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Während der Zeit, daß die Hofrätin in Wochen kam, würde man Lotten wieder nach Stendal schicken, der Vater hatte ohnedies große Sehnsucht nach ihr; sein Töchterchen war nun schon ein Jahr fern gewesen. Aber Lotte schlug vor, währenddes zu Tante Christiane nach Charlottenburg zu ziehen: wozu erst eine so weite Reise für die kurze Zeit?
Der Hofrat war auch sehr für Charlottenburg; man konnte da Lotten jederzeit erreichen. Selbst die Mutter stimmte zu; für Sentimentalitäten war Frau von Weiß nicht, sie tadelte ihren Mann, das Kind war viel verständiger als der Vater. Es war ihr eine große Genugtuung, daß Christiane so wahrhaft begeistert von Lottchen schrieb; der Briefwechsel zwischen den Schwestern war jetzt wieder reger geworden. »Guter Gott« – Frau von Weiß strahlte, wenn sie einen Brief aus Charlottenburg empfing – »Lottchen muß sich ja trefflich eingeführt haben!«
Ehe die diesjährige Entbindung im Hause Hauke stattfand, sollte aber Charlotte noch konfirmiert werden und damit in den Kreis der Erwachsenen und in die Gesellschaft eintreten. Denn war sie nicht bereits viel reifer als andere in ihren Jahren? Des Schwagers Blicke weideten die junge Schwägerin ab: wahrhaftig, die wurde immer schöner, ihr Busen rundete sich, die Schultern, die aus dem Ausschnitt heraussahen, – Lotte hatte die Angewohnheit, bald die eine, bald die andere Schulter zu heben, so daß das Kleid ein wenig herunterrutschte –, waren weiß und gar nicht mehr mager. Es regte den Hofrat auf, wenn er das Rutschen ihres Kleides sah, er tadelte sie deshalb, aber mit vielen Umschreibungen. Sie hörte zu und sah ihn dabei lächelnd, scheinbar als ob sie ihn nicht verstünde, ruhig an. – –
Es war die letzte Unterrichtsstunde vor der Konfirmation. Charlotte empfand eine peinliche Unruhe. Nicht wegen des Ablegens ihrer alten Konfession und des Annehmens der neuen, es hatte sie etwas anderes seltsam erregt. Als sie die Treppe, leichtfüßig von Stufe zu Stufe hüpfend, herabgekommen war, um zum Pfarrhaus zu gehen, hatte der Schwager an der untersten Stufe gestanden. Er sagte: »Spring!« Sie sprang und fiel in seine rasch ausgebreiteten Arme. Er hielt sie fest an sich gedrückt, so fest, daß ihr der Atem verging, und suchte mit seinem Munde den ihren. Was wollte er von ihr? Es war abscheulich gewesen. Sie hatte ihn heftig von sich gestoßen und war enteilt. Dieser eklige Mann, da hatte er ihre arme Schwester in solch traurigen Zustand gebracht – wie hatte Jettchen heute morgen wieder gestöhnt – und trieb selber nun dumme Spaße! Sie war wütend auf ihn. Und doch, konnte sie ihm eigentlich ganz böse sein? Er war ein schöner Mann, und Jettchen war jetzt so häßlich. Ach! Sie seufzte. Auf einmal fühlte sie, daß es in der Welt noch mehr Häßliches gibt, sehr Häßliches, Ekelhaftes. Aber kann man sich denn davor verstecken? Eva schon hatte vom Baum der Erkenntnis gegessen – »und das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre und lieblich anzusehen« – und sie nahm von der Frucht, einen lockenden rotbackigen Apfel.
Ach – ein gequälter Zug trat in Charlottes bleich gewordenes Gesicht – ach, auch sie fühlte sich heute verlockt. Wenn man doch entfliehen könnte! Aber wohin, wohin? Zu Tante Christiane? Da war es friedlich und rein. Sie empfand plötzlich brennende Sehnsucht. Aber Gedanken kommen überallhin nach. Wohin fliehen, wohin? Zu Gott? – »Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Flehen«, das Bußlied das sie jüngst hatte lernen müssen und das sie hergesagt hatte, ohne viel dabei zu denken, fiel ihr plötzlich ein. Heute, heute verstand sie es. Ja, bei Gott allein war Gnade. »Ob bei uns sind der Sünden viel – bei Gott ist viel mehr Gnade –«. Zu ihm, zu ihm! Eine wahnsinnige Lust überkam sie, sich Gott zu Füßen zu stürzen und das Haupt an seine Knie zu legen. In einer nervösen Hast stürmte sie in das Konfirmandenzimmer. – –
Nun waren sie ganz allein, er und sie.
