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Sechzehntes Kapitel

Wenn die Frau mit diesem langen nachdenklichen Blick ihren Gatten ansah, dann dachte sie jedesmal: wie lange noch? Wollte er es denn ewig machen? Konnte dieser, stets an Durchfällen leidende, von allerlei Erscheinungen des Alters geplagte und gar nicht mehr appetitliche Mann nicht endlich seine Augen schließen? Wie konnte man bloß so lange leben?! Sie war jetzt nichts weiter als die Wärterin eines unappetitlichen kindischen Greises. Und wenn sie darüber nun ganz verblühte? Wenn ihre Erscheinung nur mehr die einer Ruine war, was nutzte es ihr dann, daß sie Witwe war? Sie war sehr unglücklich.

Eine Ungeduld, nicht mehr zu zügeln, erfaßte ihr Herz. So wie damals in Stendal, als sie es in Erwägung gezogen hatte, selber den Minister aufzusuchen, der Versetzung nach Berlin halber, so trat sie auch jetzt vor ihren Spiegel. Jede Hülle fiel. Und sie mußte mit scharfen, sich nicht betrügenlassenden klaren Augen sehen, daß ihr Körper nicht mehr der gleiche war, nicht mehr das schlanke, wunderbar reine Ebenmaß der Formen hatte. Wohl war der Nacken noch schön, und die Arme waren klassisch, aber die Hüften hatten an Schlankheit verloren, der Busen stand nicht mehr so fest und prall mit rosigen Knospen. Es war der Körper einer Frau, die gelebt und geliebt hatte. Und wenn sie das noch einmal wollte, leben und lieben, dann war es jetzt Zeit. Selbst ihr Gesicht kam ihr so schön nicht mehr vor. Zeit, höchste Zeit!

Gab es denn einen, nach dem sie Verlangen getragen hätte? Zurzeit keinen. Aber es könnte doch einer kommen – es gab ja viele Männer in der Welt – und sie würde dann auch Geld haben, Geld genug, um das auszugleichen, was jetzt an ihrer Jugend und an ihrer Schönheit schon fehlte. Aber nicht lange durfte es mehr dauern. – –

Der fünfundsiebzigste Geburtstag von Ursinus war angebrochen, ein Tag, den er besonders zu feiern wünschte. »Wer weiß, ob ich noch den sechsundsiebzigsten erlebe«, sagte er weinerlich. Sein Amt hatte er nun schon seit einiger Zeit aufgeben müssen, es war, trotzdem seine Gattin ihn in jeder Weise stützte, nicht mehr damit gegangen. Er hatte ja auch noch eine schöne Pension neben seinem Vermögen, hatte seinen Titel und Rang und durfte nun den ganzen Tag bei seiner guten Lotte daheim bleiben. Ach, es war etwas Wunderschönes, mit seiner Frau so zu leben! ›Wie die Turteltauben, wie die Turteltauben!‹ Er griff nach ihr mit seinen dürren Armen und schmatzte sie weidlich ab. Sie duldete es, aber sie mußte die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht laut herauszuschreien: »Ich halte es nicht mehr aus!«

An diesem fünfundsiebzigsten Geburtstag schien sie es ganz vergessen zu haben, daß sie es nicht mehr aushalten konnte. Sie war sehr lieb zu ihm. Einen Gabentisch hatte sie aufgebaut, auf dem alles zu finden war, was er sich im stillen gewünscht hatte. Warum sollte sie ihm nicht noch Freude machen? Und mit Blumen hatte sie ihn überschüttet. Eine Blumengirlande umwand seinen Platz am Tisch, seinen Sessel, auf dem er vormittags zu schlafen pflegte, und auch den, auf dem er nachmittags schlief. Gewinde, herbstliche Astern und Tannengrün. Es roch in der Wohnung wie in einer Friedhofskapelle, in der Kränze einen Sarg schmücken.

