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Der Chirurgus Pohl war ein gefälliger Mann, er besorgte bereitwillig etwas Pulver gegen Ratten und Mäuse. Die Geheimrätin hätte es zwar auch wieder in der Flittnerschen Apotheke holen können – man bekam es zurzeit überall – sie war auch darum schon dort gewesen, aber dann hatte sie nur Malzzucker verlangt. Sah der Provisor sie über seine Brille nicht ganz seltsam durchdringend an?
Der Chirurgus Pohl war kein großes Licht, doch die Tante hielt auf ihn. »Mit was mir noch zu helfen ist, das kann der gute Pohl auch besorgen«, sagte sie, wenn die Nichte noch einen andern Arzt herbeirufen wollte. »Wirklich helfen kann mir nur der Tod. Dann werde ich mit ihm vereint sein!« Sie dachte an den, den sie geliebt hatte, und fing wieder einmal an zu weinen. »Nimm sein Bild von der Wand, Lottchen, stell' es hier dicht neben mich. Oh, wie glücklich werde ich sein, wenn ich ihn wiedersehe!«
Also die Tante glaubte an ein Wiedersehen nach dem Tode? Ganz fest. Und freute sich sehr darauf. Sie, die Ursinus, würde das nicht so freuen. Freilich, Ragay wiederzusehen, das brauchte sie nicht zu scheuen – aber Ursinus?! Doch wer sagte denn, daß Tante Christiane recht hatte? Nein, man sah sich nicht wieder nach dem Tode; tot ist tot, aus ist aus. Ob sie einmal an Bange schriebe, ihn bäte, zu ihr zu kommen? Sie möchte gern wissen, was er über das Wiedersehen nach dem Tode dachte; es konnte nicht auffallen, wenn sie, die Witwe, ihn danach fragte. Sie schrieb an Bange. Doch der Oberhofprediger kam nicht, schützte dringende Abhaltung vor.
Bange hatte geschwankt: aber nein, er wollte, er konnte sie nicht wiedersehen! Jetzt erst recht nicht, da sie Witwe war und auch jener Ragay vom Schauplatz verschwunden war. Er hatte sie sehr lange nicht zu Gesicht bekommen, aber als er bei einer Andacht im Dom in einer hohen schwarzen Gestalt sie zu erkennen geglaubt hatte, da war es ihm so durch und durch gefahren, daß er beinah den Faden verloren hätte. Nein, er durfte sie nicht wiedersehen, noch nicht!
Die Ursinus war etwas beleidigt, daß er ihrem Wunsche nicht Folge leistete, sie dachte bitter: ›Ja, wenn man alt wird. Selbst der Pfarrer springt nicht mehr, wenn ich pfeife. Aber wozu brauche ich ihn auch zu fragen? Er weiß es ja selber nicht, was nach dem Tode sein wird. Wenn er von einem Wiedersehen predigt, so macht er sich und andern etwas vor. Die einen will er vertrösten, die andern schrecken. Mich schreckt er nicht. Ich glaube an kein Wiedersehen.‹
Aber wenn die Tante von dem Wiedersehen fabelte, auf das sie in der Einsamkeit ihrer Altjungfernschaft gehofft hatte, und jetzt, in der traurigen Bettlägrigkeit ihres Alters erst recht hoffte, sagte die Nichte jedesmal: »Tantchen, tröste dich, du wirst ihn ja wiedersehen, bald, bald!«
Doch immer konnte sie noch zu keinem Entschluß kommen. Diese Entschlußlosigkeit quälte sie fürchterlich. Wie leicht hatte sie damals in Stendal den entscheidenden Schritt getan, es war fast schön gewesen, als ihr Blut floß – ja, damals war sie eben jung gewesen, und wenn man so jung noch ist, wirft man das Leben von sich wie ein Kind das Spielzeug. Jetzt hatte sie nicht den Mut, weil sie zuviel überlegte. Ohne langes Überlegen muß es geschehen, rasch, einem plötzlichen Impuls folgend. Aber Blut sehen, nein, nein! Das konnte sie nicht, sie würde ohnmächtig werden. Darum war das Pulver das rechte, das beste, das einzige. Ohne daß Blut floß, ohne daß die Welt »Mord« schrie, schied der Mensch nach dem Kampf einer Nacht von hinnen, und der Arzt schrieb: ›Infolge eines inneren Leidens‹, oder gar eines ›Nervenschlags‹, wie damals bei Ursinus. Was wußte denn so ein Arzt? Er konnte doch nicht in den Menschen sehen. ›Unser Wissen ist Stückwerk‹, das konnte niemand mit mehr Recht von sich sagen als der heutige Mediziner. Selbst Heim wußte nichts. Und das war gut. Denn so konnte man sich leicht davon machen, wenn es einem hier nicht mehr gefiel; sie war's ja so herzlich müde, auf ein Glück zu warten, das ihr doch nicht zuteil wurde. Auch wollte es ihr scheinen, als seien die Menschen, die sie kannten, längst nicht so freundlich mehr zu ihr. Hatten sie nicht alle neugierig-spähende, scharfblickende Augen? Beargwöhnte man sie? Selbst Benjamin Klein, der Diener, war ihr so ergeben nicht mehr. Er ging viel aus, blieb stets lange fort; was trieb er, wohin ging er, verleumdete er sie? Oh, es gab nichts auf Erden, was sich nicht rächte, sie hätte nicht nach Potsdam fahren dürfen, an Ragays Tür vor diesem Schlingel um Einlaß betteln. Wenn er das nun erzählte?! Dann war sie blamiert.
