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Sechstes Kapitel

Charlotte von Weiß hatte lange nicht an ihren Reisegefährten von damals gedacht, an den Geheimen Gerichtsrat Ursinus. Eigentlich überhaupt nicht mehr; sie hatte ihn gänzlich vergessen. Nun aber dachte sie auf einmal an ihn. Und sie fand in ihrem Merkbüchlein seine Adresse. Er hatte sie ihr selber da eingeschrieben: »Geheimrat Theodor Ursinus, Am Gendarmenmarkt 14, bei Bauer.«

Eigentlich wäre es doch sehr nett, wenn man sich einmal wiedersähe! Denn so lieb Tante Christiane auch war und so behaglich es sich auch bei ihr lebte, auf die Dauer war es Charlotte langweilig hier. Die einzige Abwechslung, die sich bot, war, drüben das Landhaus zu beobachten, das der Graf Schmettau verkauft hatte und das nun neu hergerichtet wurde; Handwerker schafften emsig da und Maler mit Pinseln und Farbtöpfen. Mit neugierigen Augen sah das Mädchen nach dem Haus, das der Kronprinz für seine Geliebte gekauft hatte, weil der König die Enke nicht mehr leiden wollte in Potsdam. Wagen wurden abgeladen, ganze Fuhren mit Möbeln, Teppichen, Bildern. Sehr schön kriegt die's, und war doch nur eines obskuren Musikers Tochter, von weiter gar keiner Herkunft.

Die Witte regte sich sehr über solche Nachbarschaft auf: eine Schande war es, daß diese Person hier wohnte! War es nicht traurig genug, daß der große König es nicht hindern konnte, daß ein Neffe und einstiger Thronfolger sich mit Menschern abgab? Und nun eine von ihnen so nahe vor der Nase!

War die Enke schön? Charlotte hatte sie noch nicht gesehen und lauerte darauf. Endlich hatte sie Glück: vor dem Landhaus hielt eine Hofkutsche, ein Herr in Uniform, einen Stern auf der Brust, stieg aus dem Schlag, den der Leibjäger ehrfurchtsvoll aufhielt. Das war der Prinz! Er ging ins Haus. Aber gleich danach sah sie ihn wieder im Garten, an seinem Arm ging die Enke. Eine stolze Gestalt, ein schönes, hochmütiges Gesicht! Die Enke war noch sehr jung gewesen, als der Prinz sie mit sich genommen hatte nach Potsdam, vierzehn Jahre. Jung, wie sie es auch war. Und eine französische Mamsell hatte er ihr noch gehalten, gerade so, wie sie auch eine gehabt hatte. Charlotte fühlte einen Stich im Herzen: aber die hatte Glück! Denn was die Tante auch sagte und ob sie es ihr allen Ernstes verbot, nach drüben zu spähen, es war doch beneidenswert, genannt zu werden. Und sei es auch nur so. Die Enke wurde genannt, jeder kannte sie, jedes Kind auf der Straße, es schadete ihr gar nichts, daß die Leute schimpften. Der Prinz führte sie öffentlich an seinem Arm, er ging mit ihr in dem Garten spazieren, in den jeder von der Straße aus sehen konnte. Er scherzte mit ihr, sie lachte und lief von ihm fort, ihre Gewänder flatterten, und er lief ihr nach wie ein junger Verliebter, trotz seiner Korpulenz. Charlotte atmete tief begehrend, es regte sich etwas in ihr: nicht um den Prinzen war es ihr zu tun, auch nicht um das schöne Haus und den Garten – die Enke war ganz Berlin interessant! – – – – – – – – –

*

»Nun bin ich schon über ein Jahr in Spandau und bin noch nicht einmal in Berlin gewesen«, klagte Charlotte. »Wir sind hier so nah, ich möchte es gern sehen, brennend gern!«

Christiane Witte sah das auch ein: dieser Wunsch von Lotte war ganz berechtigt. Sie würde ihn ihr auch gern erfüllen, aber, aber – ach, Lotte zuliebe würde sie sich wohl entschließen müssen.

