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Einundzwanzigstes Kapitel

Es stand schlecht um die Sache der Ursinus, sehr schlecht. Das sagte sich ihr Defensor, der Gerichtskommissar Blume. Ob die Angeklagte sich das nicht selber auch sagte? Blume wurde nicht recht klug aus ihr. Er war schon nervös, wie mußte sie da erst nervös sein, diese Frau, die immer wieder ihr ungemein zartes, leicht zu erschütterndes und aus der Fassung zu bringendes Nervensystem als ein Hauptmoment ihrer Entlastung in den Vordergrund zu rücken bemüht war. Selbst Heim, mit dem er noch mehrmals Gelegenheit gesucht hatte zu sprechen, ängstlich nach jedem Strohhalm greifend, der seiner Klientin eine Brücke zur Freiheit werden konnte, leugnete nicht, daß die Ursinus, die er schon während ihrer Mädchenzeit in Spandau behandelt hatte, bereits damals überaus irritierbar und sensibel gewesen sei. Wenn jetzt die Nerven der Angeklagten versagen würden, so wäre das kein Wunder. Zehn Monate lang sich inquirieren lassen von einem zuerst voreingenommenen, dann freilich ein wenig mehr Höflichkeit zeigenden Richter, nach allen Regeln und Formeln hochnotpeinlicher Untersuchung verhört und durch alle möglichen Kreuz- und Querfragen in die Enge gehetzt werden, kam das nicht der Folter mittelalterlichen Gerichtsverfahrens beinahe gleich? Waren Daumschrauben, spanische Stiefel sehr viel schwerer zu ertragen gewesen? Und lag nicht diese Frau jetzt auch auf glühendem Rost? Wunderbar, daß sie es ertrug, daß sie noch immer nicht zusammengebrochen war!

Die Sympathie, die Blume zeitweise für die Angeklagte gehabt, sogar mit einer leisen Bewunderung gemischt empfunden hatte, und die dann einem geheimen Abscheu gewichen war, diese war jetzt wiedergekehrt. Welche Stärke des Geistes gehörte dazu, um solche Wartezeit mit Selbstherrschung zu ertragen! Keine schluchzenden Beteuerungen, keine unmäßigen Ausbrüche. Er hatte sie im Verhör gesehen, sie blieb immer Dame, eine sehr kluge, eine sehr vornehme Dame, man konnte von ihr, was gute Formen anbetraf, etwas lernen. Der alte Gerichtsschreiber, der emsig kritzelte, aber nicht bloß Ohr, sondern auch Auge war, hatte ganz recht, wenn er sagte: »Wie 'ne Fürstin. Mich wundert, daß der Herr Untersuchungsrichter sich bei der was getraut!« Und auch ihm, ihrem Defensor gegenüber, ließ sie sich niemals gehen. Er hätte es ihr gar nicht übelgenommen, fing er doch an, sie zu bedauern. Er hatte seine Verteidigungsschrift eingereicht, in der er versuchte, um die Vergiftung der Witte, als einer nur schwach möglichen, aber unerwiesenen Wahrscheinlichkeit, glücklich herumzusteuern und wegen der in Geistesverwirrtheit begangenen Giftversuche an dem Bedienten Benjamin Klein zwei Jahre Festungshaft zu beantragen. Daß es ihm nicht gelingen würde, diesen Antrag durchzubringen, wußte er jetzt ganz genau.

Merkwürdig, was diese Frau, die jetzt nicht mehr die siegende Schönheit besaß – zehn Monate Untersuchungshaft hatten diese arg mitgenommen, auf der Stirn der Ursinus Furchen gezogen, tiefe Schatten um die Augen gelegt, das blonde Haar an den Schläfen schon weiß gemacht –, was diese Frau noch für einen Zauber ausübte! Man konnte sich dem, gegen besseres Wissen, nicht ganz entziehen. Die Wärterin im Untersuchungsgefängnis schwor nicht höher: eine feine Dame, eine liebe Dame, keiner Fliege tat die was zuleide! Und auch in der Außenwelt schien sie noch Anhänger oder Anhängerinnen zu besitzen.