»›Wie heilig ist mir diese Stunde,
sie führt mich, Gott, zu deinem Bunde‹,
das werden wir nun morgen bei Ihrer Konfirmation singen«, sprach der Kandidat Bange.
Sie neigte den Kopf, als stände sie schon vor dem Altar. Seine Stimme war wie Musik. Und diese Musik durchflutete sie, durchschauerte sie bis in die feinsten Nerven; diese Musik war so schön, so schön, jagte ihr Schauer über den Leib, jagte ihr Schauer durch das Blut. Sie hob die Augen mit dem schweren Lidaufschlag zu ihm: so hatte sie ihn noch nie gesehen – schön, hoch aufgerichtet, herrlich, ein Mann, ein Gott! Ihr Blick suchte verzückt den seinen. Jetzt war sie fern allem andern, entrückt, ganz entrückt. Gott, Kandidat Bange – sie konnte die beiden nicht mehr voneinander trennen.
Intensiv blaue, leuchtende Augen und schwimmende meergrüne sanken ineinander, versanken ganz.
»Knie nieder«, sprach der Kandidat Bange. Seine Stimme bebte, seine Hände bebten, als er sie um die ihren legte, so die vier Hände vereint zu Gott erhob. Er kniete neben ihr, dicht – dichter – sie lehnte sich an ihn in plötzlicher Schwäche, sein heißer Atem bestrich sie, er fühlte die süße Schwere ihres Körpers. »Laß uns beten«, flüsterte er.
»Gott, wo bist du?« erklang es suchend. Und dann stärker, wie heißbegehrend, und immer stärker und stärker werdend, fast beschwörend: »Gott, sieh uns an! Wir rufen dich, Gott, höre uns! Wir knien vor dir vereint.« Und nun auf einmal, triumphierend: »Er ist uns nahe – da ist Gott! Er sieht uns, er neiget sich uns, er ist in uns –«
Mit einemmal bäumte das Mädchen sich auf, riß ihre Hände aus den sie fest umklammert haltenden, sank, schwer werdend, mit ächzendem Aufschrei hintenüber. – – – – –
Die Krisen, die damals in Stendal die Eltern in Schrecken gejagt hatten, waren wiedergekehrt. Charlotte lag im Bett und hatte das Gesicht nach der Wand gewendet.
Die Hofrätin schleppte sich, trotz ihres immer mühseliger werdenden Körpers, die steile oberste Stiege zur Schwester hinauf: »Um Gottes willen, Lottchen, was ist dir? Ist dir was zugestoßen? Ich kann es mir gar nicht erklären. Hauke ist auch so in Angst!«
Ein Zucken lief über den bis jetzt apathisch hingestreckten Körper, ein plötzliches Zusammenkrampfen aller Glieder, dann ein Sichaufbäumen des Oberkörpers, ein Stoßen mit den Füßen gegen das untere Ende der Bettlade. Erschrocken beugte sich die Hofrätin über das Mädchen, sie sah in Augen, die starr offenstanden, sich aber dann so verkehrten, daß man nurmehr das Weiße sah. Ach, Lotte hatte wohl Krämpfe? »Lottchen, hörst du mich, Lottchen?!« Keine Antwort. Die Hofrätin fing an zu weinen, mit zitternden Händen tastete sie die jetzt wieder ganz gestreckt Liegende ab. Lotte war eiskalt, und ihre Zähne hatten sich in die Unterlippe verbissen. »Lottchen, Lottchen! Gib mir doch Antwort!«
Nichts, kein Laut.
Da fing die Hofrätin an zu schreien, sie schrie nach ihrem Mann: »Hauke, Hauke, komm doch mal schnell!«
Das hätte sie nicht tun sollen, nun fing das Sichaufbäumen erst recht an und das Stoßen gegen die Bettlade. Charlotte fuhr sich nach der Brust, die sich ihr in heftigen Krämpfen zusammenzuziehen schien, sie stöhnte schmerzvoll, ihr tief erblaßtes Gesicht verzerrte sich, sie stieß einen Laut aus, der wie eine erstickte Abwehr klang.
Ach, Lotte war krank, sehr krank. Man mußte den Doktor rufen. – – – –
Ernst Ludwig Heim war der einzige Arzt, nicht nur in Spandau, sondern im ganzen vorderen Havelland. Bloß in Nauen gab es noch einen, aber das war zu weit, man mußte schon den Heim rufen, obgleich Hauke lieber einen älteren Arzt gehabt hätte als den ihm noch zu jung erscheinenden Kreisphysikus.
