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Nun war sie also wirklich in Berlin. Von ihrem Fenster aus sah die Geheimrätin Ursinus die Wagen jagen, besonders zur Abendzeit, wenn die Vornehmen in das Schauspiel oder in die Oper fuhren. Sie wohnte in der besten Gegend Berlins, gar nicht weit davon, wo in der Mohrenstraße die Lichtenau ihr Haus hatte. Von außen sah das aus wie andere herrschaftliche Häuser auch, aber innen sollte es einem Palais gleichkommen, genau so prachtvoll, ja noch prachtvoller sein als das Landhaus in Charlottenburg. Was diese Person für eine fortune hatte! Der Sohn besaß auch ein Palais Unter den Linden, und sie hatte noch drei Güter in der Neumark. Es konnte der Lichtenau wirklich ganz gleichgültig sein, daß außer den Spottversen, die grassierten, auch allerhand Karikaturen, die sie verunglimpften, von Hand zu Hand gingen. Man bildete sie ab als raubgierige Hyäne, oder wie sie, unanständig den Rock so hebend, daß man ihre blanke Kehrseite sah und die entblößten Schenkel, mit Reiherbusch und großer Muffe spazierenging, und schrieb darunter: »Partie des Lustwäldchens bei Belle Vue«. Ach, alles Verleumdungssucht und Neid!
Charlotte konnte sich einer gewissen Sympathie, die sie einst schon, als sie noch die kleine Lotte war und bei der Tante in Charlottenburg gewohnt, für diese Frau gehabt hatte, nicht erwehren. Sie hütete sich nur, dies Ursinus zu zeigen, denn er würde diese Sympathie sehr übelnehmen, er schalt genau so wie alle anderen auf die Lichtenau, nannte sie ein gemeines Weib und das Unglück des Königs. Wieso Unglück? Sah man denn nicht, wie klug, ja wie bedeutend diese Frau war? Aus den einfachsten Verhältnissen stammend, schon als Kind in die Hand des Verführers fallend, um ihre Unschuld gebracht, ehe sie die begriff, hatte sie sich heraufgearbeitet von einer Mätresse zu einer Beraterin, zu einer Lenkerin des Königs – und nicht nur seiner Geschicke. Ha, das war noch eine Karriere, ein Aufstieg! Charlotte seufzte: ein König war am Ende doch noch etwas anderes als ein Geheimer Oberappellationsrat!
Die Geheimrätin Ursinus ging durch die behaglichen Räume ihres nun eingerichteten eigenen Hauses in Berlin und fühlte sich doch nicht befriedigt. Ach, das Geschick hatte es dennoch nicht gut mit ihr gemeint! Warum war sie nicht eher nach Berlin gekommen, viel früher? Hätte sie nicht so wie die Enke in Berlin ihre Kindheit verleben können? Wenn sie nun dem Kronprinzen unter die Augen gekommen wäre?! Sie reckte sich zu ihrer ganzen stattlichen Höhe und fühlte, daß auch sie Schönheit, Klugheit und Größe genug gehabt hätte, um auf die Meinung der Mitwelt und auch auf die der Nachwelt mit stolzer Gleichgültigkeit herabzusehen.
Das waren Stimmungen, sie gingen vorüber. Niemand war in Gesellschaft so liebenswürdig bemüht, zu gefallen, wie die neuhergekommene Gattin des Geheimrats Ursinus. ›Ein reizendes Ehepaar‹, das war die allgemeine Meinung. Er, so würdig mit seinem schon weißgesprenkelten, ein wenig gelichteten Haar, das, wie bei eitlem geistlichen Herrn, lang auf den Rockkragen fiel, und sie schön, wunderschön, von einer Schönheit, die nicht mit der allerersten Jugend verging, denn sie bestand nicht bloß im Reiz der Farben und im Pfirsichflaum der Haut. Im Gegenteil, die Geheimrätin war nie schöner, als wenn sie bleich war, bleich wie edler Marmor. Und sie war das oft, sah zuweilen etwas leidend aus mit einer sanften duldenden Miene. Was mochte ihr wohl fehlen? Und warum hatte sie keine Kinder? Ihr Mann war immer sehr besorgt um sie. Aber sie um ihn noch viel mehr. Es war rührend, mit welcher Liebe ihr Blick ihm folgte, wenn er, wie er es gern tat, mit einem Kollegen oder einem Herrn der Wissenschaft, die Hände auf dem Rücken, in angelegentlichem, ihn gänzlich seiner Umgebung entrückendem Gespräch im Saale auf und nieder ging. »Mein armer Ursinus ist immer etwas zerstreut«, pflegte sie ihn dann zu entschuldigen. »Er hat so viel Wichtiges im Kopf. O Himmel, schon wieder sein Taschentuch!« Und mit einem holden, aber ein klein wenig boshaften Lächeln schlüpfte sie hinter ihm her und steckte ihm das seidene Schnupftuch, das wie eine Fahne aus der hinteren Tasche herauswehte, sorgfältig ein.