Von kleinlichen und kindischen Einbildungen gepeinigt, die nicht zu ihr paßten, die ihr nur kamen, weil sie müde und krank war – vielleicht zum erstenmal wirklich krank –, erschien die Ursinus sich selber verächtlich, zu einem ganz alltäglichen Weibe herabgesunken und fand doch von sich selbst aus die Kraft nicht, wieder die alte, die starke zu sein.
»Ich möchte mit dir sterben, du Geliebte«, gestand sie der Witte, die, heute von starken Schmerzen gefoltert, wieder besonders jammerte: »Herr, wie lange noch? Herr, nimm mich doch zu dir«, und schlang die Arme um die zu einem winzigen Häufchen Elend Gewordene. Beide Frauen weinten, sie umarmten und küßten sich.
In dieser Nacht gab die Ursinus der Tante einen gehäuften Teelöffel von dem Pulver in einer Limonade zu trinken. Den noch beträchtlichen Rest behielt sie für sich.
*
Das alte Fräulein Christiane Sophie Regine Witte wurde begraben. Als einzige Leidtragende ging die Schwester-Tochter hinter ihrem Sarge her – auch als einzige Erbin. Aber an das nicht unbedeutende Vermögen, das ihr zufiel, dachte die Ursinus nicht, wenn sie sich der Tante erinnerte. Die letzten Stunden, die sie allein, ganz allein mit der Sterbenden zugebracht hatte, waren furchtbar gewesen. Sie hatte weder die Magd geweckt, noch daran gedacht, einen Arzt holen zu lassen; der störte nur, sie wollte ja auch sterben. Aber als sie die Qualen sah, in denen die Arme rang, sank ihr der Mut: es war doch zu schrecklich, so zu leiden! Und wie unschön ein solcher Tod war! Man verzerrte sich, das Gesicht, den ganzen Körper. Es wurde ein kaum kenntliches Antlitz, war von den Schmerzen so aus der Form gebracht, daß es keine Spur früherer Schönheit mehr zeigte. Man mußte sich genieren, sich vor irgend jemandem so zu zeigen, selbst wenn man selber auch nichts mehr davon wußte, tot war. Ursinus hatte nicht so schrecklich ausgesehen wie die Witte. Die Finger, die Zehen der Tante hatten sich in den Krämpfen fest zusammengezogen, vergebens hatte die Nichte durch Streichen und Biegen versucht, ihr die verkrampften Glieder zu lösen und glatt zu strecken.
Als die Tante in ihren Armen den letzten Seufzer ausgehaucht hatte, war die Ursinus völlig erschöpft gewesen. Zehn Stunden hatte der Kampf immerhin gedauert; bei ihrer eigenen größeren Widerstandskraft würde er noch länger dauern, zwölf Stunden vielleicht, vielleicht sogar vierundzwanzig! Und solche Stunden zählen noch doppelt, sie sind grausig lang. Als die Tante starb, war es sieben Uhr morgens, gegen neun Uhr abends hatte sie's ihr gegeben.