Als Heim endlich, erst nach Stunden, erschien, war der Hofrat sehr ungehalten. Er hatte gehört, daß der Arzt auf seinem Braunen ausgeritten sei. Das war ja unerhört, daß der einzige Arzt spazierenritt, während man sich hier vor Angst verzehrte. »Er hat seinen Ritt ein wenig lange ausgedehnt«, sprach er in seinem gewöhnlichen, sanft gehaltenen Ton, aber ein scharfer Vorwurf klang doch durch. »Fräulein von Weiß hat inzwischen schwer gelitten.«
»Es leiden noch mehr Leute schwer«, war die in ebenso ruhigem Ton gehaltene Antwort, nur daß die Stimme nicht so sanft klang.
Als der Arzt das Zimmer des Fräulein von Weiß betrat, fand er sie so, wie man sie ihm geschildert hatte, bleich und kalt, das Gesicht zur Wand gekehrt, völlig stumm und teilnahmlos. Aber als der Schwager, der den Arzt heraufgeführt hatte, sich jetzt ihrem Bett nähern wollte: »So liegt sie nun schon gestern und heute, spricht nichts, nimmt nichts zu sich«, schien Unruhe über die Kranke zu kommen. »Wie ist dir denn, geliebte Lotte?« Sie machte mit matter Hand eine Bewegung der Abwehr.
»Ich möchte mit der Patientin allein sein.« Es klang bestimmt.
Zögernd nur wandte sich der Hofrat zum Gehen: wer weiß, was Lotte dem jetzt alles erzählte? Dieser Heim, dieser Heim hatte Augen mit einem so scharfen Blick, daß sie anscheinend durch und durch sahen. Es war besser, wenn er zugegen blieb.
Aber »Bitte«, sagte der Physikus, und zwar mit einer so energischen Betonung, daß Hauke die Stube verließ. Ihm war nicht wohl dabei zumute, Lotte war ja in betrübender Weise exaltiert. Ob sie es sich wohl zu Gemüt gezogen hatte, daß er sie an der Treppe geküßt? Nun, als Mann ihrer Schwester, als ein so naher Verwandter durfte er sich das doch wohl erlauben. Ein Kuß in allen Ehren. Aber wer weiß, was solch ein Mädchen sich alles einbildet! Der Hofrat blieb auf der Treppe stehen und lauschte nach oben.
Heim hatte sich an das Bett des Mädchens gesetzt, nahm dessen eiskalte Hand und fühlte, wie die langsam in der seinen erwärmte. Der Puls fing an stärker zu klopfen, tickte nicht mehr bloß schwach. »Ruhig, ganz ruhig«, sagte der Arzt und strich über die kleine Hand, die sich wie eine flatternde Taube in die seine duckte. »Und nun gestatten die Demoiselle einmal, daß ich jetzt untersuche.«
Sie faßte nach dem Hemd auf ihrer Brust und hielt es da mit der freien Hand fest zusammen wie in einer sichtlichen Scheu.
Aber ohne auf sie zu achten, machte er ihren Busen frei und legte das Ohr an ihr Herz: oh, das flatterte wie ihr Puls, ängstlich und ruhelos, ein nervöses Herz. Er beklopfte und horchte weiter – Brust, Rücken, Bauch – der ganze entblößte Körper lag vor ihm, rücksichtslos hatte er jede Bedeckung zurückgeschoben; aber er sah nicht, daß das ein sehr schöner Körper war, ein Körper so blütenrein und makellos, wie man selten einen findet, er war hier nicht Mann, er war nur Arzt.
Und als ob Charlotte das fühlte, so folgte sie willig seinen Anweisungen, drehte sich nach rechts, nach links, stemmte die Knie hoch, streckte die Beine wieder lang, atmete tief ein und tief aus.
»In Ordnung.« Heim nickte befriedigt. »Alle Organe gesund. Wenn die Demoiselle mir folgt, so steht sie jetzt auf, zieht sich an und geht ein wenig an die Luft.«
»Ich kann nicht.« Charlotte steckte den Kopf in das Kissen und fing an zu weinen.
