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Es war ein noch trüber, nebliger, eben erst grauender Vorfrühlingsmorgen, als der Geheime Gerichtsrat Herr Theodor Ursinus in die Postkutsche stieg, die, niedrig und auf dem Deck mit hoch aufgebauten Gepäckstücken beladen, auf sehr hohen Rädern wie ein viereckiger Kasten ruhte.
Der Gerichtsrat setzte sich gleich in die bequemste Ecke, steckte seine Füße in einen gestickten Fußsack, breitete eine warme Pelzdecke über seine Knie und zog sie sich bis zum Halse herauf. Noch einen Wollschal um die Ohren, und nun würde er es wohl aushalten können bis Berlin. Er hüstelte und nieste: eine leidige Fahrerei, hätte man nicht einen andern mit dieser Revision im Kreis Stendal betrauen können? Aber freilich, auf ihn konnte und durfte man sich verlassen, seinem unbestechlichen Auge entging nichts. Das erst verdrießliche, etwas fahle Gesicht erheiterte sich, zufrieden lächelte Ursinus vor sich hin; es erheiterte sich noch mehr, als jetzt eine vornehm aussehende Dame, der ein Bedienter mit Gepäck folgte, ein junges Mädchen in den Wagen schob.
Ihn bemerkend, hob die Dame, anscheinend freudig überrascht, beide Hände: »Herr Geheimrat Ursinus? Sie erinnern sich – Frau von Weiß. Wir sahen uns bei – ach, wo war es doch gleich?«
Nein, er erinnerte sich nicht, aber er begrüßte sie höflich, wie es sich gehörte: Frau von Weiß, die Frau des Kollegen Weiß. »Wollen gnädige Frau auch nach Berlin?«
»Nein, ich nicht, aber meine Tochter. Gestatten Sie, daß ich sie Ihnen hier präsentiere. Herr Geheimrat Ursinus, liebe Lotte, ein Kollege – nein, ein Vorgesetzter von Papa!«
Das junge Mädchen knickste und errötete, die Augen niedergeschlagen.
»Ach, Herr Geheimrat, wenn ich offen sein soll, so hoffte ich schon auf Ihre Reise. Mein Mann hörte von dieser, aber er hatte nicht den Mut, Sie zu bitten. Nun bitte ich, recht herzlich« – Frau von Weiß sah noch jugendlich und sehr liebenswürdig aus bei dieser Bitte –, »haben Sie die Güte, nehmen Sie sich meiner Tochter ein wenig an! Sie reist zu ihrer Schwester, meiner älteren Tochter, der Hofrätin von Hauke, nach Spandau. Ach, es ist für eine Mutter recht ängstlich, eine Tochter allein auf eine so weite Reise zu schicken, es gibt so viel Dreistigkeit – sie ist noch so jung!«
Ja, jung war sie, das sah Ursinus auch. Er erklärte sich bereit, sein Bestes zu tun. Er würde schon sorgen, daß das junge Fräulein gut reise und auch in keiner Weise belästigt würde.
»Dafür sorge ich schon selber«, sagte die Kleine und warf das bis jetzt gesenkte Köpfchen auf.
Das schien Ursinus recht keck, und auch die Mutter schien es zu finden: »Aber Lotte!«
Zu weiterer Ermahnung kam es nicht mehr, der Postillon stieß schmetternd in sein Horn: trari, trara.
»Adieu, adieu, meine geliebte Lotte!« Die Mutter riß mit einigen Tränen ihr Kind noch einmal ans Herz.
»Adieu, chère Maman!« Die Tochter küßte ihr noch rasch die Hand. »Leben Sie wohl, grüßen Sie den Papa!«
Frau von Weiß sprang von dem hohen Einsteigetritt herunter, der Schlag flog zu, die Pferde – vier waren es – zogen kräftig an, Charlotte von Weiß warf noch eine Kußhand zum Fenster hinaus, dann schleuderte ein starker Stoß des Wagens, der rasselnd um eine Ecke bog, ihre leichte Gestalt heftig gegen die hart gepolsterte Sitzbank. Sie seufzte und lächelte: Stendal war jetzt vorbei, was kam nun?!
