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Fünfzehntes Kapitel

»Lieber Freund!

Hier ein Brief für Sie, der schon gestern einlief. Ich würde ihn auch heute noch nicht geschickt haben (weil ich ungern allein schreiben wollte und Lotte nicht konnte), wenn nicht ein gewisser Herr von Abeck bei uns erschienen wäre und gefragt hätte, wo Sie jetzt in Potsdam wohnten. Ob nun gleich die arme Lotte still im Zimmer blieb, so könnte doch jener Herr sie zufällig gesehen haben und Sie, lieber Freund, mit der Nachricht beunruhigen. Lotte sei ernstlich krank. Das ist sie nun, Gott sei Dank, seit heute nicht mehr. Vom Andrang des Blutes, von einer Fülle fordernder Gesundheit gepeinigt, hat ihr ein Aderlaß Erleichterung geschafft – in Hinsicht des Körpers also nicht mehr krank, aber ihr Gemüt leidet. Als sie von Ihrer plötzlichen Abreise erfuhr, kamen Beängstigungen – oh, hätten Sie sie gesehen, wie die Gute litt! Der Kopf war benebelt, das Herz geängstigt. ›Was der Körper leidet, sieht man‹, sagte sie, ›die Verwundungen der Seele sieht man nicht.‹ Schreiben kann sie heute noch nicht, sie würde sonst wollen.

›Sage recht was Freundliches, und morgen schreibe ich gewiß. Ich habe keinen Augenblick Mißtrauen, aber unbegreiflich ist mir die Veränderung in Plan und Benehmen, die von allem, was er mir sonst sagte, so sehr abweicht.‹

Und das ist sie mir, nach dem, was Lotte mir erzählt hat, auch. Können Sie mir darüber einen Aufschluß geben? Und auch darüber, wann eher Sie wohl wieder zu uns zurückkehren? Ich bin Ihr Freund – in welchem Grade ich es bin, das wissen Sie!

Morgen wird die gute Lotte schreiben. Da Sie sich, lieber Freund, unsrer mündlichen Unterhaltung für eine Weile entzogen haben, muß die schriftliche, soviel es irgend geht, diese ersetzen. Mit dem herzlichsten Anteil hoffen wir, daß es mit Ihrer Gesundheit schon besser geht. ›Gott mache ihn glücklich!‹ Oh, hätten Sie Lottens Stimme gehört, ihr Auge gesehen! Sie würden nicht daran zweifeln, daß Gott ein solches Gebet erhört. Er wird's. Und ich stimme herzlich mit ein: Gott mache Sie glücklich!

Ihr
Theodor Ursinus.«

 

Was antwortete man nun auf solchen Brief? Oder antwortete man besser gar nicht? Ragay, der in Potsdam, weit draußen in der Vorstadt, in einem angenehmen Logis am Fenster saß, lehnte sich verärgert in seinen Lehnstuhl zurück und seufzte: nicht einmal hier hatte man Ruhe. Gott sei Dank, daß Geheimrat Heim ihm dies Logis hier nachgewiesen hatte! Herr von Huguenin nahm sonst keine Fremden in seinem Landhaus auf, aber dem Arzt zuliebe, dem er Leben und Gesundheit verdankte, hatte er's gern getan. Oh, wenn sie doch gar nicht wüßte, wohin er entschwunden war! Vielleicht, daß es ihm dann gelänge, noch einmal wieder gesund zu werden. Noch sei es nicht nötig, die Hoffnung aufzugeben, hatte Heim gesagt – was der sagte, das war wahr.

Ach, leben, leben! Der Kranke beugte sich ein wenig vor und sog mit offenen Lippen sehnsüchtig die köstliche Luft ein, die, nach Wäldern und fernen Ackerfeldern duftend, zu ihm ins Fenster stieg. Oh, das tat gut, das tat gut! Er hüstelte und brachte ein wenig Blut auf das Taschentuch, das er sich an den Mund hielt. Heim sei gepriesen, der nicht nachgelassen hatte: ›fort aus der Berliner Luft, fort von der Französischen Straße‹. Der ihm so viel Energie eingeflößt hatte, daß er sich aufgerafft und den Mut gefunden hatte, hierher zu fahren. Nicht sehr weit fort, aber doch viel zu weit, als daß ein tägliches Beisammensein möglich gewesen wäre. Wie sie seine Flucht aufgenommen hatte, das zeigte ihm ja hier der eben empfangene Brief.