»Sie kann schon, Sie muß nur wollen.« Es lag etwas merkwürdig Stärkendes und Vertrauenerweckendes in seiner Stimme. »Das Gesundsein wollen, mein Fräulein, das ist eine Medizin, die ich Ihnen für dero ganzes Leben verschreiben möchte. Also auf!« Er lachte ermunternd. »Die Sonne scheint, die Luft ist lind, wir sind jung, wir sind ganz gesund, warum wollen wir denn jetzt nicht aufstehen und wandeln?!«
»Ach, Sie wissen nicht!« Charlotte haschte blindlings nach seiner Hand und hielt sie fest: »Gehen Sie nicht fort, ach, bitte, gehen Sie nicht fort! Mir ist so sehr übel. Ach, warum empfinde ich alles so, Lust und Schmerz, Freude und Leid, alles so ganz anders, so viel mehr als andere Leute?!«
»Das bilden Sie sich nur ein. Andere Leute empfinden genau so wie Sie, aber sie geben sich nur nicht so nach.« Er lächelte ein klein wenig sarkastisch. »Wenn die Demoiselle jetzt aufstehen würde, würde es mich herzlich freuen. Oder sollte die Demoiselle keinen Willen dazu haben?« Er sah sie durchdringend an, streng und doch freundlich, sein Blick ließ sie nicht los.
Schon richtete sie sich gerade auf, schon stahl sich ein Füßchen vor unter der Decke.
Sie hatte noch immer seine Hand festgehalten, nun zog er die sacht weg: »Dann will ich mich jetzt also empfehlen. Gute Promenade, mein Fräulein!«
»Schade, daß Sie schon gehen!« Sie lächelte bedauernd und sah ihn süß dabei an. – – – – – – – – – –
»Nervöse Störungen«, hatte Doktor Heim schließlich der besorgten Schwester gesagt. Und genau, wie der Medizinalrat in Stendal damals der Mutter: »Krisen, die in den Jahren liegen.« –
»Willen haben, gesund sein wollen«, hatte der ihr so gut gefallende Doktor Heim gesagt, und daran dachte Charlotte. Ja, sie wollte gesund sein, sie wollte konfirmiert werden, wenn es nun auch erst ein paar Tage später sein würde, sie wollte und fühlte zugleich mit Genugtuung, daß ihr Wollen sie auch interessant machte. Die Schwester staunte sie an: »Wenn ich doch bloß halb so viel Willenskraft hätte wie du!« Der Schwager staunte auch: wie sich das Mädchen beherrschen konnte, es zuckte mit keiner Wimper, als er die Rede auf den Kuß an der Treppe brachte. Er hielt es für klüger, darüber zu sprechen, damit sie sich überzeugte, wie harmlos Kuß und Umarmung gemeint waren. Aber ob sie wirklich davon überzeugt war? Er forschte in ihrer Miene, doch die war jetzt so ruhig und sanft, als habe Charlotte nie etwas aufgestört.
Da die Zeit drängte – die Hofrätin konnte jeden Tag die Welt überraschen – und man die Konfirmation doch vorher gern erledigen wollte, fand diese statt, ohne weitere Festlichkeit. Lotte in weißem Kleid, auf dem weißen, durchscheinend zarten Gesicht fromme Stille; einer keuschen demütigen Braut sah sie gleich. Tante Christiane, die gekommen war, um gleich andern Tags Charlotte mit sich zu nehmen, weinte tief gerührt, obgleich es ihr bitter war, die geliebte Nichte protestantisch werden zu sehen.
Hauke, der etwas ganz Besondres von Bange erwartet hatte – es war zwar weiter keine öffentliche Feier, aber doch hatten sich Neugierige genug in der Kirche eingefunden – war enttäuscht: warum sprach Bange so kurz und trocken? Nichts von dem vollen warmen Klang, der an die Nerven rührte; wie mechanisch sprach er vorgeschriebene Formeln, und seine Stimme klang auch beim Gebet ohne Schwung. Er schien wieder ganz seiner leidigen Schüchternheit anheimgefallen zu sein. Ein ganz alltäglicher, bescheidener Hilfsgeistlicher, so stand er am Altar. – – –
»Ist dir wieder nicht gut, Kind?« sprach Tante Christiane, als sie am andern Morgen aus dem Festungstor rumpelten. Sie saßen in einer langen, schwerfälligen Reisekalesche, in der gut sechs Personen und im Notfall mehr hätten Platz finden können; die Witte hatte eine Scheu davor, in der allgemeinen Post zu fahren.
Charlotte lehnte sich tief in ihre Wagenecke zurück und hielt die Augen geschlossen; sie war sehr bleich. Und nun drangen unter ihren geschlossenen Lidern Tränen vor und sickerten langsam über ihre Wangen.
Die Tante war sehr erschrocken: »Du weinst ja, meine geliebte Lotte, warum denn?«