Es gab einige Leute, die behaupteten, die Ursinus sei gar nicht so sanft und ohne jegliche Launen, wie sie den Anschein erweckte zu sein. Aber diese wenigen, und es waren meist Damen, fanden geringen Glauben. Die Ursinus war sehr beliebt, und es galt in der guten Gesellschaft für Ehrensache, im Ursinusschen Hause in der Französischen Straße zu verkehren. Außer den üblichen steifen Muß-Gesellschaften gab die Geheimrätin sogenannte Empfänge: Nachmittage mit Tee und Tanz und Musik, bei denen es ungezwungen zuging, sogar mitunter recht munter. Diese Nachmittage waren eigentlich für die Jugend gedacht – junge Mädchen, junge Frauen, junge Herren von Gericht und Regierung und, bunten Faltern gleich, Uniformen – aber auch schon recht angejahrte Regierungsräte und vielfache Kindermütter verschmähten es nicht, sich hier zu amüsieren.
Es war interessant, wen man alles an diesen Nachmittagen bei der Ursinus traf. Selbst den zurzeit so beliebten und mit Recht als einen ganz hervorragenden Kanzelredner gepriesenen Hof- und Domprediger Bange konnte man zuweilen hier finden. ›Ein lieber Jugendfreund‹, sagte die Geheimrätin. Er stand dann in einer Ecke, das an sich noch jugendliche, aber durch manchen inneren Vorgang zerklüftete und wie von einem unterirdischen Feuer zu Lava versteinte Gesicht in tiefe Falten gelegt, und sah ernst auf die Tanzenden. Mißbilligte er dieses Herumhüpfen, dieses Gelächter, dieses schmiegsame Sichumfassen beim Walzer? Wenn ihm das so mißfiel, warum war er dann hier? Das fragte sich Gotthold Bange selber. Er fand auch, daß es sich schlecht mit seiner Würde als Prediger und Seelsorger vertrug, hier herumzustehen und solch leichtfertiges Getue mit anzusehen. Besonders über Charlotte kränkte er sich. War das noch die gleiche Frau, die da lächelnd im Arm eines jungen Offiziers an ihm vorbeiwalzte, die gleiche wie jene, die in einer vertrauten Stunde, bei einem Besuch, um den sie ihn gebeten hatte, ihm weinend Einblicke in ihr Inneres gestattet hatte? Eine unglückliche, sehr unglückliche Frau, von Impulsen getrieben, deren Ursprung nicht zu erklären war. Eine Frau, die gut war, ohne aus Überzeugung gut zu sein, eine Frau ohne jede moralische Hemmung. Sie schien ihm ein Wesen, von Dämonen getrieben und doch von Engeln an der Hand geführt. Sie hatte, in Tränen aufgelöst, um seine stützende Hand und um seine Fürbitte gebeten. ›Ach, beten Sie für mich! Wenn ich unten im Gestühl des Doms unter all den vielen Hunderten sitze – jeder drängt sich ja, Sie zu hören – und Sie da oben mit gewaltiger Stimme gegen Lüge, Trug, Neid, Unzucht, Putz, Ehrsucht, gegen den Satan, der uns alle umstrickt, eifern, dann möchte ich mich zitternd zu Boden werfen: oh, ich Sünderin! An meine Brust schlagen, mein Haar zerraufen. Aber wenn Sie dann mit so göttlicher Milde fast flüsternd sprechen, so wohllautend wie Gesang, so lockend wie Amsellied nach Wintersbangnis: »Kommet her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken‹, dann möchte ich weinen in Ihre Hände, vergehen vor Seligkeit.‹ Es hatte ihn seltsam durchschauert, als sie ihm das bekannte. ›Weinen in seine Hände‹, das hatte sie schon getan – aber ›war sie auch vergangen vor Seligkeit‹?!