Sie trat ans Fenster und blickte hinaus in den vom werdenden Frühling mit zarten grünen Spitzchen verjüngten Garten. Noch war niemand auf, die Magd noch nicht zum Bäcker gegangen, nur die Vögel waren schon wach, sie zirpten, stimmten die Kehlen, und dann schmetterten sie los. Alle mit einemmal, hell, ein jubelnder Chor; sie begrüßten den Tag. In Frühlingshelligkeit stieg die Sonne herauf aus schaumigen Wolkenwellen, ihre schon wärmenden Strahlen trafen die überwacht Fröstelnde am Fenster und taten ihr wohl, sie vergoldeten alles vor ihren Augen. Sie dehnte sich in einem plötzlichen, sie leise anrührenden Wohlbehagen: ah, das tat gut! Sie öffnete das Fenster und ließ frische Luft herein in die verdorbene des Sterbezimmers. In tiefen Zügen trank sie die reine, vom feuchten Duft treibender Erde doppelt köstlich gemachte Luft – ah, es war, trotz allem, doch gut zu leben! Besonders, wenn man noch nicht alt und nicht krank ist.
Die Ursinus, die den Abend zuvor fest entschlossen gewesen war, auch zu sterben, fühlte es an jenem andern Morgen wie eine Erlösung, daß sie noch lebte. Sie zog das Tütchen aus ihrer Tasche, schüttelte das weiße Pulver aus dem Papier zum Fenster hinaus und sah beruhigt zu, wie der Morgenwind es zerstäubend erfaßte und in alle Fernen blies.
Und dann rief sie nach der Magd und schickte die zu Chirurgus Pohl.
*
Die Haukes in Spandau hatten auch auf die Erbschaft gerechnet; der Hofrat nahm einen Rechtsanwalt an: war seine Frau denn nicht ebensogut eine Nichte der Witte wie die andere Schwester und ebenso erbberechtigt? Sie fochten die Gültigkeit des Testaments an. Die Ursinus zuckte die Achseln: wenn sie einmal gestorben sein würde und keine Leibeserben hinterließ, dann konnten die Kinder der Haukes sie ja beerben. Vor der Hand konnten die Haukes gar nichts machen, wenn der Schwager auch etwas von Erbschleicherei schrieb; sie war keine Erbschleicherin. Aber wer weiß, ob sie nicht doch noch Leibeserben hinterließ? Könnte das nicht sein, auch noch in reiferen Jahren?
Ihr, die in Schwarz gehüllt mit langem Kreppschleier häufig zu ihren Gräbern ging, folgten mitleidige Blicke: so rasch hintereinander in noch nicht zwei Jahren zwei solche Verluste! Die Ursinus hatte die Leiche ihrer Tante nach Berlin bringen lassen, die Gute sollte nicht so einsam draußen in Charlottenburg liegen; sie hatte zudem Ursinus immer so gern gehabt, nun lagen die beiden Gräber auf demselben Friedhof, Seite an Seite, und für sich selbst hatte sie noch eine dritte Stelle dazugekauft. Sie schmückte die beiden Gräber immer ganz gleich, pflanzte ihm nur eine rote Rose, ihr eine weiße und ließ nun beiden zusammen ein Denkmal setzen: eine Frauengestalt in fließenden Gewändern, die in trauernder Pose sich auf eine Urne stützt. Man glaubte in der trauernden Marmorfrau Gestalt und Züge der Geheimrätin zu erkennen.
»Aber was helfen all meine Tränen«, sprach die Ursinus zur Geheimrätin Suarez, die ihr von allen Freunden am nächsten stand, »ich kann sie ja nicht wieder lebendig machen – wollte Gott, ich könnte es! Ich muß nun sehen, wie ich allein fertig werde. Schwer ist's!« Sie seufzte, aber sie sagte es mit sanfter Ergebung in den Willen Gottes.
