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Neunzehntes Kapitel

Haben Sie schon einmal eine Frau gesehen, die sich wie eine Löwin wehrt?« sagte der Untersuchungsrichter zum Direktor der Immediat-Kriminalkommission, dem Geheimrat von Warsing.

»Nun, ich selber habe doch damals ihre Verhaftung veranlaßt, als der Obermedizinalrat Welger zu mir schickte, in der Flittnerschen Apotheke habe man Arsenik in den Backpflaumen der Ursinus gefunden. Geschieht ihr ganz recht, wenn ihr Kopf jetzt wackelt!«

»Er wackelt, jawohl.« Der Richter nickte: »Und mit Recht. Aber wissen Sie, daß mich, trotz alldem, was einen gegen diese Frau einnimmt, ja erbittert, eine gewisse Achtung – nein, Achtung ist natürlich nicht das richtige Wort, Bewunderung auch nicht – ich möchte sagen, ein verwundertes Staunen erfüllt. Es ist fabelhaft, mit welcher Geisteskraft, mit welch erstaunlicher Schlagfertigkeit sie auf alle an sie gestellten Fragen antwortet! Blume ist auch ganz eingenommen von ihr. Erst schien er mir skeptisch, jetzt schwört er auf das, was sie sagt. Sie behauptet nach wie vor, nicht im Besitz ihres klaren Verstandes gewesen zu sein, als sie ihrem Diener Gift gab. Sich habe sie vergiften wollen, aus Überdruß am Leben, aus einer sie schon seit ihrer Kindheit belastenden, unerträglichen Schwermut. Nicht ihn. Wie das Arsen in die Bouillon gekommen sei, nach deren Genuß dem Klein so übel wurde, kann sie sich nicht erklären. Auch von den Backpflaumen will sie nichts wissen. Soll man das denn glauben, kann es denn möglich sein, daß ein Mensch so ganz außerhalb des Bewußtseins seines Handelns steht? Blume sagt natürlich ›Ja‹. Ich bin überzeugt, er wird eine sehr wirksame Verteidigungsschrift einreichen. Mir will es nicht in den Kopf – vorausgesetzt, daß sie nicht lügt, daß sie sich wirklich das Leben nehmen wollte –, daß sie den Diener angegiftet hat, um die Dosis auszuprobieren, die man nehmen muß, um auch wirklich zu enden.«

»Sie vergessen, daß sie das doch wohl schon in den vorhergehenden Fällen ausprobiert hat«, sagte der Kriminalkommissar.

»Erlauben Sie, Herr Kollege, es ist denn doch noch nicht erwiesen, daß sie den Gatten und die Tante wirklich ins Jenseits befördert hat!« Der Untersuchungsrichter war etwas gereizt. »Ich halte mich jedenfalls nicht für berechtigt, das so bestimmt anzunehmen. Den wilden Gerüchten, die im Publikum schwirren, ist kein Glauben beizumessen. Was redet der Volksmund nicht alles! Fama ist, selbst im guten Glauben, sehr oft eine betrogene Betrügerin. Sie leugnet standhaft, mit einer in ihrer begreiflichen Entrüstung wirklich glaubbaren Wahrhaftigkeit, daß ihre Hände rein seien am Tod ihres geliebten Gatten, ebenso wie an dem ihrer so sehr geliebten Tante Christiane Witte. ›Warum sollte ich meine Tante, dieses beste aller Wesen, ermorden?‹ sagt sie. ›Man wirft mir vor, ihres Geldes wegen, um mich in den Besitz der Erbschaft zu setzen – wußte ich denn, daß ich allein sie beerben sollte?‹ Sie glaubt übrigens, der Mann ihrer Schwester, der Hofrat Hauke in Spandau, könne vielleicht aus einem alten Haß heraus, weil sie ihn einstmals nicht erhörte, dieses Gerücht ausgesprengt haben. Vielleicht auch aus Ärger, weil sie alleinige Erbin ist. ›Brauchte ich denn Geld?‹ sagte sie mir. ›Ich habe selber Geld, mein guter Ursinus hat mir genug hinterlassen. Ich brauchte dieser für mich nur geringfügigen Erbschaft wegen wahrlich nicht zu morden.‹«