Es liefen in letzter Zeit verschiedentliche anonyme Briefe beim Gericht ein, in denen vor einem Justizirrtum dringend und in einer Weise gewarnt wurde, die auf einen durchaus formal gewandten und in jeder Hinsicht erfahrenen und gebildeten Mann schließen ließen. Die Briefe wanderten in den Papierkorb – vielleicht ein früherer Liebhaber! Auch Briefe, von einer Frauenhand geschrieben, kamen: zierliche kleine Buchstaben, und auch Stil und Inhalt dieser Briefe waren echt weiblich. Eigentlich waren sie rührend. Der Gerichtskommissar Blume fühlte sich wie der liebe Gott, als auch er mehrmals solche Briefe erhielt, in denen er beschworen, ja angefleht wurde, die unglückliche Frau zu retten, für deren Unschuld die »Schreiberin dieses« sich verbürgte.

Wer war die Schreiberin dieses?

Auch die Ursinus, der Blume, um sie ein wenig zu zerstreuen, von den eingegangenen Briefen sprach, hatte keine Ahnung, wer sich so für sie einsetzen könnte. Die Schwester, der Schwager? Die würden das niemals tun. »Aber Gottes Segen über jene Unbekannten«, sprach sie und faltete ihre Hände. –

Am Tage, vor dem ihr das Urteil endlich zuteil werden sollte, und den sie jetzt mit einer von ihrer sonstigen Gehaltenheit abstechenden fieberhaften Ungeduld erwartete, verlangte sie nach einem Geistlichen, und zwar nach dem Oberhofprediger Gotthold Bange. Der Wunsch war berechtigt nach geistlicher Tröstung, und gerade bei diesem Geistlichen, der sie einst konfirmiert hatte, war er ein erschütternder Wunsch.

»Lassen Sie uns allein«, sagte kurz der Oberhofprediger. Und Blume, der, laut Verordnung, daß eine gerichtliche Persönlichkeit zugegen sein mußte, hätte dableiben sollen, ging gegen die Verordnung wie ein gehorsamer Knabe ohne Widerrede still vor die Tür.

Bange war sehr bleich, als er vor der Ursinus stand, und ganz verwirrt: das also, das also war die Frau, nach der seine Seele, nein, sein Blut, so oft geschrien hatte, so stürmisch verlangt?! Eine Unglückselige, des Giftmordes verdächtigte, aus der Höhe in tiefste Tiefe Gestürzte. Er war so erregt, daß er nicht Worte fand.

Sie fand zuerst welche: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr Oberhofprediger.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie ihn so begrüßte, aber bald wurde die fest. »Morgen wird mir das Urteil verlesen. Wie es nun auch mit mir werden mag, ob gut oder schlecht, es ist mir Bedürfnis, vor dem einzigen wahren Freund, den ich besitze – ich glaube doch, Sie sind noch immer mein Freund?« – sie sah ihn fragend an, er verneigte sich stumm – »noch einmal zu bekennen.«

Bekennen?! O Gott! Ein banges Erschrecken durchfuhr ihn: sollte es wahr sein, sollte sie des Giftmordes an ihren Verwandten schuldig sein? Nein, unmöglich! In Angst vor einem Rechtsirrtum hatte er jene Briefe geschrieben, die ihr nützen sollten. Nein, um Gottes willen, nein, er könnte es nicht ertragen, daß sie schuldig wäre! Schuldig war sie, gewiß, in manchem Sinne schuldig – hatte sie nicht schon vor ihm gelegen, mit Tränen gefleht: »Beten Sie, beten Sie für mich!« –, aber es waren Wirrungen einer Seele, die in einem mit verlangenden Sinnen allzu belasteten Menschen sich da hüllenlos vor ihm gezeigt hatte und nach Hilfe schrie. Nach Hilfe von ihm?! Von ihm, der doch selber so belastet war? Damals hatte ihm gegraust, er war, Versuchung fürchtend, geflohen, schmählich feige. Aber jetzt würde er sie nicht verlassen. Er nahm fast zärtlich ihre beiden Hände: »Bekennen Sie sich schuldig?« Er sah ihr tief in die Augen.