Die Strecke Stendal–Berlin schien nicht sehr frequentiert, sie blieben lange die einzigen in der Postkutsche. Der Geheimrat hatte noch ein wenig zu schlummern gedacht, der Nachtschlaf war ihm durch den frühen Aufbruch erheblich verkürzt worden, aber die Demoiselle war munter, sie hielt ihn wach. Er sah erst jetzt ganz, wie hübsch sie war: ihrer Mutter ähnlich, ein stolzes Gesicht, aber milder und weicher durch die Reize der Jugend. Und recht aufgeweckt schien sie, sie fragte viel nach Berlin.
»Kriegt man da den König zu sehen? Mama schwärmt für ihn. Ist er wirklich ein so großer König?«
»Er ist ein sehr großer Monarch und wird Preußens größter Monarch stets bleiben«, sagte ehrfurchtsvoll der Geheime Gerichtsrat.
»Aber er ist doch schon so alt. Und wenn sein Neffe nun mal an die Regierung kommt, wie wird es dann sein?«
Ursinus räusperte sich: »Wie darf ich mir erlauben, meinen künftigen Herrscher zu kritisieren – Preußen wird auch unter ihm groß sein.«
»Aha!« Charlotte kicherte: »Ich merke schon was.« Sie kniff die Augen blinzelnd zusammen, dann machte sie sie groß und klug wieder auf.
Er sah, daß diese langbewimperten Augen sehr schön waren; er hätte nie gedacht, daß Augen, die bald tief dunkelblau, bald hell grünlichgrau schillerten, schön sein könnten. Sie hatten auch einen leicht schielenden Blick; aber der störte nicht, im Gegenteil. Wie alt mochte die Demoiselle Weiß eigentlich sein? War es indiskret, sie nach ihrem Alter zu fragen? Nach ihren Blicken zu urteilen, schien sie bereits eine Erwachsene, ihrer Gestalt nach noch Kind, obwohl schlank aufgeschossen; die Formen waren noch unentwickelt, die Brust flach. Als sie jetzt, da eine neugierige Sonne anfing durchs Fenster zu stechen, den Capuchon ihres Reisemantels herunterzog, hingen lange Locken, ohne künstliche Frisur, ganz kindlich noch, um ihr dünnes Hälschen.
Theodor Ursinus war nicht verheiratet, seine schwächliche Konstitution hatte ihn auch als Junggesellen enthaltsam gemacht, trotzdem verstand er sich auf Frauenschönheit. Aber mußte man die gleich mit groben Sinnen antasten? Sie als Ästhet zu genießen, war weit bekömmlicher. Diese Kleine hier war ganz wie einer jener berühmten englischen Kupfer, die er so liebte – entzückend, entzückend!
»Darf ich fragen, mein Fräulein, wieviel Lenze Sie zählen? Noch darf man ja fragen.«
»Raten Sie!«
»Fünfzehn? Sechzehn?«
Sie zog die Stirn kraus: »Leider erst dreizehn. Noch nicht einmal ganz, erst nächsten Monat werde ich's, Anfang Mai. Ich gäbe was drum, wenn ich älter wäre!«
Er lächelte väterlich: »Wenn man so jung ist, dann wünscht man sich das. Später ist gerade das Gegenteil der Fall. Ich zum Beispiel wäre gern jünger.«
»Ja, Sie –! Das glaube ich wohl.«
Ihr Ton traf ihn peinlich: sah sie in ihm denn schon einen Methusalem? Unwillkürlich ließ er die Pelzdecke von den Knien gleiten und zog verstohlen den Schal von seinen Ohren herab. Nun, so alt, wie sie zu glauben schien, war er denn doch noch nicht! Er richtete sich aus seiner bequemen Haltung auf. Freilich, dreizehn Jahre – und er?! Sie könnte gut seine Tochter sein. Auch wenn er erst mit vierzig geheiratet hätte, könnte sie das sein.
»Aber ich werde ja bald erwachsen sein«, tröstete sie sich. »Bei meiner Schwester in Spandau bekomme ich einen Tanzmeister. Sind in Spandau viele Bälle? Spandau ist Garnison, nicht wahr?«
»Spandau ist Festung«, sagte er ernst. »In den Kasematten liegen viele eingeschlossen – strengste Haft, allerstrengste in Ketten – Mörder, gefährliche Staatsverbrecher.«
»Kann man die sehen? Oh, die möchte ich gern mal sehen!« Ihre Augen funkelten neugierig.