Er las ihn noch einmal, er hatte ihn hastig aufgerissen gehabt und in ebensolcher Hast durchflogen: sie würde ihm doch nicht etwa nachsetzen? Nun las er ihn langsamer und jeden Satz erwägend. Das wollte er wohl glauben, daß sie krank geworden war, als sie von Charlottenburg zurückkehrte und ihn nicht mehr fand. Wie mochte sie getobt haben, alle Räume nach ihm durchsucht! Sie konnte, sie wollte es nicht glauben, daß er fort sei – Schreie, Tränen, Krämpfe, Ohnmachten – der arme Ursinus, der konnte ihm ordentlich leid tun. Oh, er kannte ja ihre Leidenschaftlichkeit zur Genüge! Ihre Leidenschaftlichkeit im Zorn und im Haß ebenso groß wie in der Liebe. Noch spürte er ihren Biß an der Kehle und ihre Hände, die so schlank und zart waren und doch wie Männerhände Kräfte hatten. Nein, nein, er ging nicht mehr zurück! Ragay schauderte.

›Aufschluß darüber, wann eher Sie wohl wieder zu uns zurückkehren‹ – niemals, niemals! Nicht mehr nach der Französischen Straße, überhaupt nicht mehr nach Berlin. Nach Holland würde er gehen zu seiner Mutter – oder wenn da das Klima nicht gut für ihn war, irgendwohin in südlichere Gegend – vielleicht mit der Mutter. Charlotte hatte es ja gut mit ihm gemeint, sie würde gern für ihn sorgen – aber unmöglich! Er mußte allein sein, oder bei seiner Mutter. Ragay fühlte plötzlich eine ihm sonst unbekannte Sehnsucht nach dieser. Er sah sie deutlich vor sich mit ihrem alten, gar nicht schönen und doch so lieben Gesicht. Es würde sich gut mit einer alten behaglichen Frau zusammen leben – um Gottes willen nur nicht mit einer jungen! Charlotte war ja eigentlich gar nicht mehr so jung, aber doch noch jung, viel zu jung. Wenn es ihr nur nicht einfiel, hierherzukommen, ihm eine Szene zu machen!

Er riß an der Klingel. Der Bediente erschien. »Warum hat Er meine Adresse bei den Ursinus' hinterlassen?« fuhr er den an.

»Ich dachte – ich meinte –«, der junge Mensch stotterte erschrocken. Das war doch eigentlich selbstverständlich, daß man in einer alten Wohnung die Adresse der neuen hinterließ, es konnte doch noch manches an Briefen kommen und an Nachfragen; es war auch sonst vielleicht noch allerlei zu erledigen.

»Ja, ja. Er hat recht.« Ragay war schnell besänftigt: ein ganz vernünftiger Bursche und eine treue Seele. Wie rasch und geschickt hatte er alles zusammengepackt, als es hieß: nun fort. Hatte eine bequeme Kutsche herbeigeschafft, ihn darein verladen, ihn, so rasch und so gut es nur anging, hierher gebracht. »Ihm wird es noch einmal recht gut gehen. Ich bin zufrieden mit Ihm!«

Und Benjamin Klein strahlte über diese Anerkennung seines Herrn. Er war mit einer Bedientenseele auf die Welt gekommen.

»Gebe Er mir Papier und Tinte!« Ragay ließ sich beides bringen, der Diener stellte ein Tischchen vor ihn hin: nun konnte der Herr Baron schreiben. Aber Ragay schrieb doch nicht; es hatte mit der Antwort ja Zeit, erst noch einmal den bewußten Brief lesen. Er las ihn zum drittenmal, und nun erst wurde er sich so recht klar über ihn. In diesem Brief war ja jeder Satz überlegt, jedes Wort, nichts ohne Absicht geschrieben. Sehr klug. Keine Vorwürfe, keine Anklagen – ›Sage recht was Freundliches‹ –. Ein Frösteln überlief den Kranken, er wurde plötzlich ganz ängstlich. Er rief nach dem Diener: »Halte Er die Tür stets geschlossen, ich möchte nicht, daß mir ungefragt jemand hereinlaufen kann. Ich will überhaupt keinen Besuch – ich nehme niemanden an – keinen Menschen – auch Herrn oder Frau Geheimrat Ursinus nicht. Hört Er? Hat Er mich verstanden?«

Der Diener verneigte sich bejahend.