Wehmütig lächelnd schüttelte sie den Kopf: »Schuldig? Nicht so, wie Sie denken. Zu was man mich auch verurteilen mag – und man wird mich verurteilen, meine Richter, die Welt, ich weiß es – dieses Urteil wird zu streng sein. Ich habe viel gelitten, ich werde auch noch vieles leiden, ich bin ein zum Leiden geborener Mensch, aber ich will meinen Frieden mit Gott machen. Ich bitte um Ihren Segen!« Sie ließ sich vor ihm auf die Knie nieder. – – –

Ging es da drinnen denn noch immer nicht zu Ende? Blume, der wohl schon während einer halben Stunde den Gang draußen auf und ab geschritten war, wurde es zu lange. Das ging denn doch nicht an, daß solch gewährte Unterredung über die festgesetzte Zeit dauerte! Er legte sein Ohr an die Tür: noch immer drinnen murmelnde Stimmen. Jetzt erhob sich die Stimme des Predigers zu sonorem Klang – was, was sagte er? Die Stimme steigerte sich noch. Mit Inbrunst, fast wie Gesang erklingende Worte. Aha. der fing wohl gar an zu predigen? Dann war es Zeit, anzuklopfen. Blume krümmte den Finger und klopfte leise. Der drinnen nahm keine Notiz davon, die Stimme tönte erhaben immer weiter. Blume klopfte noch einmal: Zeit abzubrechen. Wenn jetzt nicht »Herein« gesagt wurde, trat er ohne Aufforderung ein. Aber er traute sich doch nicht. Er wartete wieder. Drinnen wurde es jetzt ganz still. Beteten sie? Er wartete noch eine gute Weile, dann öffnete er leise die Tür.

Die Ursinus saß auf dem Stuhl am Tisch, den Arm aufgestützt, die eine Hand mit dem Taschentuch vor den Augen; ihre andere hielt der Hofprediger. Und er ließ diese Hand, die er in der seinen hielt, erst los, als der Störende eingetreten war.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oberhofprediger«, sagte verlegen Blume, »daß ich störe. Aber die gesetzte Zeit ist um. Ich möchte weder der Frau Geheimrätin noch mir Unannehmlichkeiten zuziehen.«

»Leben Sie wohl, gnädige Frau!« Der Oberhofprediger sagte es mit versagender Stimme. Er beugte sich tief über die Hand der Ursinus.

»Leben Sie wohl, mein Freund!« Sie stand auf und winkte ihm noch mit dem Taschentuch. – – –

Der berühmte Oberhofprediger Bange schien wirklich großen Anteil an ihr zu nehmen. Oder ob da in beider Jugend vielleicht auch einmal etwas gespielt haben mochte, von dem jetzt kein Mensch eine Ahnung hatte? Merkwürdig angegriffen und bleich hatte der Mann ausgesehen. Oberhofprediger sind doch auch nur Menschen oder waren es wenigstens einmal. Ja, diese Frau mußte etwas gehabt haben, das seltsam anzog.

Aber nicht nur die Männer. Als Blume heute nach Hause zurückkehrte, fand er vor der Tür seiner Wohnung eine Frau stehen. Eine sehr bescheiden gekleidete, schmalschultrige Person. Sie hatte schon die Klingel gezogen gehabt, ängstlich gefragt: »Ist der Herr Gerichtskommissar zu sprechen?« Aber die junge Frau Blume, die gerade schlechter Laune war, schlug hastig wieder die Tür zu: ach, das war ja sicherlich eine Bettlerin.

Und wie eine solche drängte sich die Frauensperson jetzt auch an den Heimkehrenden heran: »Herr Gerichtskommissar Blume?« Sie sagte es so hastig fragend, so ohne Atem, daß er unwillkürlich stutzte. Ein paar braune, in Tränen schwimmende Augen sahen ihn ängstlich an. »Ich komme wegen der Frau Geheimrat Ursinus. Ist es wahr, was man sich erzählt, daß sie schon morgen abgeurteilt wird?«

» Schon –?!« Er zog die Brauen hoch. »Es hat lange genug gedauert. Aber was wünschen Sie?« Er sah sie scharf an, plötzlich irgend etwas vermutend. Warum dies aufgeregte Gebaren? Vielleicht eine Verrückte, Selbstbezichtigungen kommen ja oft genug vor.