»Nein, Tantchen, du brauchst nicht mit!« Charlotte streichelte ihr zärtlich die Wange. »Ich werde an den Freund meiner Eltern schreiben, er hat mich damals nach Spandau gebracht, er zeigt mir auch gern Berlin.«

»Wie heißt er? Und ist er alt oder jung?«

»Geheimer Gerichtsrat Ursinus, Gendarmenmarkt 14, bei Bauer. Er ist schon recht ältlich.« Und Charlotte schrieb an Ursinus. – –

Daß der Geheimrat Ursinus an einem schönen Morgen in einem der besten »Visavis« nach Charlottenburg fuhr, um die kleine von Weiß abzuholen, wunderte ihn selber. Wenn man ihm das in voriger Woche noch zugemutet haben würde, hätte er ablehnend den Kopf geschüttelt: »Denke nicht daran.« Aber seitdem er das Briefchen empfangen hatte, das so charmant abgefaßt war, war er umgestimmt. Warum sollte er der Kleinen den Gefallen nicht tun? Sie war ein reizendes Wesen, und daß er sie ein wenig vergessen hatte, das war nicht ihre Schuld. Schuld daran war seine Überhäufung mit Geschäften und daß er gesundheitlich nicht so stark veranlagt war, um neben all diesem Geschäftlichen noch an Vergnügliches denken zu können. Heute aber war er gut gelaunt; er hatte seinen Hut mit den aufgeschlagenen Filzkrempen neben sich liegen, es war ja schön warm. Sogar jetzt, am frühen Morgen schon, brauchte er den Luftzug beim Fahren nicht mehr zu scheuen. Im Wald des Tiergartens sangen die Vögel, und die Linden an der Landstraße blühten. Warum die Kleine eigentlich so lange nichts von sich hatte hören lassen – überhaupt gar nichts? Sie war eben bescheiden, ein schüchternes Kind. Junge Mädchen müssen bescheiden und schüchtern sein. Wenn sie damals etwas gesagt hatte, was vielleicht nicht ganz bescheiden und schüchtern geklungen hatte, so war es nur ihre ganz unbefangene Kindlichkeit gewesen und dadurch doppelt reizend. Schon daß sie jetzt an ihn geschrieben, ihn daran erinnert, daß er ihr damals versprochen hatte, ihr Berlin zu zeigen, war unbefangen und kindlich. Er als Papa, sie als Töchterchen, oder er der Vormund und sie das Mündel.

Aber als jetzt die ersten niedrigen Dorfhäuschen auftauchten und kleine Landhäuser, kam er sich selber doch komisch vor: er, der Geheime Gerichtsrat Ursinus, holte ein Mädchen zum Ausführen ab?! Wenn nur die Tante nicht da wäre! Gewiß eine grämliche Alte mit einer riesigen Dormeuse. Die würde am Ende gar mitwollen?!

Aber seine Befürchtungen zerstoben, er fand in der Tante eine liebenswürdige, sogar noch recht ansehnliche Person, eine Dame, ganz wie sein soll. Die zierliche Wohnung umfing ihn lind. Ach ja, solche Häuslichkeit war recht behaglich; seine Wirtschafterin sorgte zwar auch für ihn, aber was ist eine bezahlte Kraft gegen eine sorgende Hausfrau? Es war schön für das junge Mädchen, daß es solches Beispiel vor Augen hatte; es ging doch nichts über eine gute häusliche Erziehung.