»Da sei Gott vor! Solche Impressionen wären ja fürchterlich für der Demoiselle junges Gemüt. Die Schwerverbrecher sieht kein Mensch, die sind verschwunden auf ewig. Unterirdisch sind ihre Gelasse, angeschmiedet liegen sie tief unterm Wasserspiegel des Grabens.«
Sie schüttelte sich leicht.
»Sehen Sie, schon schaudern Sie bei dem bloßen Gedanken!« Er lächelte beruhigend: »Aber fürchten Sie nur nichts, kleines Fräulein, was Sie von Gefangenen zu sehen bekommen sollten, das hat nichts zu sagen. Von weitem vielleicht einmal welche, die Erde karren, Schlamm herausschaffen. Aber auch sie sind durch eine schwere eiserne Kugel am Bein unschädlich gemacht; Eisenhörner wachsen aus ihrem Kopfreifen über der Stirn.«
»Warum, warum das?«
»Damit sie sich die Stirn nicht einrennen können, wenn der Aufseher einmal nicht aufpaßt. Aber lassen wir das, es ist eine angreifende Unterhaltung für ein junges glückliches Wesen.«
»Mich greift es nicht an.« Aber sie war doch ganz bleich geworden. Unter ihrer zarten Haut schien das leicht erregbare Blut zurückgewichen. Sie zog ihren Reisemantel fröstelnd um sich. »Bitte, erzählen Sie mir noch mehr davon. Ich will noch mehr hören.«
Und er erzählte von dem Gefangenen mit der Maske, von dem kein Mensch wußte, wer er war, selbst der Kommandant der Festung wußte das nicht. Und erzählte noch einiges, er hatte ja keine Ahnung davon, daß Grausen Wollust sein kann. – –
Stunden waren vergangen. Der Postkasten hatte noch einige Passagiere aufgenommen: einen vierschrötigen Viehhändler, der in die Lausitz zum Einhandeln wollte, und eine Bauersfrau mit einem Henkelkorb. Den hielt diese schweigsam immer vor sich auf dem Schoß.
Der Gerichtsrat hatte sich wieder in die Ecke gedrückt und unter seine Pelzdecke verkrochen, es paßte ihm gar nicht, mit solcher Art Leute zusammen zu fahren. Wie töricht von ihm, sich nicht eine Extrapost zu nehmen! Aber freilich, dann hätte er nicht das Vergnügen gehabt, diese allerliebste kleine von Weiß kennenzulernen. Verstohlen schaute er zuweilen nach ihr hin. Sie schien zu schlummern; auf ihren weichen Wangen lagen die langen Wimpern wie Seide, die dunklen Amorbögen der Brauen erschienen noch dunkler gegen das helle Blond des jetzt ein wenig verwirrt in die Stirn hängenden Gelocks. Ein anziehendes Wesen, ein höchst anziehendes Wesen – so wie die mannbar war, war die auch weg! Der Gerichtsrat konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Schade, daß man nicht jünger war und nicht eine gesundere Konstitution hatte, und überhaupt, daß man aus soundso vielen Gründen nicht geeignet war, eine Ehe zu schließen! Vielleicht, wenn ihm solch ein Wesen begegnet wäre, als er noch jung war, vielleicht daß er dann doch – Die Augen fielen ihm über diesem Denken zu. Er schlief bald fest, hatte den Mund offen und schnarchte ganz erheblich.
Charlotte hatte sich in die gegenüberliegende Ecke geschmiegt, das heißt, was man so schmiegen nennt, unsanft machte bald ihr Kopf, bald ihre Schulter mit hartem Holz Bekanntschaft. Ach, es war gar kein Vergnügen, in der Postkutsche zu fahren! Nun waren sie schon sechs Stunden unterwegs. Die paar Brotscheiben, die ihr die Mutter für die Reise mitgegeben hatte, waren längst verzehrt, sie hatte rechtschaffenen Hunger. Daß die Mutter auch die Brotscheiben immer so dünn schnitt! Für einen gesunden Hunger waren die so gut wie gar nichts. Aber man sollte eben keinen gesunden Hunger haben, oder wenigstens ihn nicht befriedigen, damit man nicht dick wurde. »Dick sein ist plebejisch«, sagte die Mutter, darum ließ sie sich auch so schnüren, daß sie manchmal eine Ohnmacht bekam. Nur eine gewisse Molligkeit war erlaubt, die mehr zu ahnen, als daß sie sichtbar war.