»Nun, wir werden sehen!« Der Kriminalkommissar nickte bedächtig. »Die Ausgrabung und Obduzierung der Witte findet ja morgen statt. Weiß die Ursinus das schon? Und daß sie zugegen sein muß?«

*

Es ist ein trüber Tag, Wind weht über den Kirchhof und faucht in Stößen, als wolle er sich beschweren im Namen der Toten, deren Ruhe gestört wird. Es ist Frühling, aber dieser Tag, feuchtkühl und grau, scheint nicht Frühling, er scheint eher Herbst. Ein Frösteln geht durch die Natur, Büsche ducken sich, Blumen erschauern.

Ein ganzer Trupp Menschen hat sich bei der Marmorfigur, die sich trauernd auf eine Urne stützt und die Züge der Frau Geheimrätin Ursinus trägt, versammelt. Der Totengräber und seine Gehilfen graben; sie arbeiten emsig, der Hügel ist bereits abgetragen, schon stoßen ihre Spaten auf den Sarg. Es dröhnt dumpf.

Zwei Jahre sind es her, daß die unverehelichte Christiane Sophie Regine Witte aus Charlottenburg hier beigesetzt wurde, der Sarg aus gutem Eichenholz ist noch wohlerhalten, nur die Griffe sind angerostet und brechen aus, als man ihn an diesen herausheben will. Die Gehilfen stemmen die Spaten unter, der Totengräber, ein alter Mann, der schon vieles erlebt hat, dem jetzt der lange schlohweiße Bart im Winde zittert – und auch die Stimme –, kommandiert leise: »Hebt – auf!«

Da steht der Sarg nun oben in der freien Luft, draußen am Tageslicht, und der Stadtchirurgus Klapproth und der Medizinalassessor Rose, die die Obduzierung vornehmen werden, treten näher heran. Die andern drängen nach.

Die Ursinus steht auch nah, so nah, daß sie alles sehen muß. Aber sie will nichts sehen, die Augen zupressend, zieht sie mit ungeschickter Hast den schwarzen flatternden Schleier fester vor ihr Gesicht. Aber der Schleier ist längst nicht dicht genug, und ihre Lider sind nicht geschlossen genug, sie muß sehen – doch sehen.

Der Polizist an ihrer rechten Seite wechselt einen Blick mit dem an ihrer linken Seite: wird sie jetzt umfallen? Sie wankt einen Augenblick, aber dann steht sie wieder fest. Eine grausende Neugier erhält sie auf den Füßen: was wird man finden? Wird man überhaupt etwas finden? Wäre es denn möglich, daß sie in ihrer, sie gänzlich verwirrenden Schwermut der Tante doch Gift anstatt des Pulvers gegeben hätte, das Pohl der Leidenden schon seit Wochen verordnet hatte und das diese täglich einnahm? Das Pohlsche Pulver stand auf dem Waschtisch im Schlafzimmer, und das Pulver, das sie immer bei sich trug als tröstliche Gewißheit, daß sie sich aus dem Leben flüchten konnte, wenn das Leben ihr nicht mehr erträglich war, hatte sie an jenem Abend, für einen Augenblick nur, auch auf den Waschtisch gelegt. Sollte sie beide Pulver verwechselt haben?! – – –