Sie fing nach und nach an, wieder ein wenig mehr mitzumachen, besuchte auch, im Hintergrund einer Loge sitzend, das Theater, schwärmte für die Fleck im »Neuen Jahrhundert« und vergoß Tränen herzlicher Rührung über Friederike Unzelmann in »Die beiden Savoyarden«. Sie liebte nur ernste, gehaltvolle Stücke, das Ballett besuchte sie nie. »Ich verstehe es nicht, wie ein gebildeter Mensch daran Geschmack finden kann. Mir ist es eine Unmöglichkeit. Mein Schamgefühl wird beleidigt, sehe ich diese Geschöpfe ihre Beine zeigen und auf die rohe Sinnlichkeit der Männer spekulieren.« –
Mit der Zeit war im Ursinus'schen Hause die alte Geselligkeit wieder im Gange. In Berlin war überhaupt viel Geselligkeit. Man vertrieb sich die Zeit mit allerlei Scherzen, die Hofkreise gingen darin mit gutem Beispiel voran. Im Tiergarten ritten die Herren eine Jagd, ein Gendarmenoffizier, ein berühmter Reiter, machte den Hirsch, die anderen waren Jäger und Hunde. Im Komödienhaus gab es maskierte Bälle und Pantomimen, die Passion für die Antike war aufgekommen. Die junge Königin Luise strahlte als Minerva; Mazedonier, Perser, Parther, Griechen tanzten Quadrille. Kein Mensch schien daran zu denken, daß es einen Napoleon Bonaparte in der Welt gab, was das Preußen, auf das er schon seinen Schatten warf, wohl hätte bedenklich machen können. –
Man aß gut bei der Ursinus, man trank nicht minder gut bei ihr, und da sie ja doch immer die Seele ihrer Gesellschaften gewesen war, so ging es auch ohne den Hausherrn. Man merkte es gar nicht, daß der fehlte, nur wenn die Hausherrin zuweilen sagte: »Als mein guter Ursinus noch lebte«, erinnerte man sich seiner. Diese immer noch schöne, wenigstens sehr stattliche Frau mit der vollendeten Sicherheit ihrer Umgangsformen und ihrer liebenswürdigen Grazie verstand es ausgezeichnet, ein Haus zu machen. Das Lämmerhüpfen, die Nachmittagsempfänge mit Tanz und Pfänderspiel fielen jetzt freilich weg. »Dafür habe ich seit dem Tode meines guten Ursinus den Sinn verloren. Es erinnert mich auch zu schmerzlich daran, wie freudig er immer mit der Jugend dabei war.« Sie war viel zu klug, um auf solchem Lämmerhüpfen mit leichtfüßigen jungen Mädchen einen Vergleich herauszufordern, es war besser, sie hielt sich jetzt an die ältere Generation. Und sie hatte Glück bei dieser, sie hatte einen noch weit vornehmeren Verkehr als zuvor. In ihren Salon kamen Exzellenzen, beim Fürsten Radziwill wurde sie zum Diner gebeten, bei Geheimrat von Faudel zum Souper, sogar der Minister von Voß beehrte sie mit der Einladung zu einem größeren Empfang, bei dem auch die Majestäten anwesend waren. Sie wurde vorgestellt und mit einer Ansprache ausgezeichnet.
Was wollte ihr Herz mehr? Ach, weit mehr! Es wollte etwas, das mit der Befriedigung ihrer Ehrsucht nichts zu tun hatte. Oft, wenn sie morgens auf ihrem Bettrand saß, sich die Strümpfe anzog, war es ihr so öde zu Sinn, so leer ums Herz, es grinste sie alles an, sah sie an mit so böswilligen schadenfrohen Augen, daß sie sich am liebsten wieder hingelegt, die Decke über den Kopf gezogen, den Tag gar nicht angefangen hätte. Abends war es noch schlimmer, dann weinte sie oft stundenlang. Eine ungeheure Last senkte sich mit der Finsternis der Nacht herab auf die Finsternis ihrer Seele. Ja, finster, so finster war es da drinnen, sie sah nichts, was ihr Erlösung, Freude, Genuß gewähren konnte – doch eins: eine gute Ehe, standesgemäß, in allen Ehren vor den Augen der Welt bestehend! Wenn sie einen Mann fand, der von nichts wußte, in ihr die Frau sah, die sie gerne, ach so gerne sein wollte, dann würde sie noch einmal anfangen zu leben, ein neues Leben, dann würde auch ihre Seele neu, und sie vergaß, konnte, durfte, würde alles vergessen, was vordem gewesen war! Die ungeheure Nutzlosigkeit dessen, was sie getan hatte, gähnte die Frau an wie ein finsterer Abgrund; so finster und tief, daß kein Sonnenstrahl bis auf seinen Grund fiel, wenn sie sich sagen mußte: bis jetzt hat noch immer keiner sich mit ernsten Absichten dir genähert. Drei Jahre waren es nun fast schon her, daß sie Witwe war – würde sich ihr überhaupt denn noch einer nähern mit dem Wunsche, sie zu seiner Frau zu machen?