Charlotte seufzte, ihr Magen knurrte. Wenn sie erst alt genug dazu war, heiratete sie aber recht rasch, einen Mann, der Geld hatte, damit sie sich satt essen konnte. Hunger ist ein zu unangenehmes Gefühl. Als Zéphire noch bei ihr war, hatte sie sich an der satt küssen können, aber lange hatte das auch nicht vorgehalten; sie hatten beide gehungert, aber wenigstens zusammen. Essen, essen! Die Mutter sagte: »In den Magen sieht dir keiner, mon enfant, aber was man anhat, das sehen die Leute.« O ja, sich schön anziehen, das war in der Tat wichtig, man wurde danach beurteilt. Robe, Corsage, geschmackvoll und vornehm – und wenn man dann noch schön dabei war?! Daß sie das war, das wußte Charlotte genau. Sie war sich ihres vorteilhaften Äußeren ganz bewußt, sie hatte es oft genug zu hören bekommen. Und der Spiegel sagte es auch. Wenn sie vor dem stand und mit halbgeschlossenen Augen den Blick an sich hinunterlaufen ließ bis zu den zierlichen Füßen, dann lächelte sie befriedigt: noch ein wenig zu mager, doch Figur würde schon kommen. Aber wenn sie dann ihr Gesicht ganz dicht an das Glas brachte und plötzlich so nah hineinsah in ein Paar meergrüne, schillernde Augen, die glänzend-schwarze Pupillen hatten und unruhig hin und her glitten, erschrak sie. Was waren das für seltsame Augen! »Nixenaugen« hatte einmal in einem Gedicht gestanden, das ihr ein verliebter höherer Schüler zugesteckt hatte. Ach, sie möchte eigentlich lieber andere Augen haben, solche von einem sanften Blau, oder so braune treue Hundeaugen, wie die gute Zéphire sie gehabt hatte. Und sie versuchte einen frommen Blick, sie studierte den; und dann gefiel sie sich am besten.
›Fromm, sittsam‹, das waren Bedingungen, die unerläßlich waren. Was der Geheime Herr Gerichtsrat wohl von ihr denken mochte? War es vielleicht zu dreist von ihr gewesen, ihn so viel zu fragen? Nach den Bällen in Spandau hätte sie ihn nicht fragen sollen, davon schien er nicht gern zu hören. Was wußte er auch von Bällen! Er tanzte sicher nicht mehr, er hatte ja schon Grau an den Schläfen. Doch er war nicht unnett, sah ganz vornehm aus und hatte was Gutes. Sie beobachtete ihn unter gesenkten Lidern: hübsch war er nicht, besonders jetzt nicht mit dem offenen Munde – und wie er schnarchte! Gut gestellt war er sicherlich, besser als der Papa. Was er wohl tun würde, wenn sie ihm sagte, sie wäre hungrig? Er hatte gesagt, daß in Rathenow beim Pferdewechsel Zeit vorgesehen sei, um etwas Warmes zu speisen. Sie würde nicht speisen, dazu hatte sie wohl den Hunger, aber nicht das Geld. Ach! Tränen schossen ihr in die Augen, sie hatte Mühe, die zurückzuhalten.
»Sie weinen?« hörte sie ihn plötzlich sagen. »Was fehlt denn der Demoiselle?« Er hatte mit Schnarchen aufgehört, freundlich fragend ruhte sein Blick auf ihr.
»Die Sonne, die Sonne«, stotterte sie. Und richtig, die Sonne kam ihr zu Hilfe, schien ihr scharf blendend ins Gesicht.
»Setzen Sie sich doch herüber, hier ist ja noch Platz!« Er rückte beflissen, und sie setzte sich neben ihn.
Der Postkasten schaukelte auf seinen hohen Rädern, bald ging's über Knüppeldamm, bald durch tiefe Furchen – Löcher, Steine – die Luft in dem niedrigen Kasten war sehr beengt, aus dem Korb der Bäuerin roch es nach Käse, der dicke Viehhändler roch auch nicht gut, einer Übelkeit nahe schloß Charlotte die Augen. Ihr Kopf, ohne Halt zu finden, nickte hin und her, plötzlich neigte er sich gegen Ursinus' Schulter.