Die Blicke des Hofpredigers folgten heute finster dem an ihm vorbeiwalzenden Paar. Wiederum tanzte sie mit dem Offizier vom vorigen Empfangsnachmittag. Er trug ausländische Uniform – wer war es? Ein etwas langgeratener, sehr schlanker Mensch, aber hübsch und recht jung. Er sei der Gesandtschaft attachiert, ein Holländer, van Ragay, sagte ihm jemand.
Warum tanzte sie so engumschlungen mit diesem Holländer, so besonders eng? Den Zipfel ihrer Schleppe, die wie eine Schlange hinter ihrem florähnlichen Kleid herrutschte, hatte sie ihrem Tänzer über die Schulter gelegt. Oh, dieser Walzer, dieser von einer schamlosen Mode zum Liebling aller Tänze erkorene! Schon einmal hatte Gotthold Bange sie den tanzen sehen. Damals, als niemand ihn noch tanzen konnte, nur sie und jener Leutnant, der nachmals geschaßt wurde wegen Liederlichkeit, in Spandau, vor vielen Jahren. Damals war sie ein junges Mädchen, zart und unschuldig – ach, unschuldig war sie wohl auch damals nicht mehr gewesen! Vielleicht schon nicht mehr, als er sie zur Konfirmation vorbereitete. Hatte er sie denn in richtiger Weise vorbereitet? War er selber so gefeit gewesen gegen die Versuchungen, die in den Mienen dieses fromm blickenden Kindes lauerten, daß er ganz sicher gewesen war, sich nicht hinreißen zu lassen? Wer war überhaupt seiner selbst sicher? Hofprediger Bange seufzte tief.
»So ernst und nachdenklich?« hörte er plötzlich ihre Stimme. Charlotte stand vor ihm, noch hob und senkte sich die Brust, von deren Weiße man viel sah in diesem Kleide, ihre Wangen waren vom raschen Tanze hoch gerötet. Also nun war der Walzer mit dem langen Holländer zu Ende? Er sah sie finster an, in seiner Miene zuckte etwas, das sie bestürzt machte.
Hatte sie etwas getan, das ihn kränkte, oder war ihm irgend etwas geschehen, das ihn verstimmte? Es lag ihr daran, ihn zum Freunde zu haben, sie mußte den berühmten Prediger ihrer Geselligkeit erhalten, er durfte in keiner Weise sich unbehaglich fühlen bei ihr. Sanft, fast zärtlich faßte sie seine Hand und sah ihm von unten her tief in die Augen, ihre Stimme war weich: »Sie sind nicht heiter, lieber Freund, sagen Sie mir doch, was Sie verstimmt! Sie wissen, was Sie mir sind, ich kann nicht froh sein, wenn Sie solch Gesicht machen.«
›O du Heuchlerin‹, dachte er, ›daß ich dir nicht die Maske vom Gesicht reiße‹! Aber laut sagte er: »Es verstimmte mich, als ich sah, daß dieser unvernünftige Tanz auch vernünftige Menschen erfaßt wie ein Taumel. Um was tanzt man hier?«
»Um die Liebe«, sagte sie leise.
»Es ist Zeit, daß ich gehe«, sagte er und sah auf seine Uhr.
»Oh, bleiben Sie, bleiben Sie doch noch ein bißchen!« Ihre Stimme und ihre Miene schmeichelten. »Sie haben den neuen Stich, den Ursinus mir für mein Zimmer schenkte, noch gar nicht gesehen. Kommen Sie, ich führe Sie hin.« Sie erfaßte seine Hand.
Es zuckte in ihm, ihr die seine wegzureißen, aber ihre Hand hielt zu fest. Widerwillig und doch willig ließ er sich führen. Dahin, wo in ihrem Zimmer, das jetzt statt der seidigen Stoffbespannung, nach der Mode weiß gestrichene kahle Wände zeigte mit schmalen Friesen verziert, der neue Kupferstich hing. Das Abendmahl, von Leonardo da Vinci.