Die Frau ging umher mit witternden Nüstern: ah, das roch gut, das roch gut! Zum Abend hatte sie Freunde gebeten. Man war recht vergnügt. Die Köchin hatte nach Anweisung ihrer Herrin ein wirklich sehr leckeres Mahl bereitet – die zarten Schleie plätscherten noch im Zuber, als der erste Gast schon klingelte, die gebackenen Hähnchen zeigten gerade die richtige Bräune, und die Apfeltorte duftete so verlockend, daß man sich schon vorher sagen durfte: die ist wohlgeraten.

Der also Gefeierte ließ es sich prächtig schmecken. Er aß mehr, als er es sonst an der Gewohnheit hatte, für gewöhnlich nahm er abends nur eine Suppe. Aber ein Geburtstag macht eine Ausnahme, besonders wenn es ein fünfundsiebzigster ist. Er saß strahlend oben am Tisch, einen Kranz, den ihm jemand zum Scherz aufgestülpt hatte, schief auf dem nackten Schädel. Seine Frau, deren Schönheitssinn das beleidigte, wollte ihm den Kranz abnehmen, aber er litt es nicht; er behielt ihn auf während des ganzen Abends.

Ihr war es, als drehe sich der Magen um, wenn sie ihn ansehen mußte. Wenn es irgend anging, vermied sie es. Sie war überhaupt heute nicht so unterhaltend und geistig lebendig, wie sie es sonst in Gesellschaft zu sein pflegte; es schwebte wie ein Hauch von Wehmut um sie. Ach, die gute Gattin mochte wohl denken: der fünfundsiebzigste! Ob ich wohl noch einmal einen Geburtstag mit ihm feiere?

Blicke, die diese sanfte Wehmut in ihr verstanden und zu achten wußten, trafen sie. Der Geheimrat Menke, ein hochgestellter Beamter und zugleich liebenswürdiger Verehrer des schönen Geschlechts, brachte einen Toast aus. In erster Linie natürlich auf das Geburtstagskind, versäumte es aber nicht, in galant verschnörkelten Redewendungen die schöne Gastgeberin, die liebenswerteste Gattin und Freundin, den Stern am Himmel aller Frauen, begeistert zu preisen.

Die Stühle rückten, die Gäste sprangen auf, die Gläser stießen mit kristallenem Klang hell zusammen. Es war ein allgemeiner Tumult, Lachen und Hochlebenlassen. Gutes Essen, guter Wein hatten ihre Wirkung getan.

Als die Geheimrätin hinter den Stuhl ihres Gatten trat, um mit ihrem Glas das seine, das er in zitternder Hand schwankend hochhielt, zu berühren, lehnte er seinen Kopf an ihren Busen und seufzte aus Herzensgrund: »Meine Lotte, ich danke dir, welch schöner Abend! Ich fürchte nur, ich habe zuviel gegessen.«

»Du wirst schon nicht.« Sie strich ihm lächelnd über die erhitzte Stirn: »Für alle Fälle gebe ich dir nachher ein Löffelchen voll Natron.«

Wie vorsorglich diese Frau war! Da war sie heute nachmittag noch in die Flittnersche Apotheke gegangen und hatte von da mitgebracht, was nötig sein konnte.

Es war eine äußerst wohlgelungene Feier, sie wurden alle, je weiter der Abend vorrückte, immer gesprächiger und heißer. Nur die Dame des Hauses blieb still und kühl. Eine Unruhe, die sie nicht meistern konnte, eine innere beklemmende Angst spiegelte sich wider in ihren heute leicht schielenden Augen. Dies leichte Schielen war ihr von jeher eigen, wenn ihre Nerven besonders rebellisch waren, aber es war nicht häßlich, es gab diesen schillernden, geheimnisvoll-unergründlichen Augen sogar einen besonderen Reiz.