»Ich schlafe – ich bin nicht zu sprechen – oder ich bin ausgegangen – sage Er, was Er will, nur lasse Er mir keinen Besuch herein!«

Ragay atmete erleichtert: das war gut, daß er das beizeiten dem Klein eingeschärft hatte. Man konnte nie wissen, was ihr plötzlich einfiel. Sie war so sprunghaft, unberechenbar, jetzt sanft und zärtlich, eine Taube, jetzt eine Tigerin, die zerreißt. –

In dieser Nacht plagten den Kranken schreckliche Träume, er schrie um Hilfe, so laut, daß der Diener erschrocken herbeieilte: was war geschehen?

»Nichts, gar nichts.« Der in Schweiß Gebadete lächelte matt; er hatte nur geträumt, aber häßlich, es ging ihm ans Leben. Er ließ sich das vom Schweiß genäßte Hemd ausziehen und ein anderes anziehen, aber sowie er wieder schlief, kamen auch die häßlichen Träume wieder. Da zwang er sich lieber, wach zu bleiben und mit offenen, fieberglänzenden Augen sehnsüchtig auf den erlösenden Morgen zu warten.

Sowie Ragay aufgestanden war und im Sessel saß, schrieb er die Antwort auf den Brief von Ursinus. Aber der Brief war ja gar nicht von Ursinus. Der hatte ihn wohl niedergeschrieben, aber sie, sie –! Ragay sah sie bei ihrem Gatten am Schreibtisch stehen, die eine Hand leicht aufgestützt, den Gatten mit ihren seltsamen Augen fest bannend, so daß der schrieb, genau so, wie sie es dachte und wollte.

Aber sie sollte nicht glauben, daß sie mit ihrem Brief irgend etwas erreicht hätte. Die Entfernung von der Frau gab Ragay Mut. Sehr artig, aber kühl, auf ihre Krankheit und ihre Ergüsse gar nicht eingehend, antwortete er; das beste war hier die Phrase. Er kam sich hart vor, aber er mußte ja so sein, er wollte doch noch leben. Ach ja, leben!

Und so schrieb er denn wenige Zeilen nur, mochte sie denken, er sei zu leidend, um mehr zu schreiben. Aber sie würde schon das Richtige denken, sie war ja so klug. »Les voeux de la meilleure des amies me sont fort chers, les vôtres ne me touchent pas moins.«

*

»Wie leidend sieht sie aus«, sagten die Bekannten, die die Geheimrätin mit der ergebenen Miene einer Dulderin am Arm ihres Gatten durch die Straßen schleichen sahen. Die Geheimrätin Suarez regte sich förmlich darüber auf: was hatte die arme liebe Seele nur? Vor wenigen Wochen noch das Bild blühender Gesundheit, strahlend schön, und jetzt, wohl noch schön, aber wie Marmor von einem kränklichen Weiß. Doktor Heim, der die Suarez auch behandelte, wurde von der teilnehmenden Frau mit Fragen bestürmt: was für ein Leiden hatte denn die Ursinus? Heim zuckte die Achseln: durfte er denn sagen, ohne sein Renommee als diskreter Hausarzt zu gefährden, daß die Krankheitszustände, derentwegen ihn die Geheimrätin fortgesetzt rufen ließ, seiner Ansicht nach meist auf Einbildung beruhten? Oder waren sie sogar Verstellung? Sie wollte es durchsetzen, sie wollte den Mann dadurch zurückrufen, den armen Teufel, den er vor ihr zu Huguenin nach Potsdam geflüchtet hatte. Der Ragay sollte dort wenigstens in Ruhe sterben. Sie würde noch lange leben, wenn sie auch stöhnte in Herzkrämpfen und halber Ohnmacht: »Ich sterbe« und der geängstigte Gatte an ihrem Bett die Hände rang. Das waren alles nur Krisen der Nerven, Attacken, die das Blut einer unbefriedigten, nach Sättigung begehrenden Frau gegen alle anscheinende Keuschheit und nach außen aufrechterhaltene Wohlanständigkeit ritt.