»Ich stehe oft davor und sehe es mir an«, sagte die Ursinus. »Sehen Sie nur einmal diesen Judas, wie er sich an Christus heranmacht.«
»Du sagest es«, sprach Hofprediger Bange und sah dabei die Geheimrätin starr und scharf an.
»Und was wollen Sie damit sagen?« Charlotte lachte, aber es klang etwas beklommen: »Ich habe doch Christus nicht verraten!«
»Aber sich.« Und Bange empfahl sich. Er begab sich eilends nach Schloß Monbijou jenseits der Spree, um mit der dort residierenden Königin Friederike Luise, die von ihrem königlichen Ehegemahl so oft schon gekränkt worden war und noch immer gekränkt wurde, eine abendliche Gebetsstunde zu halten. – –
Vor dem neuen Kupferstich an der Wand ihres Zimmers stand an diesem Abend, als alle Gäste gegangen waren, und auch der Gatte sich von ihr verabschiedet hatte, die Geheimrätin Ursinus und betrachtete ihn, die Augen leicht zusammenkneifend, wie in einer blinzelnden Verlegenheit. Was hatte Bange damit sagen wollen: ›Aber sich‹ –? Wie, sie hätte sich verraten? Sie hatte es doch nicht offenbar gemacht, in keiner Weise gezeigt, daß ein zartes Empfinden sie zu Ragay zog und ihn zu ihr. Wer konnte dabei etwas finden, daß sie diesen, hier noch fremden und unbekannten jungen Ausländer, den sie in einer Gesellschaft kennengelernt hatte, auch freundlich in ihren Kreis lud? Oder was hätte sie denn verraten? Dieser Bange war unbequem. Verrat an sich selber, ja, den hatte sie wohl schon oft geübt. Verrat an ihrem bessern Ich. Aber wer beginge den nicht? Man log, man betrog, man profanierte sich, man bröckelte langsam ab von dem edleren Ich, von jenem Menschen, der ursprünglich rein und gut ins Dasein gekommen ist. Aber kann man das ändern? Die Umgebung, in die man hineingesetzt ist, die Welt, überhaupt das ganze Leben verlangt es so. Man kann gar nicht anders.
Aber was hatte das alles mit dem Judas da oben zu tun? Sie hob die Achseln, daß der Ausschnitt des Kleides tiefer von den Schultern rutschte, und blickte ein wenig spöttisch: der Herr Hofprediger hatte sich vergaloppiert, die Sache mit dem Judas war an den Haaren herbeigezogen – er war eifersüchtig. Eifersüchtig! Und als mache dieser Gedanke Zweifeln und Befürchtungen ein Ende, ja als mache er ihr sogar Freude, so lächelte sie jetzt. Es war das Lächeln einer Eitelkeit: ›also auch Bange!‹
*
Der Geheimrat Ursinus hatte gar nichts dagegen, daß der holländische Capitaine van Ragay öfter ins Haus kam, nicht nur zu dem »Lämmerhüpfen« wie er mit gutmütigem Spott die nachmittäglichen Empfänge seiner Gattin nannte. Er gönnte es ihr von Herzen, daß sie sich dabei amüsierte, wenn er nur nicht mittun mußte. Tanz, Pfänderspiele, Blinde Kuh. Das Gesellschaftszimmer, groß wie ein Saal und wie ein solcher durch wenig Möbel belastet – nur Stühle an den Seiten entlang, ein breiter Kamin mit Marmorkonsole, ein Lüster mit funkelnden Glasbehängen und mehrarmige Wandleuchter mit Wachskerzen – hallte wider von munterem Gelächter. Ursinus floh vor diesem Spuk. Am äußersten Ende des Korridors, der die ganze Länge der aneinandergereihten Zimmer hatte, war seine Stube; seine liebe Stube mit den altvertrauten Möbeln aus seiner Junggesellenzeit, dem Stehpult und dem Büchertisch. Hier arbeitete er, und hier schlief er auch; hinter einem grünen Wandschirm stand sein Bett, da lag es sich sehr gemütlich. Er hatte nach und nach wieder alte Gewohnheiten aufgenommen, trank morgens seine Schokolade im Bett und las die Zeitung dabei; es war genau so wie früher, nur daß abends seine liebe Frau an sein Bett kam, gemeinsam mit ihm das Abendgebet sprach, ihm die Limonade, in der er seine Mittelchen nahm, brachte, ihn dann sorglich zudeckte und ihm zärtlich eine recht geruhsame Nacht wünschte. Und dann schlief er, sich von der Sorgfalt seiner guten Lotte jederzeit umgeben wissend, zufrieden und durch nichts gestört.