Als die Gäste endlich gegangen waren, sank sie auf einen Stuhl: das war ein schwerer Tag für sie gewesen und war – trotz allem – auch ein schwerer Abend. Würde ihr der morgende Tag die ihr so nötige Ruhe bringen?!

Der neue Tag würde bald anbrechen, schon ging es auf Mitternacht. Sie brachte ihren Gatten zu Bett, half ihm beim Auskleiden, denn Ursinus war nicht mehr ganz fest auf den Füßen, er, der sonst stets Mäßige, immer um seine Gesundheit Besorgte, hatte heute des Guten entschieden zuviel getan. Er fühlte seinen Magen zu voll und bat sie nun selber um das heute von ihr besorgte Natron. Sie zögerte einen Augenblick: »Willst du es wirklich nehmen?« Aber da er danach verlangte, ging sie nach ihrem Zimmer und holte es. Sie rührte ihm eine genügende Portion in seinen allabendlichen Schlaftrunk aus Zitronensaft und Zuckerwasser – er trank es – und dann deckte sie ihn zu und gab ihm den Gutenachtkuß: »Schlaf wohl!«

Leise schlich sie dann aus der Stube – schon schlief er. Der Diener, die Köchin und die Zofe waren bereits hinaufgegangen, sie waren auch müde. In der Küche standen noch Geschirr und Gläser herum, in den Zimmern Stühle und noch nicht ganz fertig abgedeckte Tische; es war das Bild einer noch nicht aufgeräumten nächtlichen Wohnung nach einer größeren Gasterei. Die Geheimrätin legte Riegel und Kette vor an beiden Türen, am vorderen wie am hinteren Aufgang; sie tat es mit zitternden Händen, so wie sie es einstmals getan hatte, bebend vor Ungeduld in der Erwartung ihres Geliebten.

Alles still, alles sicher, sie war mit Ursinus allein in der Wohnung. Ganz allein. Ein seltsames Ziehen verzerrte ihren Mund, es sah aus wie ein Lachen und war doch keines: er glaubte doch so fest an Winke des Schicksals, an eine dem Menschen Vorahnungen schenkende, über ihn bestimmende Macht, hatte ihn denn nichts, gar nichts gewarnt? Selber hatte er danach verlangt!

In einer qualvollen Unruhe fing sie an zu räumen, stellte Geschirr und Gläser zusammen. Sie war sehr müde – nein, müde eigentlich nicht, erschöpft. Aber wie konnte sie sich ins Bett legen?! Es wäre, um wahnsinnig zu werden. Natürlicher wäre es jedoch auf alle Fälle, sie zöge wenigstens ihr Kleid aus und legte ein Nachtgewand an. Sie tat es. Und dann sank sie auf einen Schemel in der Küche, stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Kein Laut von der Straße, auch kein Laut in der verödeten Wohnung. Da – plötzlich ein Ruf! Das war Ursinus' Stimme: »Lotte!« Was war ihm – wie war es ihm?! Der Ruf klang so ängstlich.

Sie fand ihn aufgerichtet im Bette sitzend, mit einer Übelkeit ringend.

»Ich habe doch zuviel gegessen – oh, o weh!« Er stöhnte und wand sich, die Hände gegen den Magen gestemmt, in Schmerzen.

Wie entsetzlich er aussah, ganz verzerrt vor Qual! Sie empfand heftiges Mitleid und zugleich jähe Angst. »Soll ich dir nicht ein Brechmittel geben?«

Er wehrte ächzend: »Nein, nein – Natron – mehr Natron!«

»Ein Brechmittel wäre aber besser.«

»Nein – nein!« Der kalte Schweiß war ihm ausgebrochen, sie wischte ihm die Angsttropfen ab, die Zähne schlugen ihr aufeinander, genau so wie ihm in schüttelndem Frost. Sie stürzte in die Küche: heißes Wasser! Eine Wärmflasche, eine Wärmflasche füllen, an die erkaltenden Füße legen!

