht Tagen bei günstiger Witterung soll sie reisen. Sie muß der Ersparnis wegen allein reisen. Ein Bekannter von uns, ein höherer Beamter, der hier zu tun hatte, soll um diese Zeit nach Berlin zurückkehren, wir werden versuchen, ihm Lotten anzuempfehlen. Der Himmel segne Dich, Du Teure! Alles, was Du an Lotten tust, wird er Dir vergelten. Mit Spannung Deiner Antwort entgegenharrend,

in unwandelbarer Liebe
Deine Schwester Ernestine von Weiß.«

 

Der Demoiselle Witte bleiches Gesicht hatte sich gerötet; nun sah sie noch ganz anmutig aus. ›Mütterliches Auge – besondere Fürsorge‹ – oh, wie gern wollte sie die kleine Lotte in ihre mütterliche Fürsorge nehmen! Ein Kind – sie hatte ja kein Kind, hatte in ihrer Jugend keines haben dürfen, und hätte doch gerne eins gehabt – nun würde sie, älter geworden, doch eins haben! Ja, Tinchen sollte ihr nur ihre Lotte schicken; von Spandau war es ja nicht weit, hier an ihrem Haus vorbei führte die große Straße dorthin, täglich marschierten Truppen nach der Festung, und regelmäßig verkehrte die Journalière. Ein Kind, ein Kind! Es würde sie besuchen, sie würde es sich holen können zur Erheiterung in ihrer Einsamkeit, schon fühlte sie warme liebende Händchen. Wie alt das Kind wohl sein mochte? Sie rechnete nach: die Hofrätin von Hauke war um vieles älter als das nachgeborene Schwesterchen – aber um wie viele Jahre genau? Jedenfalls war Lottchen noch längst nicht erwachsen. Ein Kind, ein Kind! Ach, Tinchen konnte ganz ruhig sein, sie würde schon sorgen, daß es dem Kind an nichts fehlte. Die besten Lehrer – selbstverständlich –, auch sie liebte Bildung und kam gern dafür auf. Und wenn das Kind einmal noch einen besonderen Wunsch hatte – gern, gern, dafür ist man doch liebende Mutter und vermögende Tante zugleich.


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