Als man der Angeklagten mitgeteilt hatte, daß sie morgen bei der Exhumierung ihrer Tante zugegen zu sein hätte, sträubte sie sich. Sie brach in Schreie aus: nein, das konnte sie nicht, das wollte sie nicht mitansehen, wie man einen verwesten Leichnam ausgrub, den von Würmern und Käfern angefressenen oder in Fäulnis übergegangenen Körper eines geliebten Menschen! Nein, das konnte sie nicht, das konnte sie nicht! Das durfte man ihr nicht antun, das war grausam, unbarmherzig, das war so unmenschlich roh, wie es keine Gerichtsbarkeit der Welt vor Gott verantworten konnte. Sie wand sich in Schreikrämpfen auf dem Fußboden ihres Zimmers. Aber als ihr Defensor ihr zu verstehen gab, daß es einen denkbar ungünstigen Eindruck machen und ihrer Sache sicher sehr schaden würde, wenn sie jetzt versagte, wurde sie ruhiger. Sie ermannte sich. Sie stand vom Boden auf, gab Blume die Hand und bedankte sich: ja, er meinte es gut mit ihr, er hatte auch recht. Ach, was blieb ihr auch anderes übrig, sie mußte sich ja unterwerfen. Aber schrecklich, schrecklich! »Findet man Gift, so heiße ich schuldig, findet man keines, so bin ich unschuldig. Aber sollte man auch etwas finden –« ihr entsetztes, verweintes Gesicht wechselte plötzlich den Ausdruck, Blume glaubte, einen Schimmer von Triumph darin zu sehen und ein wenig Hohn –, »keiner meiner Richter wird je wissen, ob ich meiner Tante absichtlich Gift gereicht habe!«

Was in dieser Nacht vor der Exhumierung in der Seele der Angeklagten vor sich ging, auch das wußte niemand. Die Wärterin in der Abteilung der weiblichen Untersuchungsgefangenen hatte mehrmals in der Nacht an der Tür der Ursinus gelauscht: ob sie sich auch nichts antat? Wenn auch keine Haken oder starke Nägel im Zimmer vorhanden waren, aufhängen konnte sich eine doch, wenn sie es durchaus wollte. Sie schloß auf und ging hinein ins Zimmer, aber da lag die Ursinus ruhig im Bett, der Schein des Lämpchens, das die Wärterin mit der Hand schirmte, fiel auf ein schlafendes Gesicht.

Aber die Ursinus schlief nicht. Als die Wärterin sich wieder entfernt hatte, der Schein des Lämpchens ihr Gesicht nicht mehr enthüllte, starrte das mit wildem, von Entsetzen verzerrtem Ausdruck ins Dunkel: nun war es doch an der Zeit, sich den Schädel einzurennen! Gift hatte sie ja nicht, man hatte ihr alles genommen, jedes Körnchen des geliebten rettenden Arsens. Sie sprang aus dem Bett, streckte den Kopf vor: einrennen, einrennen! Sie faßte sich an die Stirn, Eisenhörner schützten da nicht – ach, jene Unglücklichen auf den Wällen, heute war sie denen ganz gleich!

Aber wenn man nun nichts finden sollte? Wäre das nicht möglich? War die medizinische Wissenschaft zurzeit schon so beschaffen, daß sie nicht irrte, nicht noch unzuverlässig war? ›Nervenschlag als Todesursache‹ – »Haha!« Sie mußte plötzlich laut auflachen, auch der berühmte Heim konnte sich täuschen. Wer würde mit Sicherheit aus einem verwesten Leichnam feststellen können: hier ist Gift, oder hier war Gift?

Sie kroch wieder in ihr Bett zurück, sie fror unter der dünnen Decke, die in nichts an ihr leichtes und doch so molliges Daunenbett daheim erinnerte. Trotzdem hatte sie unter dieser härenen Wolldecke, hier in dieser schmucklosen ärmlichen Stube eigentlich besser geschlafen als in ihrem schönen, mit allem Komfort versehenen Zimmer. Das war merkwürdig genug. Nein, sie fürchtete sich auch nicht vor morgen!

Und doch war Furcht über sie gekommen, als der geschlossene Wagen, in dem sie mit zwei Polizeibeamten saß, sie zum Kirchhof fuhr. Es war jetzt weniger die Exhumierung, vor der sie sich ängstigte, als der Pöbel. Sie hörte ihn schreien. Und sowie ein solcher Schrei ertönte, fuhr sie zusammen.