Heim ließ sich nicht beirren. Die Geheimrätin war nicht gefährlich krank, er beruhigte den Gatten, der bei jedem neuen Übelbefinden seiner guten Lotte gleich die Fassung verlor; der, wenn sie stöhnte, wohl gar in Tränen ausbrach. Ein zum Betrogenwerden vorzüglich geeigneter, schon etwas kindisch gewordener Greis.

Heim war jedesmal unangenehm berührt, wenn die Ursinus nach ihm schickte: aber bitte, gleich kommen! Da hatte er doch Patienten, die seine Hilfe viel nötiger brauchten als diese Komödiantin. ›Komödiantin‹ nannte er sie, und doch war diese Sucht, etwas zu scheinen, was sie nicht war, auch eine Krankheit. Nur daß diese Krankheit noch keinen Namen hatte. – – –

Die liebende Frau hatte auf den Geliebten gewartet: würde er denn nicht wiederkommen? Doch! Ursinus bestärkte sie darin. Ach, dieser alberne, alte Dummkopf mit seinem elenden Geschwätz! Es machte Charlotte krank, was Ursinus ihr in liebevoller Besorgnis, in seiner Abhängigkeit von ihr, die sie selber gezüchtet hatte und die ihr jetzt doch unglaublich lästig fiel, an Gründen aufzählte, warum Ragay und warum er auf alle Fälle wiederkehren würde. Sie glaubte nicht mehr daran. Auch, wenn er nicht so ernstlich krank wäre, wie Heim es ihr, ihrer ewigen Quälereien müde, schonungslos gesagt hatte.

Bin paarmal war Charlotte in Potsdam gewesen mit Blumen und Süßigkeiten. Sie hatte den Kranken zu sehen verlangt, dem Diener ein Douceur in die Hand gedrückt, sich auch nicht gescheut, ihn mit flehentlichen Bitten zu bestürmen. Aber Benjamin Klein war fest geblieben, er war gut instruiert: sein Herr schlief, oder er war ausgegangen, auch konnte er niemanden in die Wohnung einlassen, sein Herr hatte zugeschlossen. Das erstemal hatte Charlotte dann noch lange draußen gewartet: vielleicht, daß er sich doch noch anders besinnen würde, sie zurückrufen ließ, denn daß er nicht schlief und auch nicht ausgegangen war, das wußte sie ganz genau. In ohnmächtigem Zorn stand sie draußen und verkrampfte die Hände ineinander, ihre Nägel ließen in dem zarten Fleisch tiefeingedrückte Male zurück. Wenn sie ihn jetzt zu fassen bekäme, oh, er sollte es büßen! Aber dann war ihr Schmerz größer als ihre Rachsucht, sie ging hinter einen Busch des Gartens und weinte, weinte. Ihr war, als seien es blutige Tränen.

Beim zweitenmal war es ihr nicht besser gegangen. Aber wenigstens ein Gelee, aus isländisch Moos, Lakritzen und Honig gekocht, das sie selber bereitet hatte und das den Hustenreiz mildern sollte, nahm der Diener entgegen. »Er soll davon nehmen mit meinen Wünschen«, sagte sie, und dabei konnte sie es nicht hindern, daß ihr die Tränen stürzten.

Auf Briefe antwortete Ragay nicht mehr. Als sie Ursinus schickte: vielleicht, daß er den annahm, glückte es auch nicht. »Ich darf keinen Besuch hereinlassen, der Arzt hat es streng verboten, mein Herr hat eine sehr schlechte Nacht gehabt.« Auch ihr Hustengelee aus isländisch Moos brachte Ursinus wieder zurück. Der Kranke wollte keines mehr, es schmeckte ihm zu bitter.