»Ach, Herr Gerichtskommissar« – die Person hob flehend die Hände –, »sie ist ja unschuldig! Man tut ihr Unrecht. Ich weiß es besser. Oh, mein Herr –«, sie brach in Schluchzen aus – »wenn Sie wüßten, was sie in Wirklichkeit ist! So gut, wie ein Engel. Ach, helfen Sie, helfen Sie ihr doch!«

»Sie wollen sie also entlasten? Ihre Aussage kommt freilich etwas spät. Warum haben Sie sich nicht schon früher gemeldet?«

»Ich konnte doch nicht, ich lebe ja nicht hier. Ich war weit fort, bei Kindern in Stellung. Ich hörte erst kürzlich davon. Da fuhr ich hierher. Ich habe ein paarmal geschrieben. Nun treibt mich die Angst persönlich zu Ihnen. Ach, mein Herr«, sie rang verzweifelt die Hände, »was kann ich tun, was kann ich für meine geliebte Charlotte tun? Raten Sie mir, helfen Sie mir doch!« Sie haschte nach seiner Hand, schien die küssen zu wollen.

Er steckte seine Hand, ganz verlegen, rasch in die Rocktasche. Eine sympathische Person mit ihren guten braunen Augen! Und wer weiß auch, ob ihre Aussage nicht doch noch von Wichtigkeit sein könnte. »Woher kennen Sie die Angeklagte?«

»Ich war ihre französische Mamsell, als sie zwölf Jahre war, bei ihren Eltern in Stendal. Ach, Lottchen und ich hatten uns ja so lieb!«

»Und dann, und dann – wie lange und wo waren Sie dann noch mit ihr zusammen? Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Dann leider gar nicht mehr. Seit Stendal nicht mehr. Aber ich habe soviel an sie gedacht, sie niemals vergessen. Ich traute mich nur nicht an sie zu schreiben, ich hörte ja auch nichts mehr von ihr bis jetzt.«

Das war freilich schon lange, viel zu lange her, als daß es irgend von Nutzen sein könnte! Blume war etwas enttäuscht und auch ärgerlich: was so eine Person sich eigentlich dachte, hatte sie denn keine Ahnung davon, daß Menschen sich ändern können?! Daß eine, die als Kind ein Engel war, etwas ganz anderes geworden sein kann?

»Ich möchte sie sehen – ach, bitte, bitte, lassen Sie mich sie doch sehen, mit ihr sprechen«, stammelte die Bittende und vertrat ihm den Weg.

Er hatte die Weinende beiseite schieben wollen, aber am Ende war sie doch eine rührende Person, deren Anhänglichkeit es wohl verdiente, daß man sie nicht unbeachtet auf der Straße stehen ließ. Und war dies hier nicht wieder ein neuer Beweis für die Anziehungskraft der Ursinus?

*

»Auf die, gegen die Witwe des Geheimen Justizrats und Regierungsdirektors Theodor Ursinus, Charlotte Sophie Elisabeth, geborene von Weiß, geführte Untersuchung erkennet die Kriminaldeputation des Kammergerichts den vorhandenen Akten gemäß für Recht: daß formalie der Untersuchung richtig und quoad materialia Inquisitin, die Witwe des Geheimen Justizrats und Regierungsdirektors Ursinus, Charlotte Sophie Elisabeth, geborene von Weiß.

I. von der angeschuldigten Vergiftung

a. des im Jahre 1797 zu Potsdam verstorbenen holländischen Offiziers van Ragay,

b. ihres im Jahre 1800 verstorbenen Ehemanns, des Geheimen Justizrats und Regierungsdirektors Ursinus, völlig freizusprechen;

II. wegen der Vergiftung ihrer im Jahre 1801 verstorbenen Tante Christiane Sophie Regine Witte und

III. wegen der im Jahre 1803 wiederholentlich versuchten Vergiftung des Bedienten Benjamin Klein mit einem lebenslänglichen Festungsarrest zu belegen.«

Der Vorsitzende hatte das Urteil vorgelesen, mit eintönig knarrender, vom vielen Gebrauch ein wenig abgenutzter Stimme. Nichts unterbrach ihn störend, kein Schluchzen, kein Räuspern, kein Füßescharren. Atemlose Stille in dem Gerichtssaal, dem verstaubte Aktenbündel ihren Odem, der sich beklemmend jeder Menschenbrust auflegte, eingehaucht hatten. Als hätte niemals ein frischer, aufstöbernder Windzug hier gelüftet, so war es. Trocken, schwer die Atmosphäre, von einem widrigen Geruch nach vergilbtem Papier und vermoderten Menschenschicksalen durchzogen.