War sie eingedruselt, von Müdigkeit übermannt? Er hielt ganz still, wagte kaum zu atmen. Eine hingewehte Blüte, so lag ihr Köpfchen an ihm. Wenn er sich getraut hätte, seinen Kopf zu bewegen, so hätte er sehen können, daß sie heimlich lächelte. Aber dann schlief sie doch fest ein, ihr leerer Magen hatte sie matt gemacht.
Er saß geduldig. Es war ihm ganz merkwürdig, ein Kinderhaupt so nah an seiner Schulter zu fühlen – nein, ein Mädchenhaupt, aus ihren Haaren stieg schon ein Duften. Er war verlegen, verlegener jedenfalls als sie, da sie endlich erwachte. Das Rumpeln hatte plötzlich aufgehört, der Postillon blies sein Schnädderengdeng, sie hielten vor einem Gasthaus.
»Oh, ich war eingeschlafen. Entschuldigen Sie! Oh, mein Herr, ich habe Sie doch nicht etwa belästigt?«
»Nicht im geringsten, nein, nein!«
Sie lächelte ihn an: »Ich bin hungrig.«
»Dann wollen wir speisen!« Er war auf einmal sehr guter Dinge, ganz fröhlich, ja, bester Laune: es war doch recht angenehm, in solcher Gesellschaft zu speisen.
Aber sie schüttelte traurig den Kopf: »Ich kann nicht speisen, denn – wo hab' ich denn meine Börse? Ich muß sie verloren haben – oder zu Hause vielleicht vergessen« – sie suchte an ihren Taschen – »ach Gott, sie ist wirklich fort!«
»Gestatten Sie, daß ich einspringe. Ich bedauere Ihren Verlust, der für mich aber ein Gewinn ist. Darf ich bitten, mein Fräulein?« Er reichte ihr galant den Arm wie einer wirklichen Dame, und sie schritt leicht, seelenvergnügt neben ihm her; es wurde ihr schwer, nicht zu hüpfen: essen, jetzt gab's was zu essen!
Ursinus aß stets mit Vorsicht, es bekam ihm nicht alles; aber sie aß wie ein ausgehungerter junger Wolf, aß alles. Er sorgte väterlich: war es auch nicht zu viel für sie? Sie schüttelte verneinend den Kopf, sprechen konnte sie nicht, sie hatte die Backen voll, kaute mit all ihren Zähnen. So lecker hatte sie noch niemals gegessen. Dieses Gasthaus war berühmt, es gab Schweineschinken mit knuspriger Borke und Kartoffelsalat; wem das nicht bekam, der aß gebratenes Hähnchen und gekochte Äpfel dazu.
Charlotte aß beides. Wein gab es auch, Ursinus hatte eine Flasche bestellt. Das war ein Luxus, den er sich sonst nicht leistete, aber es machte ihm Spaß, die Kleine lustig werden zu sehen und so vertraulich. War sie nicht sein liebes Kind, war er nicht ein guter Papa?
Als sie wieder in der Postkutsche saßen, lehnte sie gleich ihr Köpfchen an ihn. Ihr war jetzt sehr wohl: oh, war das schön, so gut satt zu sein! Er war wirklich sehr nett. Wenn sie mal einen jungen und schönen Mann hatte – denn jung mußte der Mann, den sie liebte, sein und natürlich auch schön –, dann würde sie auch so mit dem in der Postchaise fahren, sicher behütet und satt.