Als Theodor Ursinus sich von der Demoiselle Witte verabschiedete, ihr sogar die Hand küßte, versprach er ihr, das Kind beizeiten wieder abzuliefern und dann noch an einem kleinen ländlichen Imbiß teilzunehmen. Das Kind – das Kind?! War denn das Fräulein von Weiß jetzt noch ein Kind? Es verwirrte den Mann, der wenig Weiblichkeit kannte, wie rasch sich das Kind zur Jungfrau entwickelt hatte. Schon vollendete junge Dame. Aber nicht weniger reizend als vor einem Jahr – nein, reizender noch in ihrem nur wenig gebauschten kurzen Reifrock aus einem rosa Stoff und mit einer kleinen schwarzen Mouche am Mundwinkel; ihr schönes Haar, in natürlichen Wellen fließend, war ungepudert. Sie fragte liebenswürdig und antwortete, wenn sie gefragt wurde, ebenso liebenswürdig, war parlant, aber schwatzte nicht so darauflos, daß es ermüdet hätte.

Und doch wurde Ursinus nach und nach müde. Das hätte er nicht gedacht, daß Jugend-Ausführen so müde machen könnte. Verstohlen blickte er auf die ihm Anvertraute: hatte sie noch nicht genug?

Charlottens Augen leuchteten; sie trippelte nicht langsam, sie trat rasch und sicher. Das war etwas anderes als die langweilige Wallpromenade in Spandau – ach, und bei der Tante erst die ländliche Stille! Sie bekam nicht genug. Leben, Leben, großartiges Leben! Das Schloß, die Schloßfreiheit, Schloß Monbijou, Menschen, Karossen, Statuen, Kirchen, Brücken, Plätze, so groß und weit, daß das halbe Spandau drauf stehen konnte. Und Stendal erst recht. Ursinus hatte den Wagen abgelohnt, sie wollte durchaus zu Fuß gehen, trotz ihrer seidenen Schuhe mit den hohen Hacken. Es war ja so schön hier, so wunderschön! Selig drückte sie seinen Arm, den er ihr gereicht hatte.

Ursinus, dem die Füße wehtaten – er war des Gehens ganz ungewohnt –, so weh, daß er anfing zu hinken, fühlte sich für dieses Ungemach dadurch belohnt. Ihre junge Fröhlichkeit wirkte ansteckend. Und er wurde ordentlich stolz: die Passanten sahen sich um nach ihnen. Ja, gafft nur, gafft und wundert euch: ein älterer Herr schon und doch solch schöne Junge unterm großen Florhut mit den unterm Kinn gebundenen rosenfarbenen Bändern! Er reckte sich höher, und sein sonst ernsthaftes Gesicht zeigte ein beständiges Lächeln.

In einer der vornehmsten Weinstuben der Stadt saßen sie eine Weile und stärkten sich. »Wissen Sie noch? Wie dazumal«, sagte das Fräulein von Weiß und nickte ihm über ihrem Glase blinzelnd zu. »Nur, daß es heute noch viel schöner ist.«

» Sie sind noch schöner«, hätte Ursinus beinahe gesagt. Er hatte entschieden zu viel getrunken: drei Gläser schon? Ursinus, Ursinus, wo soll das hin mit dir? »Das nenne ich über die Stränge schlagen«, sprach er jetzt laut, sich aufraffend.

Sie lächelte nur; mitleidig fast war dieses Lächeln. Seinen Arm nehmend, ihn mehr führend, als daß er sie führte, wanderten sie nun noch nach dem Halleschen Tor. Das hatte er ihr versprochen – »leichtsinnigerweise«, sagte er sich. Es war heiß und sehr staubig. Aber der König kam von der Revue, und das mußte sie sehen. Auf der Tempelhofer Heide fand die Truppenschau statt, und dann ritt er stets durchs Tor über das große Rondell und von da die Wilhelmstraße hinunter.

Eine große Menge Volks war heute auf den Beinen. Ursinus vermied sonst dergleichen Tumulte, aber ihr zuliebe drängte er durch. Charlotte war nicht zu halten: der König, der große König! Den mußte sie sehen. Die Straße war dicht voller Menschen, die standen wie die Mauern. In den Fenstern der Häuser auch viele, halben Leibes hingen sie so weit heraus, daß man fürchten konnte, sie stürzten hinunter. Der König, der große König! Jetzt kam er!