Die Anwesenden des Kollegiums bei Verlesung des Urteils sahen in dieser Luft grau und abgespannt aus; es war auch ein langer und ermüdender Prozeß gewesen. Der Richter, der die Untersuchung geführt, ständig am Werke gewesen war, Tag und Nacht darüber nachgedacht hatte: wie die Inquisitin ausfragen, verwirren, in Widersprüche verwickeln und dann festnageln, war völlig am Ende seiner Kräfte. Er sah so bleich und angestrengt aus, daß ihm ein Kollege ins Ohr flüsterte: »Jetzt müssen Sie aber ausspannen, Urlaub nehmen!«

Auch der Defensor sah blaß aus: also lebenslänglich, lebenslänglich! Das war mehr, als er erwartet hatte. Festungsarrest, für Gebildete an Stelle des Zuchthauses tretend, war freilich nicht so unertragbar als dieses, aber doch hart, sehr hart. Keine Freiheit des Kommens und Gehens, des Tuns und Lassens, und wohl bis ans Lebensende auch keine Aussicht mehr auf solche. Er fühlte sein Herz klopfen. Scheu wagte er einen Blick nach der Verurteilten hin: wie würde sie es aufnehmen?

Vornan, vor dem das Urteil Verlesenden, saß die Ursinus. Die, denen Recht zu sprechen war, nahmen sonst auf der Holzbank Platz, ihr hatte man einen Stuhl hingestellt. Wer weiß, ob sie nicht umfiel, die Bank hatte keine Lehne, und sie war lange Zeit in Untersuchungshaft gewesen – über zehn Monate – das zermürbt. Aber der alte Gerichtsschreiber stellte mit Verwunderung fest, daß die Dame sich nicht einmal anlehnte. Sie saß ganz steil aufgerichtet, scheinbar ruhig, nur die mit schwarzen Handschuhen bekleideten Hände hielt sie im Schoß wie verkrampft.

Die Ursinus hatte heute sorgfältig Toilette gemacht; damit sie sich besser sehen konnte, hatte ihr die Wärterin den Spiegel vorhalten müssen. Das Weib zitterte mehr dabei als sie, die heute ihr Urteil empfangen sollte. Sie hatte auch geschlafen heute nacht, wenigstens mehrere Stunden; es hatte ihr gut getan. Nun war ja das Harren und Bangen, das ewige Warten an ein Ende gelangt. Ob im Tode oder sonstwo, das war ihr ganz gleich – nur Ruhe, Ruhe – weiter begehrte sie jetzt nichts mehr. Jetzt erst war das Verlangen, noch zu leben, abgestreift, die Angst um ihr bißchen Dasein ganz von ihr gewichen. Nur das möchte sie wünschen, von Gott erbitten, daß sie nicht fallen müßte vor den Augen des Pöbels. Und sollte es doch so kommen, dann nur nicht schwach werden!

Sie zog ein schwarzes Seidenkleid an mit Tunique und langer Schleppe, es war schön gemacht und stammte noch von Gesellschaften her. Schade, daß ihr Haar nicht besser frisiert war! Aber eine Friseurin konnte sie nicht kommen lassen, so lockte sie es sich selber, so gut das ging, und legte, um Schäden der Frisur zu verbergen, einen schwarzen Schleier darüber. Sie war zufrieden, als sie den letzten Blick in den Spiegel warf; mit der Hand, an der neben den beiden Trauringen der kleine Ring mit der Perle, der Ring von Tante Christiane, sich zeigte, legte sie, was sie sonst nicht mehr getan hatte, so wie früher Rouge auf. Gott sei Dank, daß sie welches hatte! Nein, man sollte nicht sehen, wie blaß sie war, man würde sonst denken, sie hätte Furcht. Sie hatte gar keine Furcht, sie war nur neugierig, voll einer großen, ihr Herz in rascheren Gang bringenden Neugier.

Als die Wärterin beim Aufbruch ihr den Mantel umlegte – der Wagen wartete unten im Torflur bereits –, sagte die schluchzend: »Viel Glück, Madame!« Sie hatte dankend den Kopf geneigt: »Wollen sehen, meine Liebe.«