Woher hatte man etwas erfahren davon, daß die Ursinus heute zum Kirchhof transportiert wurde? An der Leiche ihres Opfers die Mörderin! Es war ein Fest für den Pöbel. Der Platz vor der Stadtvogtei war schon schwarz von Menschen, als der geschlossene Wagen in den Torweg hinein zur Abholung fuhr. Noch konnte man nichts sehen, die Torflügel hatten sich gleich wieder geschlossen, aber doch drängten die hinteren Reihen gegen die vorderen, Menschen wurden gequetscht, man balgte sich, um vornean zu kommen. Gleich kam sie, gleich kam sie ja, die Mörderin, die verfluchte Giftmischerin! Lange brauchte man nicht seine ungeduldige Erwartung zu zügeln, schon öffneten sich die großen Torflügel wieder, heraus rollte der Wagen, ein vielstimmiger, langhallender, johlender Zuruf begrüßte ihn. Vor, hinter, neben dem Wagen staute sich die Menge. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, schrie: »Platz gemacht!«, die Pferde schäumten ins Gebiß, es ging trotzdem nur langsam vorwärts. Man konnte die Ursinus nicht sehen, die Innenvorhänge des Wagens waren herabgelassen, aber ganz Kecke schwangen sich aufs Trittbrett, klopften ans Glas des Fensters und brüllten Verwünschungen.

Die Ursinus hörte, verstand jedes Wort. Sie fühlte den Strom des Hasses da draußen, der sie, die im hin- und herschleudernden Wagen wie in schwankendem Kahn saß, forttrug. Sie saß ganz in eine Ecke gedrückt und hielt sich trotz des Schleiers noch ihr Taschentuch vors Gesicht. Sie zitterte: würde der Pöbel nicht die Fenster eindrücken, ihr Tuch und Schleier vom Gesicht reißen? Mit krampfhaftem Griff faßte sie nach dem Arm des neben ihr sitzenden Polizisten. Der sagte beruhigend: »Genau so'n Gedränge, ganz derselbe Tumult wie damals, als der neue König durchs Brandenburger Tor einzog, die Linden lang fuhr!«

*

In Hunderten, in Tausenden keine Regung des Mitleids, kein Hauch des nach einer Entschuldigung suchenden Verständnisses. Eine Verbrecherin, eine völlig Verabscheuenswürdige, bis in den Grund der Seele verderbte Verbrecherin! Und doch, ein Mensch war da, der das nicht glaubte, was alle andern glaubten.

Nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, eine dürftige, schmalschultrige Person, sehr ordentlich, aber sehr bescheiden gekleidet, stand auf einem Eckstein. Sie stand schon stundenlang, war da hinaufgeklettert, um so, ein wenig erhöht, von der Ursinus gesehen zu werden, ihr zuzuwinken. Mit der einen Hand stützte sie sich, um mehr Halt zu haben, gegen die Mauer des Eckhauses, in der anderen Hand hielt sie ein Taschentuch. Winken, winken, es flattern lassen wie eine tröstliche Flagge: hier ist jemand, der es gut mit dir meint! Aber der Wagen, der an ihr vorbeirollte, war verhängt, ihr Winken hatte keinen Zweck gehabt. Sie konnte auch nicht länger mehr winken, denn sie fühlte wohl, hier war nicht Ort noch Stunde, in denen sie Sympathie bezeugen durfte; man würde sie herabreißen, unter die Füße treten, und die Unglückliche, der man nachgrollte: »Mörderin!«, hätte nichts davon.

Mit steifen Knien stieg die Frau jetzt vom Eckstein herunter: ach nein, es hatte keinen Zweck, noch zu warten, bis der Wagen wieder vom Kirchhof zurückkam, der würde wieder verhängt sein. Und zwischen diesem Pöbel noch länger zu stehen, der in rasender Neugier nicht vom Platze wich, das vermochte sie auch nicht. Oh, diese Verwünschungen, diese grauenhaften Vermutungen, diese gemeinen Zoten! Furchtbar. Nein, das ertrug sie nicht mehr! Mit dem Taschentuch, mit dem sie der armen Beklagenswerten hatte winken wollen, trocknete die kleine dürftige Person sich jetzt Tränen ab. Wie ein treues Hündchen, das um seinen Herrn trauert, so schlich sie fort.


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