Er ritt ganz allein und im Schritt voran auf einem großen weißen Pferde. »Das ist sein Condé«, sagte jemand. »Sssst!« Alle Häupter entblößten sich. Tiefstes Schweigen.

Der König grüßte, er nahm fortwährend den Hut ab.

Durch das Schweigen tönte nur der Hufschlag der Pferde. Hinter dem König ritten die Generale, die Adjutanten, dann kamen die Reitknechte.

Charlotte war einigermaßen enttäuscht, sie hatte sich das ganz anders gedacht: Pracht, Kanonenschüsse, Trommeln, Musik, Pferde mit Federbüschen, königliche Wagen, Läufer, Vorreiter in blauer Livree mit roten Tuchstreifen und goldenen Tressen, Pagen mit Federhüten und seidenen Strümpfen. Und Jubel. Aber nichts von alledem. Und der König war ein kleiner, schon alter Mann. Am dreieckigen Hut die weiße Generalsfeder ruppig und grau, einfacher blauer Soldatenrock, verstaubte schwarze Sammethosen, der Kragen am Rock und das goldene Achselband auch alt und verstaubt. War das wirklich ein König?!

Charlotte hatte sich bis ganz vorn hingedrängt: sehen, sehen! Nun traf sie plötzlich sein Blick. Große, durchdringende Augen, gebietend, ehrfurchtheischend. Alles Blut schoß ihr auf einmal zu Kopf, in die Knie kam ihr ein Beben. Klein, ganz klein kam sie sich plötzlich vor.

Und klein alle anderen, die vielen, klein das große Berlin – oh, das war doch ein König!

*

Daß Lotte doch immer gleich so erregt war! Man müßte sie wirklich von allem fernhalten. Tante Christiane fand, daß der Ausflug nach Berlin Lotten gar nicht bekommen war; einsilbig war sie heimgekehrt und gleich danach zu Bett gegangen. »Wenn ich nicht wüßte, was für ein feiner und liebenswürdiger Mann der Herr Geheimrat ist, ich würde wahrhaftig denken, er habe dich mit irgend etwas verletzt«, sagte sie.

»Ach der!« Lotte warf geringschätzig die Lippen auf.

Christiane Witte fühlte das förmlich wie eine Kränkung. Ach, dieser gute und vornehm denkende Mann! Sie war recht eingenommen für ihn. Als Lotte erklärt hatte, sie sei zu müde, und sich gleich zurückzog, war er anfänglich ein wenig betroffen gewesen – es war ungezogen von Lotte, – aber dann war er doch noch geblieben. Christiane saß mit ihm in ihrem hübschen Empfangszimmer, in dem es nach Lavendel roch und kein Stäubchen lag; auf den gestreiften Damastbezügen der geschonten Möbel spielte freundlicher Abendsonnenschein, und durchs ein wenig geöffnete Fenster stahl sich süßer Duft aus weiten Gärten herauf. Ursinus fühlte mit Genuß die Annehmlichkeit dieser Stunde. Er vergaß ganz, daß er den Wagen draußen hatte warten lassen. Das Fräulein machte mit Grazie und ruhiger Würde die Wirtin. Eine Magd in sauber gefälteltem Busentuch und nettem Flügelhäubchen brachte auf silbernem Tablett Schokolade in gemalten Tassen, die goldene Füßchen hatten, und im Silberkorb zierliche Butterbrötchen und Sandkuchen. Gerade den Kuchen, den er gerne aß und auch vertragen konnte. Es war nur ein Zufall, aber es berührte Ursinus wie eine Weisung.