Warum reißt sie nicht an der Klingel, warum weckt sie ihre Dienerschaft nicht – sie hat doch eine Klingel nach oben und auch eine nach unten zum Portier – warum jagt sie jetzt nicht einen von ihnen zum Arzt?! Ursinus sieht wie ein Sterbender aus. Ein Brechmittel! Schnell! Ein Brechmittel, das schafft alles wieder heraus.

Er verlangt dringend nach Natron. Sie gibt es ihm jedoch nicht zum zweitenmal, sie will ihm lieber das Brechmittel aufdrängen, aber er preßt die Lippen zusammen und wehrt sich: kein Brechmittel, er braucht kein Brechmittel, er bricht schon von selber. Unter unsäglichen Qualen.

So geht es fort bis zum Morgen. Sie ist allein mit ihm während der ganzen Nacht. Als die Dienerschaft am Morgen erscheint, noch verschlafen, herrscht die Herrin sie an, ganz außer sich: »Warum hat denn keiner von euch gehört? Ich habe die Klingel fast abgerissen, die nach oben, wie die nach unten. Der Herr Geheimrat ist krank, wie mir scheint, ist sein Magen überladen. Laufe einer, hole er schnell einen Arzt! O weh, auch mir ist sehr übel!«

Die Frau, noch immer im Nachtgewand, die Haare aufgelöst, gelb im Gesicht, die Lippen erblaßt, zitterte wie ein Blatt in scharfwehendem Wind.

*

Ärztliche Kunst hatte nichts mehr vermocht; sowohl Generalchirurgus Laube wie Geheimrat Heim hatten zur Ader gelassen, Senfpflaster gelegt und Tropfen verordnet. Es war alles umsonst. Den Tag nach seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag starb am Spätnachmittag der Geheime Justizrat am Kammergericht und Regierungsdirektor Theodor Ursinus, wie die Ärzte konstatierten, infolge eines Nervenschlags.

Wie tragisch, gerade nach der Feier seines so froh begangenen Geburtstages! Die trauernde Witwe bekam viele Kondolationen.

In dem Berlin jener Jahre, in dem man sich noch kannte in der sogenannten Gesellschaft, in dem man noch nicht aneinander vorbeirannte, ohne Ahnung vom Schicksal des einen und des anderen, machte dieser Tod Aufsehen. Nicht des Toten wegen, der war ein alter Mann, zu nichts mehr nütze, dem war zudem der Himmel hold gewesen, daß er ihn so rasch zu sich genommen hatte, ohne vorhergegangenes langes Leiden, sozusagen mitten aus einer fröhlichen Feier heraus, aber man bedauerte die Witwe, die nun, da sie keine Kinder hatte, so ganz allein war. Sie hatte niemanden, der ihr verwandtschaftlich nahestand, außer einer alten, halbgelähmten Tante, der Schwester ihrer verstorbenen Mutter in Charlottenburg. Denn von den Verwandten, die sie noch in Spandau hatte, trennte sie – ›auf ewig‹, wie sie sagte – eine ihr einst zugefügte, nie wieder gutzumachende Kränkung. Aber sie brauchte ja diese Spandauer Verwandten auch gar nicht, sie hatte Freunde, treue Freunde, die sie sich durch ihr warmes, an allem menschlichen Ergehen teilnehmendes Herz erworben hatte. In den ersten Wochen nach des Geheimrats Tod war das Haus in der Französischen Straße ein Taubenschlag, Besuche flatterten ein, Besuche flatterten aus. Junge schwärmende Mädchen gaben an der Tür Blumen ab und schickten Verse, die nahezu Liebesgedichten gleichkamen.