Sie kam sehr viel in Gesellschaft, fast jeder Tag der Woche war besetzt; sie lernte alle möglichen Männer dadurch kennen, Ministerialräte, Diplomaten, höhere Militärs. Ach, selbst ein Arzt oder ein Wissenschaftler würde in Frage kommen! Sie unterhielten sich alle höflich mit ihr, war sie doch eine glänzende Unterhalterin, eine anregende Tischdame, eine ausgezeichnete Partnerin beim Whist – aber wie kam es nur, daß keiner, bis jetzt noch gar keiner auch nur einen Gedanken daran zu haben schien, ihr nähertreten zu können? Warum nicht, warum nicht?! Ging ein Geflüster über sie in der Stadt um, stieg etwas herauf, das man nicht wußte, aber ahnte, und warf einen Schatten auf sie? Sie bohrte ihre Blicke in die Gesichter der Menschen: ahnten sie etwas, fürchteten sie etwas?
Verzweifelt kam sie heute aus einer Gesellschaft heim. Schon mehrmals hatte sie Herrn Gesandtschaftsrat Menschikoff von der Russischen Gesandtschaft getroffen – Mitte der Vierzig, stattlich, vornehm, trotzdem mit gutmütig-herzlichem Wesen – mehrere Male war sie schon seine Tischdame gewesen, man schien sie absichtlich nebeneinanderzusetzen, sowohl beim Minister, wie bei ihrer Freundin, der Suarez. Sie unterhielten sich immer sehr gut, letzthin sogar so ausgezeichnet, daß sie, ganz vertieft, nicht bemerkten, daß die Hausfrau die Tafel schon aufgehoben hatte; sie waren noch achtlos sitzengeblieben, das heißt, sie im geheimen hatte es wohl bemerkt. Aber erst, als herzliches Gelächter die Vertieften aufmerksam gemacht hatte, sprang sie auf, ganz verwirrt, ein Erröten auf ihre Wangen zwingend. Und dieser Mann, auf den sie schon so bestimmt gerechnet hatte, daß sie Pläne machte – herrlich, Rußland war weit fort, wer wußte in Rußland etwas von der Geheimrätin Ursinus! –, dieser Mann hatte ihr heute erzählt, daß er verheiratet sei. Warum –?!
Hatte sie sich zuviel Mühe gegeben, ihn zu sehr merken lassen, daß er ihr willkommen sein würde? Und warum hatte man sie es denn nicht früher wissen lassen, daß er verheiratet war, in Rußland eine Frau hatte und Kinder? Der Kinder wegen war seine Frau in der Heimat zurückgeblieben, er würde sich aber bald wieder dorthin begeben, er hielt die Trennung von den Seinen nicht länger als ein Jahr aus. War sie denn blind gewesen und so töricht wie ein verliebtes Ladenmädchen? Sie fühlte, wie sie jäh erbleichte. Mit fast übermenschlicher Anstrengung erzwang sie ein Lächeln und sagte in scherzhaftem Neckton: »Also der Herr Gesandtschaftsrat stecken auch seinen Trauring in die Westentasche?« Er lachte gutmütig: »Oh, nicht immer ich das tue – nur in Gesellschaft.«
Hereingefallen, schmählich hereingefallen! Aufmerksamkeit, Liebenswürdigkeit, Witz, Geist vergeudet, umsonst Interesse gezeigt für dies verfluchte Rußland, Anteil an einem Menschen genommen, der ein Barbar, ein unkultivierter, ein Lügner, ein Betrüger war! Ja, aber hatte er sie denn belogen und betrogen? Eine Welle der Scham stieg in ihr auf, sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte: sie war diejenige, die da hatte belügen wollen, betrügen – ah, sie war verflucht, verflucht, ihr gelang nichts mehr!
Die Hände vom verstörten Gesicht nehmend, packte die Ursinus sich in die Haare und riß die kunstvolle Frisur mit den Locken an den Schläfen wild herunter: was nutzte ihr alles, ihr angenehmes Äußere, ihre Klugheit, ihre Eleganz, ihr Reichtum? Oh, gern würde sie alles hingeben, könnte sie nur wieder die kleine Lotte bei der französischen Mamsell, der guten Zéphire, in der kahlen, kalten Schulstube sein! Ach, ihre Zéphire mit den treuen braunen Hundeaugen, was war die für eine gute Seele gewesen! Nie wieder hatte sie jemanden gefunden, der sie so selbstlos lieb gehabt hatte. Was mochte wohl aus Zéphire geworden sein? Ob ihr Geliebter sie geheiratet hatte, ob sie eine glückliche Frau und Mutter geworden war? Oder ob sie sich noch immer in der Welt herumtreiben mußte, gegen geringes Gehalt und schlechte Behandlung ungezogene Kinder betreuen? Ach, könnte sie doch noch einmal da anfangen, wo sie stand, als Zéphire noch bei ihr war, wie anders würde sie dann ihr Leben leben!