*

Nun fuhr Charlotte nicht mehr nach Potsdam, versuchte auch weiter nichts mehr – wozu alles? Aber sie hoffte, trotzdem sie nicht mehr zu hoffen vorgab, dennoch, wenn sie auch Ursinus, sollte der es wagen, ihr von Hoffnung zu sprechen, so heftig anfuhr, ihn mit so funkelnden Blicken maß, daß er kleinlaut schwieg. Sie konnte, sie wollte nichts davon hören, besonders nichts, was dieser lästige Schwätzer sagte. Und doch lebte sie in der geheimen ständigen Unruhe einer Erwartung. So hatte sie noch nie auf etwas gewartet in ihrem ganzen Leben, nicht in den öden Jahren im Hause der Eltern, so auf Erlösung, auf Befreiung von der Kette mit der schleppenden Kugel, nicht in der heißen Ungeduld auf das ersehnte Berlin. »Ragay, Ragay!« Sie stöhnte es in wilder Sehnsucht in ihrem einsamen Bett und biß in verzweifeltem Schluchzen ins Kissen.

Erst, als ihr die Nachricht kam, daß Ragay der Lungensucht erlegen war, die zuletzt einen rapiden Verlauf genommen hatte, wie Geheimrat Heim und Doktor Zenker in der Todesurkunde angaben, wurde sie ruhiger. Nun war er tot – tot! Ihre verzweifelten Tränen, ihre Krämpfe, ihre Ohnmachten ließen nach. Sie wurde allmählich wieder ganz ruhig.

Die Geheimrätin Ursinus fing wieder an aufzublühen, die teilnehmende Frau Suarez brauchte sich nicht mehr ihretwegen zu beunruhigen. Nun war sie wieder die schöne, die liebenswürdige Frau, die in ihrer sanften Munterkeit und durch die Güte, mit der sie an den Geschicken ihrer Umwelt teilnahm, bei allen so beliebt war. Der Tod ihrer Mutter, der Frau von Weiß in Stendal, brachte den ungezwungenen Empfängen, die die Geheimrätin jetzt wieder aufgenommen hatte, nur für kurz eine Unterbrechung. Die Jugend mußte ihr Recht haben, warum sollten ihre kleinen Freundinnen, die jungen Mädchen und eben flügge gewordenen Backfische, die die schöne und elegante Frau anschwärmten, die harmlos-fröhlichen Nachmittage bei ihr entbehren? »Wozu trauern«, sprach die Ursinus, als jemand ihr kondolierte, »der Tod ist uns Menschen nun einmal allen bestimmt. Wir haben ja auch lange genug Zeit dazu, uns an diesen Gedanken zu gewöhnen.« Ob sie dabei wohl an ihren Gatten dachte? Sie sah ihn an mit einem langen, nachdenklichen Blick.

Der Geheimrat Ursinus war recht abhängig geworden; es war eigentlich ein Wunder, daß er sein Amt noch versehen konnte. Es hieß, seine Frau hülfe ihm dabei; sie weckte ihn jedenfalls immer auf, wenn er zu Hause über seinen Akten eingeschlafen war, und nach dem Kammergericht brachte sie ihn stets persönlich und holte ihn auch wieder von da ab. Eine ganz vorbildliche Gattin, eine Frau, die sich mit Liebenswürdigkeit zu opfern verstand. Denn es mußte für sie, die immerhin doch noch jugendlich war, gar nicht leicht sein, Tag und Nacht auf diesen Greis angewiesen zu sein und sich den begreiflichen Launen seines Alters, wenn sie auch niemals darüber klagte, zu fügen. Wer würde den Stein auf sie werfen, wenn sie, die noch Ansprüche an Leben und Liebe zu stellen berechtigt war, sich vielleicht einen Hausfreund hielte? Aber nichts davon. Es waren meist nur ältere Leute, die zu den abendlichen Gastereien im Ursinusschen Hause gebeten wurden. Kein Mann konnte sich der besonderen Gunst der Frau rühmen, die durch die Eleganz einer mit besonderem Geschmack gewählten Toilette und den Zauber ihrer wohlgepflegten Erscheinung noch immer imstande gewesen wäre, Männerherzen für sich zu gewinnen. Das fiel dieser seltenen Frau aber gar nicht ein.

»Das Vorzüglichste, auf das wir zu achten haben und was uns Ehre und Ansehen in einer Welt verleiht, die so leicht geneigt ist, über noch so Unschuldige den Stab zu brechen, ist unser guter Ruf. Das merke dir, mein Kind!« sprach sie und hob einem jungen Mädchen ihrer Gesellschaft, das sich zärtlich-verehrungsvoll an sie schmiegte, eindringlich-ernsthaft lächelnd, mit dem Zeigefinger das rosige Kinn.


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