Ursinus war voll befriedigt von dieser Fahrt; merkwürdig, und er hatte sich doch vor ihr wie vor etwas Schicksalsschwerem, ganz Fatalem, gefürchtet! Hätte er geahnt, daß er eine so liebe, eine so allerliebste Reisegefährtin haben würde, dann hätten ihn sicher nicht solche Träume geängstigt wie in seiner letzten Stendaler Nacht. Der Geheime Gerichtsrat war nicht ganz ohne Glauben an Übernatürliches; er ging freilich nicht zu Kartenlegerinnen, wie die Damen der Gesellschaft es liebten, er besuchte auch keine mystischen Séancen, wie sie jetzt in Mode waren, aber wenn sich etwas Schwarzes, Schweres auf seine Seele legte, ihn gar im Schlaf wie ein Alp bedrückte, dann bedeutete das für ihn immer ein »Hüte dich«, Widriges stand ihm bevor. Heute aber wußte er nun, woher und warum es ihm diese Nacht wie eine Warnung gekommen war, und lächelte: nichts von Vorbedeutung dabei, nur sein Magen war es gewesen, der ihm sagte: »Halte dich morgen diät, gestern abend das Kalbskotelett mit den geschmorten Morcheln war dir zu schwer.«
Ob er dies liebe Kind wohl einmal wiedersehen würde? Wenn ein Herz lange einsam geblieben ist, dann ist es empfänglich für Zärtlichkeit. Und zärtlich schmiegte dieses Kind in seiner Harmlosigkeit sich ihm an. Es war ihm fast schwer, daß sie sich nun bald adieu sagen würden. Die launische Sonne des Apriltages verkroch sich schon, der Abend war nicht mehr fern, an dem sie Spandau erreicht haben würden. Von Berlin war Spandau nicht weit, jedenfalls nicht weiter als drei gute Stunden Fahrt; wenn er es durchaus wollte, könnte er das liebe Mädchen ja wiedersehen. Er würde sich vielleicht unter irgendeinem Vorwand bei den Haukes einführen können. Aber nein – törichte Idee –, das hieße denn doch dem jüngeren Beamten ein viel zu großes Entgegenkommen zeigen. Es vertrug sich mit seiner Stellung als Geheimer Gerichtsrat nicht. Aber das war es nicht allein, was Theodor Ursinus zurückhielt; er war immer ein wenig scheu gewesen, nun war er das auch. Aber schade, schade!
»Ob wir uns wohl einmal wiedersehen?« sagte sie träumerisch. Ihre Augen schwammen. »Sie waren so gut zu mir, ich würde Sie gerne wiedersehen!«
War das nicht eine Fügung, wie eine Schickung höherer Gewalten? Gerade hatte auch er das gleiche gewünscht. Es war offensichtlich, sie sollten sich wiedersehen, aber wie, wo? Nein, in Spandau sie aufzusuchen, nein, das ging doch nicht an!
»Meine Tante wohnt in Charlottenburg, die werde ich oft besuchen – nicht wahr, Charlottenburg ist ganz nahe bei Berlin? Ich könnte Sie dann treffen. Wenn Sie mir Berlin zeigen würden – oh, das wäre herrlich!« Sie klatschte in die Hände. »Ich möchte all die Plätze, die Straßen, die Häuser, die Schlösser, die Brücken, das ganze große Berlin sehen – und den großen König!«
Nun, das konnte ja wohl einmal werden! Er nickte zustimmend, aber es widerstrebte ihm doch etwas dabei.
»Oh, Sie wollen nicht gern?!« Sie war von ihm abgerückt, legte den Kopf auf die Seite und sah ihn halb schmeichelnd, halb schmollend an. Ihre Augen baten.
Gewiß, er wollte das wohl – er war ganz beflissen –, aber er wußte nicht recht, wann und wie.
»Haben Sie ein Taschenbuch? Und einen Crayon? Geben Sie her!« Sie befahl ganz energisch. »Ich schreibe Ihnen meine Adresse in Spandau auf.«
»Ich werde Ihnen die meine aufschreiben«, sagte er, sich noch rasch besinnend. Nein, wie ein verliebter Fant würde der Geheimrat Ursinus nicht in das Haus des Mädchens nach Spandau schreiben. Wenn sie denn durchaus wollte – es war ihm trotz der angenehmen Aussicht, sie einmal wiederzusehen, etwas unbehaglich dabei zumute, ihre Art war ihm auch verblüffend –, so würde er selbstverständlich bereit sein, wenn sie ihn davon verständigte, in Berlin den Führer zu machen. Vielleicht schickte es sich einmal zu einer Parade, denn dann war auch der König zu sehen.
»O ja, o ja!« Sie war jubelnd aufgesprungen und hüpfte. Jetzt war sie ganz Kind.
Und er fühlte keine Gewissensbisse mehr, daß es sich vielleicht auch nicht schicken könnte, sie allein auszuführen. Warum denn nicht? Überhaupt, wenn sie wollte! Darauf allein kam es an. –
Als sie in Spandau aus der Postkutsche gehüpft war und schon in den Armen der Schwester lag, winkte sie noch einmal mit den Augen nach ihm zurück. Er war ganz beglückt. Das hieß: »Wir sehen uns wieder!«