Sollte Ursinus sich darüber Gedanken machen, daß dieser Ragay so viel ins Haus kam und von Lotte ganz besonders herangezogen zu werden schien? Wenn es ihr Spaß machte, wie konnte er es ihr wehren? Lotte wußte schon, was sie tat, Lotte tat immer das Richtige. Die Freundschaft mit Ragay beunruhigte ihn nicht im geringsten, selbst dann nicht, als Lotte mit einem ihn zwar erst etwas befremdenden Plan, den er aber binnen einer Viertelstunde schon nicht mehr befremdend fand, herausrückte. Warum sollte Ragay nicht bei ihnen wohnen? Das heißt, nicht so, daß er wie ein Pensionär an allen Mahlzeiten und am intimen Leben des Hauses teilnahm – das ginge zu weit, sagte Lotte, und würde auch der Freundschaft bald ein Ende machen, allzu dick hält nicht – aber er konnte doch seine Zimmer hier haben.
»Wir haben eigentlich eine zu große Wohnung, findest du nicht?« fragte sie ihren Gatten. »Wenn wir ihm zwei Zimmer abgeben, haben wir noch immer sieben Räume, reichlich genug. Und ihm würde ich es gönnen, er ist herzlich schlecht untergebracht. Denke dir nur, überall Wanzen! Wahrscheinlich noch russische Wanzen; es können aber auch französische sein. Jedenfalls hat er sehr darunter zu leiden, er hat mir's geklagt. Ich bedaure ihn, er ist doch aus gutem Hause. Und ich würde mich auch gern anheischig machen – es als Christenpflicht betrachten, als meine besondere Pflicht, da ich selber ja keine Kinder habe –«, sie seufzte deutlich hörbar, – »auf den jungen Mann ein mütterlich-wachsames Auge zu haben. Nicht daß er leichtfertig lebte, Gott bewahre, so jemand käme mir nicht ins Haus, aber er geht leichtfertig mit seiner Gesundheit um. Er hustet, will schon einmal Blut gespuckt haben; dabei läuft er bei jedem Wind und Wetter draußen herum, kriegt nasse Füße, wechselt aber die Fußbekleidung nicht, sitzt im Zug – kurz, tut alles, was er nicht tun darf. Findest du nicht, daß wir verpflichtet sind, solchen Unbesonnenheiten ein Gegengewicht zu geben?«
Ursinus fand das sehr: Wind und Wetter, Zug, nasse Füße?! Er entsetzte sich. »Der junge Mann wird sich zugrunde richten.«
»Das fürchte ich auch«, sagte sie sehr bekümmert. »Ich habe ihn gebeten, sich mehr in acht zu nehmen, ich habe ihn an seine ferne Mutter erinnert – oh, wie würde die sich grämen! Aber da sagte er mir: ›Ein Mensch, der keine Häuslichkeit hat, niemanden am Ort, der für ihn sorgt, ein Mensch, der zudem schon mehrfach als Offizier sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, der versteht es nicht, besondere Rücksichten auf sich selber zu nehmen.‹« Sie seufzte wieder.
»Er wird bei uns Wohnung nehmen, selbstverständlich«, rief der Geheimrat. »Du gutes Herz!« Er nahm ihre Hand und zog sie auf seinen Schoß. Er legte den grauen Kopf an ihr Herz: »Wie das pocht, dieses weiche, um anderer Leute ebenso bekümmerte Herz wie um eigenes. Oh, meine Lotte, welche Fügung eines gütigen Himmels hat dich mir doch damals in den Reisewagen geführt! Auf Knien, täglich auf Knien –« stammelte er weinerlich und wischte an seinen Augen.