Sie unterhielten sich vortrefflich. Da war so vieles, was sie beide gleicherweise miterlebt hatten: die Kriege, Preußens Niedergang und sein Wiederauferstehen unter der nie ermüdenden Tatkraft des großen Königs. »Wissen Sie noch?« fragte er. Und sie darauf: »Oh, ich erinnere mich gut!« Sie waren beide ungefähr gleichen Alters. Das Fräulein hielt nicht zurück, freimütig zu sagen, daß sie schon Fünfzig gewesen sei. »Meine Schwester Weiß ist erheblich jünger, obgleich sie schon viermal Großmutter ist. Jettchen, die jetzige Hofrätin, hat eben sehr früh geheiratet. Ach, ich wünschte Lotten nicht, daß sie sich so früh schon bände. Sie ist ein selten begabtes Mädchen, sie bedarf auch eines seltenen Gatten, eines vortrefflichen und hochgebildeten Mannes, wie man ihn heutzutage so leicht nicht mehr findet.«

Ursinus rückte sich zurecht: ja, das fand er auch. Es gab leider heutzutage wenig glückliche Ehen. Das kam daher, weil die Mädchen zu wenig häuslich erzogen wurden; nichts als Tanzen und Tand.

Sie widersprach: »Daher nicht allein. Weil die Kriege die Männer aufgezehrt haben, gibt es ihrer zu wenige; die Mädchen besinnen sich nicht genug, sowie einer sich nähert, gleich greifen sie zu.« Des Fräuleins Blick suchte das schöne Männerbildnis in Uniform an der Wand; über ihre Stirn, die trotz der Dormeuse noch ohne viele Falten war, flog ein leichter Schatten und ein zartes Rot über ihren vom allzu vielen Stubensitzen blaßsilbrigen Teint. Sie lächelte wehmütig: »Man war auch einmal jung. Aber man war eben verständig.«

Daß dieses liebenswerte Frauenzimmer sich nicht verheiratet hatte, war trotzdem ein Wunder. Des Geheimrats Blick war dem ihren gefolgt, auch er sah den jungen Mann in Uniform: aha! Aber er war zu zartfühlend, um zu fragen: wer ist das?

Sie hätte es ihm gerne gesagt, ihr war es sogar eine kleine Enttäuschung, daß er nicht fragte. In ihrem stillen Leben gab es kaum jemanden, dem sie noch nicht von ihrem teuren Dahingegangenen erzählt hatte. Ach, ein Teil wenigstens von jener Herrlichkeit, die keine Nacht des Todes zu trüben vermochte, kehrte ihr ja zurück, wenn sie von dem Geliebten sprechen konnte. Ursinus hatte nicht gefragt, aber das Fräulein ließ durchblicken, daß sie ein Geschick hinter sich hatte.

Eine ganz interessante Person und, wie es schien, eine rechte Dulderin und eine Heldin! Mit großer Ehrerbietung fragte der Gerichtsrat, als er sich endlich empfahl, ob er bald einmal seinen Besuch wiederholen dürfe?

Sie lächelte verbindlich in fein zurückhaltender und doch herzlicher Weise: gewiß, Lotte würde sich freuen. Und sie auch. –

Der Herr hat woll nich gehört, det ich schons xmal mit die Peitsche geknallt habe?« sagte der Kutscher. »Na nu man rin in den Kasten und denn losgezockelt!«

Der Geheimrat war heute gar nicht empört über solch ungebildete, ihm sonst höchst unsympathische Ausdrucksweise. Er nahm es auch nicht übel, daß ein paar stark geschminkte Frauenzimmer, die, unweit des Brandenburger Tores, nach den Soldaten der Wache Ausschau hielten, ihm lachend zuwinkten. Nun ja, die wollten sich auch einmal amüsieren.