Nun hatte sie ja Glück – ruhig hörte sie das Urteil mit an –, sie behielt ihren Kopf. Oder wäre Festungsarrest auf Lebenszeit etwa kein Glück? Nein, das war es nicht. Aber wenn diese Strafe nun einmal über sie verhängt war, dann mußte sie sie mit Anstand hinnehmen. Nur wenn sie diese Lebenszeit auf der Festung Spandau verbringen müßte, dann wäre es nicht zu ertragen. Eisenhörner, Eisenhörner – die würde man ihr ja nicht anlegen, so konnte sie gleich den ersten Tag sich die Stirn an der Mauer einrennen! Fiebernd erwog sie, anscheinend ruhig, und doch die Hände zusammengekrampft: was tun, was tun, um nicht nach Spandau zu kommen?! Nach Spandau, wo jeder das Fräulein von Weiß gekannt hatte, man wies mit Hohn und Spott und Verachtung auf sie. Eingaben, Bittschriften, die Gnade des Königs anrufen? Der Defensor, der Defensor, auch er mußte sich bemühen. Nicht vor der Haft auf Lebenszeit graute ihr, vor Spandau, vor Spandau – um Gottes willen, nur nicht dahin!

Die Verurteilte hörte nichts von dem, was der Vorsitzende noch weiter vorlas: daß Inquisitin gehalten sei, die Kosten der Untersuchung zu tragen. Die Urteilsgebühren auf fünfzig Taler festgesetzt, die Kopialien auf fünf Taler und die Bestellungsgebühren auf sechs Groschen. Sie sah auch nichts von dem, was um sie war, sah nicht die Gesichter, die nach ihr hinblickten mit einem Ausdruck, in dem ein Gefühl des Erbarmens mit dem nun gesättigten Rechtsgefühl kämpften; sie hörte und sah, aus weitgeöffneten Augen starr blickend, nur Spandau. Sah die Menschen, die sie da kannten, sah die inneren Wälle, die Ringmauer, über die rohe Sträflingsfratzen grinsten, ihr vertraulich zunickten, Zoten zuschrien, ihr, die, damals ein noch schuldloses Wesen, zwischen den Büschen der Wallpromenade im Arm von Revell lag. Sie kniff die Lippen zusammen, um nicht zu stöhnen: nur nicht dahin, nicht dahin!

Plötzlich drang etwas an ihr Ohr, das sie aufhorchen machte. Ein Wort und noch ein Wort, viele Worte:

»Aus Rücksicht für die Familie der Verurteilten und anläßlich des dringenden Ersuchens des Herrn Hofrat von Hauke und der hochwohllöblichen Verwandtschaft des Besagten, ist davon abzusehen, die Inkulpatin ihre Strafe in Spandau verbüßen zu lassen. Sie wird nach der Festung Glatz überführt.«

Nicht nach Spandau? Gott sei gepriesen, nicht nach Spandau! Mit einem zittrigen Atemholen sich erhebend, schritt die Ursinus jetzt auf den Vorsitzenden zu. Sie machte ihm eine ihrer zierlich-eleganten, tiefen Verbeugungen und bedankte sich für »gnädiges Urteil«. Dem Untersuchungsrichter tat sie desgleichen. Ihrem Defensor reichte sie die Hand.

Fast mit Verblüffung schauten die Herren drein. Als die Verurteilte jetzt abgeführt wurde, ein Polizeibeamter zu ihrer Rechten, einer zu ihrer Linken, sahen ihr alle stumm nach. Es war ein seltsames Schauspiel gewesen.

Und ein zweites wartete noch. Eine schmalschultrige, dürftige Person hatte sich eingeschlichen. Dort stand sie, draußen auf dem Gang, da, wo die Treppe hinabführt, und wartete. Harrte aus in stummer Ungeduld, in sehnsuchtsvoller, gläubiger Treue. Als die Ursinus an der Wartenden jetzt vorbeigeführt wurde, schrie diese, die sich bis dahin ganz still verhalten hatte, plötzlich hell auf: »Lotte!«

Die Ursinus, den schwarzen verhängenden Schleier zurückschlagend und ihr von Leidenschaften zerwühltes, vergrämtes, aber noch immer schönes Antlitz der anderen zukehrend, stutzte: wer rief? Rief nicht eine Stimme aus längst entschwundener Jugend?! Ein paar Augenblicke starrte sie verwundert. Plötzlich veränderte ihr Starren sich, ihr Blick wurde lebhafter, ihr Ausdruck weicher: war das nicht sie, die Gefährtin ihrer noch schuldlosen Tage, sie, die sie damals so schmerzlich vermißt?! Oh, jetzt kam die, jetzt?! Und mit einem Lächeln streckte sie die Hand nach der anderen aus: »Zéphire!«


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