Auf ihrem Sofa im Empfangszimmer sitzend, ganz in Schwarz gehüllt – einen schwarzen Schleier, der ihr vortrefflich stand, sogar über das noch von keinem grauen Fädchen durchzogene blonde Haar gelegt –, nahm die Geheimrätin die Kondolationen entgegen. Sie weinte nicht, sie war eine starke Frau, aber an dem Ton ihrer Stimme, die wie vom Schmerz verschleiert klang, merkte man, wie sie litt.

»Es ist so einsam um mich her«, klagte sie, »so unendlich einsam. Ich höre seine Stimme bei Tag und bei Nacht – ich denke immer, jetzt ruft er: ›Lotte!‹ Besonders seinen letzten Ruf in jener Nacht – ›Lotte‹ – so voller Angst und Qual, so voller« – sie stockte – »den höre ich immer. Ich möchte mir die Ohren verstopfen.« Und hierin sprach sie die Wahrheit.

Die Ursinus schlief schlecht, trotz der beruhigenden Mittel, die sie sich von dem nun zu ihrem Hausarzt avancierten Generalchirurgus Laube verschreiben ließ. Heim hatte behauptet, zuviel zu tun zu haben, er könne nicht immer gleich springen, wenn die Frau Geheimrätin ihn wünsche.

Es war merkwürdig, sie hatte Ursinus gar nicht geliebt, auch nicht geliebt, als er noch jünger und ansehnlicher gewesen war – hatte sie ihn eigentlich nicht immer schon gehaßt? War er ihr nicht, als sie ihn heiratete, nur Mittel zum Zweck gewesen? Und nun mußte sie doch immer von ihm sprechen. Er drängte sich in jedem Satz, den sie sprach, ihr auf die Lippen, sie träumte von ihm, sie sah, sie hörte ihn. Das kam daher, sie dachte immer an ihn. Keine liebende Gattin kann so viel an ihren verstorbenen Gatten denken, wie sie es jetzt an Ursinus tat. Sie haßte ihn dafür auch jetzt noch. Hatte er sie in all den vielen Jahren nicht genug belästigt, mußte er jetzt, da er tot war, nun auch noch kommen? Ursinus am Morgen, Ursinus am Abend, Ursinus bei der Nacht. Sie sah seine eingetrocknete hagere Gestalt gebeugt durch die Zimmer schleichen – jetzt hüstelte er – jetzt faßten seine kalten Greisenfinger ihre Hand – und jetzt, o Gott, jetzt drückte sein welker, durch fehlende Zähne eingesunkener Mund ihr sogar den gewohnten schmatzenden Kuß auf die Stirn! Sie kreischte laut auf.

»Die Gnädige hat wieder ihre Tour«, sagte die Dienerschaft draußen. Aber gleich darauf kam die Gnädige in die Küche, und es war, als sei sie es nicht gewesen, die eben drinnen so aufgeschrien hatte. – – – –

Die Ursinus entließ ihre bisherige Dienerschaft, sie war nicht zufrieden mit ihr; seit sie so versunken in ihren Kummer war, daß sie nicht alles kontrollieren konnte, machte die es sich zunutze. Nun suchte sie neue Leute. Eine Köchin brauchte sie überhaupt nicht mehr – wozu auch? – wenn man so versunken ist in Trauer, gibt man keine Gastereien; Diener und Zofe genügten vollständig. Die bekannten Damen gaben ihr recht, die Geheimrätin verstand ja selber alles, und es würde ihr sicher gut tun, wenn sie so gewissermaßen gezwungen wurde, ihrem Kummer weniger nachzuhängen.