Hatte er sich denn amüsiert? »Amüsiert«, das wäre zu viel gesagt, in seinem Alter amüsiert man sich nicht, aber man nimmt in Dankbarkeit einen guten Tag aus der Hand des gnädigen Lenkers menschlicher Geschicke. Sollte ihm vielleicht mit seinen Zweiundfünfzig noch ein dankenswertes Geschick beschieden sein? Fast schien es ihm so. Denn war es nicht merkwürdig, daß zu ihm, der damals nach schlecht verbrachter Nacht abgespannt und vor der Langweile der Fahrt sich fürchtend in der Ecke saß, die strahlende Jugend in die Postkutsche gestiegen war? Und daß jetzt noch, nach einem ganzen Jahr, das Fräulein von Weiß ihn nicht vergessen hatte, daß sie ihm schrieb und daß er durch die reizende Nichte die reizende Tante kennenlernte? Solche Verkettungen kommen nicht von ungefähr. Man brauchte deswegen noch nicht an Übernatürliches zu glauben. Bedeutungsvoll waren sie jedenfalls.

Der Geheimrat war abgespannt, er zog sich gleich, als er nach Hause gekommen war, die Stiefel aus und Pantoffeln an, zog auch den langen Schlafrock an, der ihm bis auf die Fersen niederhing, und meditierte dann noch eine Weile, im Lehnstuhl sitzend. Er war zu erregt, um gleich zu Bett zu gehen. –

Auch Charlotte war erregt: wenn man doch immer in Berlin sein könnte! Alles andere, was sie bis jetzt gesehen und erlebt hatte, kam ihr unbedeutend und nichtig vor; Spandau, wo sie doch gern gewesen war, anfänglich sehr gern, schien ihr auf einmal widerwärtig und unerträglich. Und Stendal erst recht. Nie, nie würde sie sich da mehr gewöhnen können. Glücklich die Menschen, die in einer Stadt wie Berlin leben konnten. Dort entwickelte man sich ja erst, kam in die Lage, seine Fähigkeiten zu zeigen, die anderswo ewig begraben lagen. Sie sah sich selber, jung, hübsch, den Männern nicht ungefährlich; dem Schwager, dem Kandidat Bange, den Offizieren auf der Wallpromenade, – von Ursinus gar nicht zu reden. Sie lachte in sich hinein, ein noch kicherndes Jungmädchenlachen, aber ein klein wenig boshaft: auch der schon vorgerückte Junggeselle hatte Feuer gefangen. Das war ihr ganz klar. Aber waren das Männer, von denen es sich nur verlohnte zu reden? Wen sie lieben sollte, der mußte ganz anders sein. Kein Prinz mit goldenem Stern auf der Brust – sie fuhr auf in ihrem Bett – ein Mann wie der große König, so einer müßte es sein! Alt war der gewesen, verstaubt und schlecht angezogen, aber in seinem Blick war das, vor dem eine Welt sich beugt: die zwingende, unerklärliche Macht.

Zum erstenmal in ihrem Leben war es Charlotte bewußt geworden, was es heißt: eine Persönlichkeit sein. Sie holte tief Luft: ja, auch sie wollte eine Persönlichkeit werden! Ein Ehrgeiz, der schon in ihr geschlummert hatte, als sie noch Kind war, wurde jetzt plötzlich bewußt wach in ihr, glühte auf: nicht weich durfte man sein, nicht sentimental, nichts verspielen und nichts verschenken, bewußt mußte man alles tun. Denn dann nur konnte man das, was man sich als Ziel steckte, erreichen. War es Eitelkeit, daß sie so gern »Jemand« ein wollte? Sie lauschte in sich hinein: nein, Eitelkeit war es nicht allein, es war noch etwas anderes, das in ihr trieb, etwas Unerklärliches, fast Unheimliches.

Charlotte von Weiß saß aufrecht im Bett, grub über der Stirn die Hände in ihre Haare und wühlte darin. Jetzt sah sie sich wieder, aber nicht mehr als das junge Mädchen, das ein bißchen da tändelt und nun ein bißchen dort. Jetzt sah sie die Dame, die große Dame, respektiert, bewundert, von Berlin und von ihrer Zeit gekannt und genannt.


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