»Soll er denn nun ins Haus ziehen, bestimmt?« fragte sie, und ein feines Ohr hätte die Ungeduld in ihrem Ton herausgehört, aber Ursinus hörte sie nicht, denn die Frau hatte seinen grauen Kopf noch fester an sich gezogen und streichelte spielerisch an seinen Haaren herum. »Also, dann werde ich es ihm sagen, daß du einverstanden bist, falls er heute nachmittag herkommt.«
»Ja, das tue, meine Liebe, ich bin einverstanden – vorausgesetzt, daß du nicht zu viel Mühe davon hast.«
»Oh, gar keine«, sagte sie rasch. – – –
Es war für den Herrn van Ragay – Capitaine ließ er sich nennen – in der Tat eine große Annehmlichkeit, bei den Ursinus zu wohnen. Seine Vermögensverhältnisse waren nicht die besten; er spielte gern, liebte gern, und das kostete beides Geld. Auch seine Gesundheit war nicht die beste. Hochaufgeschossen, mit schmalen Schultern, was der Figur des Dreißigjährigen das Ansehen eines Zwanzigjährigen erhielt, und mit einem Teint, der mitunter aussah, als sei er gemalt, wirkte er für eines Arztes Auge schwach, für eines Mädchens Auge sehr hübsch. Die Geheimrätin Ursinus wurde viel beneidet wegen der Eroberung, die sie gemacht hatte. Denn daß sie die gemacht hatte, das sah jeder kaum flügge Backfisch. Er hing an ihrem Blick, und wenn er mit ihr tanzte, dann schien er sich ihr ganz hinzugeben. Eigentlich eine etwas skandalöse Angelegenheit, meinten einige. Aber man nahm es jetzt nicht so genau, das Beispiel, das von oben herab gegeben wurde, wirkte so anreizend, daß man sich als getreuer Untertan entschuldigt fühlen konnte. Dreieckige Verhältnisse waren an der Tagesordnung. Und wer sagte denn, daß im Hause des Geheimrats Ursinus ein solches Verhältnis überhaupt vorhanden war? Daß dem nicht so war, dafür sorgte die vornehm-keusche Zurückhaltung der Geheimrätin und der ausgezeichnete Ruf, den sie genoß.
Gerade in letzter Zeit tat diese Frau so viel für die Armen. Es war ein sehr kalter Winter. In Berlin waren alle Rinnsteine so fest gefroren, daß sie das schmutzige Abflußwasser aus den Häusern nicht aufnehmen konnten, sondern überliefen auf den mittleren Straßendamm, daß die Sperlinge kein Futter fanden – die Roßäpfel hart wie Steine – und die Armen keinen warmen Bissen. Da gründete die Geheimrätin Ursinus eine Suppenküche; sie selber stand hinterm dampfenden Kessel, füllte die Portionen aus und reichte noch jedem ein Stück Brot dazu, das doppelt gut schmeckte, weil es mit einem so mitleidig-freundlichen, herzgewinnenden Lächeln gegeben wurde. Wo ihr eine arme Wöchnerin nachgewiesen wurde, schickte die Ursinus für das Neugeborene selbstgestricktes Wickelzeug und der Mutter die stärkende Wochensuppe für neun Tage. An jedem Mittwoch und Sonnabend der kalten Monate rannte der Diener zwischen zwölf und eins viele Male schimpfend zur Tür, denn da kamen Mittwochs sechs alte Weiblein und Sonnabends sechs alte Männlein, die sich das Essen holten. Eine großartige Gabe, wohlzutun! Überhaupt eine großartige Frau!
›Eine wahre Christin‹, nannte Hofprediger Bange sie bei der Königin. Die hohe Frau hatte von der bei allen Wohltätigkeitsveranstaltungen nie fehlenden Gattin des Geheimen Oberappellationsrats Ursinus gehört: »Diese Ursinus – eine geborene von Weiß, nicht wahr?« Sie wünschte, daß man ihr die geborene von Weiß vorstellte.
Was wäre das früher für ein Ereignis in Charlottes Leben gewesen! Jetzt ließ es sie kalt. Diese im kleinen Schloß Monbijou wohnende Königin, wie eine abgenutzte, unmodern gewordene Vase auf die Seite gestellt, flößte ihr weder Respekt noch Sympathie ein. Warum war jene so einfältig und ließ sich eine Lichtenau, eine Ingenheim, eine Dönhoff, eine Madame Schulzki und wie die anderen noch alle hießen, die der König beehrte, gefallen?! Ach, was waren ihr, ihr überhaupt jetzt noch Hof und Höfisches, was Gesellschaft, Toilette, Prunk, Anerkennung, Bewunderung, jetzt, da sie liebte!