Es war ein Zufall – oder war es vielleicht doch kein Zufall, sondern der Wink einer höheren Macht, wie Ursinus es immer geglaubt hatte? –, daß ihr bei einer Vermittlungsstelle der Diener Benjamin Klein angeboten wurde. Nun glaubte auch sie an diesen Wink einer höheren Macht: ja, sie sollte ihn nehmen! Mit einemmal war Ragay wieder bei ihr, die ganze selig-unselige Zeit mit ihm lebte wieder auf. Erregt, fast verlegen stand die sonst so Gewandte vor diesem armseligen Menschen, der seit Ragays Tod schon mehrmals die Stelle hatte wechseln müssen und ein wenig heruntergekommen war. Er war froh, in dem Haus, dessen bequeme Auskömmlichkeit ihm noch in angenehmer Erinnerung lebte, anzukommen. Mit keiner Miene verriet er, daß diese stolze Dame einst, um Eintritt bettelnd, vor ihm gestanden hatte. ›Es wird Ihm noch recht gut gehen‹ – sollte dieses Wort seines vormaligen Herrn, von dem er mit großer Anhänglichkeit sprach, schon jetzt zur Wahrheit werden?

Die Geheimrätin bedauerte es nicht, den Klein genommen zu haben, im Gegenteil; als sei keine geraume Spanne Zeit inzwischen verstrichen, so fügte er sich wieder ein, er hatte nichts vergessen, er wußte noch, wie sie es gehalten wünschte, und besonders die Zimmer, die sein Herr Baron einst bewohnt hatte, hielt er mit ganz besonderer Sorgfalt und wie ein Heiligtum in Ordnung.

Nun war Ragay wieder im Hause. Er ging mit seinen elastischen Schritten wieder durch die Zimmer. Die Frau hörte sein Lachen – jetzt hustete er nicht – er war wieder so jugendlich stark wie vormals, als sie ihn kennenlernte, ein eleganter, verführerisch hübscher Kavalier. Er klopfte abends, wenn alles schon schlief, wieder leise an ihre Tür, und sie tat ihm auf. Vor ihm trat Ursinus allmählich wieder zurück, suchte sie nicht mehr so viel heim. Gott sei gedankt!

Was der Ursinus keine Anrufung Gottes hatte geben können, kein Gebet in den Betstunden, die der berühmte Prediger Bange unter großem Zulauf alle Freitagabend im Dom abhielt, das wurde ihr jetzt gegeben. Und wie hatte sie doch gefleht, verzweifelt mit den Anfechtungen gerungen, die ihr mit so eisernen Händen das Gewissen zusammenpreßten, daß sie glaubte schreien zu müssen: ›Stäupt mich, hängt mich, enthauptet mich, ich, ich hab's getan!‹

Wenn Gotthold Bange von der Kanzel herab auf die dichte Menge seiner Gläubigen herabblickte, war ihm immer eine schwarze Frauengestalt aufgefallen, die, obgleich sie sich beugte und den Kopf beständig gesenkt hielt, doch noch höher ragte als alle die andern. Es waren meistens Frauen, die sich da unten drängten, Frauen aller Altersstufen und aller Schichten. Er sprach über »Versuchung zur Sünde«, er beleuchtete sein Thema an jedem Freitagabend von einer anderen Seite. Es gab ja so unendlich viele Versuchungen zur Sünde. Er war unerschöpflich in Varianten – Lüge, Unzucht, Dieberei, Ehebruch, Neid, Verleumdung – er rüttelte dergestalt an den Gemütern seiner Zuhörerinnen, daß sie mit Seufzern und Stöhnen zusammenbrachen. Dann hieß es: »Kniet nieder, alle, die ihr bereut!« Auch er warf sich auf seine Knie und streckte die Hände gen Himmel: war er denn nicht auch ein sündiger Mensch und gegen Versuchungen zur Sünde nicht gefeit? Mit einer Inbrunst, die an Fanatismus grenzte, rief er dann den Geist Gottes auf die Versammlung herab, damit der durch die Reihen gehe, unsichtbar und doch sichtbar für wahrhaft Gläubige und wahrhaft Bereuenden seine Hand auflegte: »Meine Tochter, dir ist vergeben.« Er verstand es meisterhaft, zu Tränen zu rühren, er selber weinte mit, es war ein allgemeines Weinen und Schluchzen.