Es war eine solche Zerknirschung in ihr, daß sie bitter bereute. Auf den Knien rutschend, flehte sie Gott um Hilfe an – sie hatte ja immer die Kirche besucht, auch viel gebetet, er mußte sie hören, ihr das geben, was sie wünschte – er mußte, er mußte! Ein Hauch aus dem Jenseits wehte sie an – sie lag auf den Knien und starrte gebannt, wie festgehalten mit eiserner Gewalt – o weh, dieser Hauch kam von Ursinus! Der blies sie jetzt an, eisig, sie so durchschauernd, daß sie selbst kalt wurde, wie er kalt gewesen war in seinem Tod. Zitternd kroch sie auf allen vieren, sie hatte nicht die Kraft sich aufzurichten, sie kroch in ihr Bett, steckte den Kopf mit unter die Decke und hoffte, so nichts mehr zu spüren.
Sie spürte auch nach und nach nicht mehr den Hauch eisiger Kälte, aber aus den Kissen, den Polstern, den Daunen des Bettes stieg etwas anderes auf, das nicht minder quälte. Der Geist der Wollust packte sie und wälzte sie von einer Seite zur andern, der weiche Faltenwurf des Vorhangs teilte sich, Ragay – oder war es irgendein anderer? – stand vor ihr in jugendlicher Nacktheit. Sie stöhnte, sie ächzte, sie heulte, daß es wie das Heulen eines Tieres klang, und zerschlug sich die Hände am Holz der Bettkante.
Am Morgen war sie krank, ermattet an Leib und Seele. Als die Zofe an ihr Bett kam, um nach ihren Wünschen zu fragen, befahl sie Frühstück, aber der Diener sollte es bringen. Die Zofe war erstaunt, sie servierte sonst immer das Frühstück, und heute sollte der Diener es bringen, gerade wo die Geheimrätin noch im Bette lag?
Als Benjamin Klein mit dem Tablett erschien, ein wenig geniert, denn er war noch nicht in Livree, nur in der Morgenjacke, in der er Staub wischte und die Stuben fegte, war die Herrin sehr freundlich. Aber er sah in ihrem Gesicht die verwüstenden Spuren der vergangenen Nacht und erlaubte es sich, zu fragen: »Haben die gnädige Frau nicht wohl geruht?«
Und sie, aus seiner Frage eine gewisse Teilnahme heraushörend, seufzte schmerzlich: »Ich bin zu allein – schrecklich allein und einsam!«
»Die gnädige Frau sollten wieder einen Herrn Gemahl nehmen. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, das steht schon in der Heiligen Schrift.«
»Er hat recht!« Das war es ja gerade, was sie hören wollte. Sie lächelte schwach: »Aber wo finde ich den, der zu mir paßt? So leicht ist das nicht.«
»Das meinen die gnädige Frau nur. Es gibt doch so viele feine und vornehme Herren!«
»Weiß Er mir einen?«
Wie sollte ein armer Diener wie er solch feine und vornehme Herren kennen, die allein zu der gnädigen Frau paßten? Aber sein Bekannter – ein Friseur –, der kam in die ersten Kreise, vielleicht, daß der –
»Seh Er zu«, unterbrach sie ihn kurz. »Es soll Sein Schade nicht sein.« Aber als kaum der Leinenärmel der Dienerjacke hinter der Tür verschwunden war, hätte sie schreien mögen: ›Es ist nicht wahr, es ist alles Unsinn, es war nur ein Spaß. Er hat nichts gehört, Er hat keinen Auftrag, bilde Er sich das beileibe nicht ein!‹ Sie schlug sich auf den Mund, sie schlug sich gegen die Stirn: wie kann man nur so töricht, so namenlos dumm sein, sich in den gemeinen Mund eines Dieners zu geben?! Das war mehr als töricht, viel mehr als dumm, das war irrsinnig, irrsinnig! Verlor sie denn schon ihren Verstand – ach, sie brauchte den nicht erst zu verlieren, sie hatte ihn bereits verloren! Nur deshalb war ihr Benehmen entschuldbar. Denn wie konnte sie so verächtlich, so tief gesunken sein, daß sie einen Diener und einen Friseur dazu anstellte, ihr einen Mann zu verschaffen?!
Diese Schmach, o diese Schmach! Eisenhörner, Eisenhörner, daß sie nicht mit dem Schädel gegen die Wand rannte. Sie rang verzweifelt die Hände: eine Schmach, so groß, daß nur der Tod sie tilgen konnte.