Aber die Ursinus, schwarz verhangen, einfacher als sonst gekleidet, damit niemand sie erkenne, konnte er nicht auf die Knie zwingen, sie nicht in Tränen zerfließen machen. Sie blieb ungerührt. Dies alles waren nur kleine und kleinliche Sünden, die ihre war weit größer, viel zu groß. Sie spürte darum auch nichts von dem Geist, der die Hand auflegt: »Meine Tochter, dir ist vergeben«, sie spürte nur mit einem empfindlichen Feingefühl, das aus einer Ähnlichkeit mir ihr selber entsprang: Bange spielt heut wieder vortrefflich. Sie war skeptisch geworden. Nein, der berühmte Prediger Bange konnte ihr nicht die Ruhe wiedergeben, die sie so nötig hatte! Aber der Bediente Benjamin Klein, der hatte es getan. Mit ihm war Ragay wieder eingezogen, und in Erinnerungsgenüssen schwelgend verlor die Witwe die Unruhe.

Benjamin Klein war ihr Vertrauensmann: einen Menschen muß man doch haben, vor dem man sich keine Maske vorbindet. Und auf ihn konnte sie sich verlassen. Er war ja auch so abhängig von ihr; sehr starker Gesundheit war er nicht, schweren Dienst konnte er nicht versehen; er hatte auch eine alte Mutter und eine blinde Schwester, die er unterstützen mußte, und sie tat sehr viel an den beiden. Dafür ging nun Benjamin Klein umher und pries, wo er nur konnte, die Güte und den Edelmut seiner Herrin.

Auch die neue Jungfer war nach der Herrin Geschmack: ein schon ältliches Mädchen, still und verschwiegen. Die Ursinus hätte gern aus den beiden ein Paar gemacht, es gelüstete sie, eheliche Freuden wenigstens in der Nähe zu haben und den Duft derselben zu verspüren, wenn sie die selber denn nicht haben konnte. Aber ihr eigenes Geschick war in diesem Fall umgekehrt: der Bursche wohl an die zwanzig Jahre jünger als die Jungfer.

Doch warum sollte sie, sie selber denn nicht noch erlaubte Freuden genießen, eine Ehe schließen, die wirklich eine Ehe war? Der Geist Ragays würde nichts dagegen haben, und Ursinus erst recht nichts. Das Trauerjahr war nun längst vorüber, sie mußte versuchen, wieder Männer ins Haus zu ziehen. Es konnte ihr dies ja nicht schwer fallen, sie war noch ansehnlich und hatte Geld und würde noch mehr von Tante Christiane erben; aber an deren Geld dachte sie weniger, wenn sie ihr baldige Erlösung wünschte. Das gute alte Fräulein litt viel; die Beine waren gelähmt, versagten den Dienst, und die Augen waren auch schlecht geworden.

»Aber, bestes Tantchen, du sollst doch nicht so viel weinen, das viele Weinen wird dich noch blind machen«, sagte die Nichte, wenn sie bei ihr saß. Und das tat sie jetzt öfters, sie hatte ja nun so viel müßige Zeit. Wenn es ganz schlecht mit Christiane Witte stand, so blieb sie sogar wohl einmal ein paar ganze Tage bei ihr draußen. Für gewöhnlich holte Benjamin Klein sie mit einem Wagen ab, denn seit dem furchtbaren Gewitter von damals war sie etwas nervös geworden – und doch, Donner und Blitz schreckten sie wenig, aber Erinnerungen. Dann stieg sie wohl auch für eine Strecke aus, ließ den Wagen vorausfahren und ging ein Stück zu Fuß durch den Tiergarten. Stolz und stattlich wandelte sie, der Diener zehn Schritte hinter ihr drein. Aber wenn niemand in Sicht war, dann ließ sie ihn neben sich kommen und unterhielt sich mit ihm. Er war der einzige, der um Ragay gewesen war in der letzten Zeit: warum hatte Ragay sie eigentlich nicht sehen wollen? Wußte der Diener vielleicht den Grund? »Wir waren doch so befreundet! Hat sein Herr nicht von mir gesprochen?«

»Oft!« Benjamin Klein war schlau genug, ihr das zu versichern mit treuherzigem Gesicht. Er ließ es sich nicht merken, daß er Bescheid wußte, hatte er doch die Gnädige vor des Herrn Ragay Bett knien sehen und gehört, wie sie ihm zärtliche Worte gab. Aber der Herr Ragay hatte nichts von ihr wissen wollen. Er hütete sich wohl, das zu sagen, das könnte ihm ja die gute Stellung kosten; so erzählte er ihr, wie oft der arme Herr von ihr gesprochen hatte. Mit Tränen. »Denn er wußte ja, daß er sterben mußte. ›Ach, Benjamin‹, sagte er oft, ›könnte ich doch bei ihr sein! Aber es ist besser, ich sterbe einsam, es fiele mir sonst zu schwer, Abschied zu nehmen. Und ich will auch niemanden ins Gerede bringen.‹ Ach, der arme gute Herr, sein letzter Gedanke galt der gnädigen Frau!« Und der treue Diener schnüffelte und fuhr sich mit der Hand unter der Nase her.

Die Ursinus argwöhnte, daß er log, sie glaubte kaum etwas von dem, was er erzählte, aber es war doch so schön, wunderschön, so etwas zu hören. Immer wieder fing sie von Ragay an. Und Benjamin Klein erzählte geläufig.

*

Die Geheimrätin Ursinus war die stolze Charlotte von ehemals nicht mehr. In den Vierzig bleibt man so stolz nicht mehr. Sie ließ es sich angelegen sein, einen Mann zu finden. Merkwürdig genug, daß sie noch keinen gefunden hatte! Warum so einsam die noch bleibenden Jahre vertrauern? Auf die Dauer genügten die schwelgenden Erinnerungen an Ragay doch nicht. Sie war jetzt wieder wie der Sträfling, der mit Kette und Eisenkugel den Karren schiebt, Eisenhörner am Kopf, und nur verstohlen von den Wällen einen Blick erhaschen kann in weites, besonntes Land. Sie fing an zu leiden. Beängstigungen stellten sich wieder ein, Krämpfe und Ohnmachten. »Krisen«, sagte ihr Hausarzt, »es liegt in den Jahren, gnädigste Frau.«

Die Ursinus stöhnte, Angst vor dem Altwerden hetzte sie. Sollte sie vielleicht werden wie Tante Christiane? Ein jämmerliches altes Dämchen, das seine Gedanken nicht mehr recht beieinander hat, das von vergangenen Tagen mit dem Geliebten plappert und von dem erhofften Glück, als wäre das gestern gewesen? Oh, wie schrecklich ist es doch, alt zu werden! Noch war sie es nicht, aber der Gedanke daran und die Furcht davor verließen sie keinen Augenblick. Wo sie ging, wo sie saß, was sie tat, sah und hörte, immer war wie ein Gespenst das Altern bei ihr. Niemals hatte sie sich Kinder gewünscht, jetzt hätte sie gern welche gehabt: Kinder wären verpflichtet, sie zu lieben. Ihr schuldete niemand Liebe. Ein Überdruß am Leben kam über sie: was hatte sie denn noch zu erwarten, wenn niemand sie lieben wollte? Das beste, sie machte ein Ende, zusammen mit Tante Christiane. Die betete so oft: »Herr, mach' ein Ende, mach' ein Ende mit mir!« Mein Gott, es war doch gar nicht schwer, ein Ende zu machen – oder war es doch schwer? Wenn sie an jene letzte Nacht mit Ursinus dachte, dann kam es ihr freilich schwer vor; er hatte sich schrecklich quälen müssen. Man mußte eben mehr nehmen. Aber wieviel?


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