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Das Haus, das dem Geheimrat Ursinus gehörte, das er von seinen Eltern geerbt hatte, war altmodisch und mit all der Raumverschwendung gebaut, die man sich damals leisten konnte. Im Parterre, zu dem ein paar Steinstufen mit einem eisernen Geländer hinaufführten, war links von dem breiten Flur ein Bankgeschäft, auf der anderen Seite befanden sich die Büroräume eines Advokaten. Durch eine besondere Tür, die die breite herrschaftliche Treppe gegen den allgemeinen Flur zu abschloß, ging es hinauf zu der großen Wohnung der Ursinus im ersten Stock. Fenster neben Fenster in geradliniger Gleichförmigkeit, ein großer Raum neben dem andern. Geheimrat Ursinus bewohnte sein Haus allein, denn Bankgeschäft und Büro waren nicht als Bewohner zu rechnen; diese Räume wurden schon gegen Abend verlassen und morgens vor acht nicht wieder betreten. Im zweiten Stockwerk, das niedrig dem ersten hochgestockten aufgesetzt war, schliefen die Dienstboten, und unten, in den Hinterräumen des engen Hofes, wohnte der Portier. Eine Klingelleitung führte aus der Herrschaftswohnung hinauf zu den Dienstbotenkammern und auch hinab zum Portier.
War die Tür der Ursinusschen Wohnung am Abend geschlossen, der Riegel vorgelegt, die Sicherheitskette eingehakt, so war man ganz allein. Allein, und es war sehr still. Von der Straße herauf war kein Pferdehuf und kein Wagenrad mehr zu hören, so spät wurde nicht mehr gefahren; die tagsüber belebte Straße war ausgestorben, einzig die Nachtwache zog noch in gewissen Zeitabständen durch das ihrer Obhut anvertraute Stadtviertel.
Es war gegen Mitternacht. Die Geheimrätin fühlte ein Erschauern, als sie sich heute noch einmal vergewisserte, daß die schützende Kette vor der Vordertür lag, der Riegel auch; sie betastete beides im Dunkeln mit zitternden Fingern. Ein Licht anzuzünden getraute sie sich nicht, Ursinus könnte durch den Schein, der vom Korridor her in das kleine Glasfensterchen über seiner Stubentür fiel, geweckt werden, und ängstlich fragen, warum sie so spät denn noch auf sei. Im Dunklen schlüpfte sie in die Küche und tastete auch dort die Hintertür ab, die zur Dienstbotentreppe führte. Alles gut geschlossen. Niemand konnte jetzt mehr herein in diese versicherte, allem und allen verschlossene Wohnung. Niemand atmete hier als sie und Ursinus und – der Geliebte.
Sie hatte ihn früher als sonst heute nach Hause kommen hören, kannte sie doch seinen Tritt so gut; sie lauerte ja auf ihn jeden Abend. Wo Ragay nur wieder gewesen sein mochte? Er müßte viel mehr zu Hause bleiben, das wäre ihm besser. Ob er irgendwo vielleicht eine niedliche Putzmacherin hatte oder eine kleine Tänzerin vom königlichen Ballett? Es quälte sie unendlich, daß sie das nicht wußte. Der Bursche, der morgens kam, des Capitaines Kleider zu bürsten, hatte der Jungfer lachend erzählt, er habe am Uniformrock des Herrn, von der goldenen Tresse festgehalten, etwas Verräterisches gefunden: ein langes, blondes Haar. Er hatte es der Jungfer gezeigt. Ein blondes Haar – blond war auch sie, die gleiche Farbe, und doch war es nicht von ihr – leider nicht! Die Frau seufzte. Warum kam er nicht herein zu ihr und Ursinus? Sie wartete doch auf ihn. Sie saß bei dem alten Mann am Tisch unter der Lampe, wo der seine Zeitungen studierte und ihr ab und zu etwas daraus vorlas, das sie seiner Meinung nach besonders interessierte. Vorlas mit einer Stimme, mit einer Betonung, genau so monoton und langweilig, wie er seine Reden hielt; das plätscherte so hin in einem ununterbrochenen Fluß, seicht, ohne Tiefe, ohne heftige Strömung und Gegenströmung. Es machte sie schon rasend, wenn sie nur allein diese Stimme hörte. Und sie mußte die jeden Abend hören, den Kopf dabei über ihre Handarbeit tief geneigt; früher war sie so eingeschlafen, jetzt war sie wach, ganz krampfhaft wach, immer nach der Korridortür hin lauschend. Es klingelte – war er das? Sie sprang unwillkürlich auf: ach nein, er klingelte ja niemals, er hatte seinen eigenen Schlüssel.
»Warum bist du denn so unruhig?« pflegte der Geheimrat dann zu sagen. Er mochte es ganz und gar nicht, wenn man bei seinem Vorlesen sich bewegte, und sei es nur, daß man die Hand anders legte oder mit der Schere einen Faden durchschnitt – ah, es war unerträglich! Ragay wußte das, er wußte, daß sie eine unglückliche Frau war, auf der Höhe ihrer Schönheit und Kraft an einen alten, trockenen, unvermögenden Mann gefesselt – und doch kam er nicht. Liebte er sie denn nicht? Doch, er hatte ihr's mit einem Glühen seiner Augen verraten, mit dem Druck seiner Hand, die, heiß und fiebrig, bei jeder Gelegenheit die ihre zu erhaschen suchte, mit einem Flehen in seinem Blick, das sie ganz taumelig und schwach machte. Er streichelte oft verstohlen ihren Ärmel, er faßte, wenn niemand es bemerkte, eine Falte ihres Kleides und hielt die fest, seine Blicke gingen ihr nach, wohin sie sich im Zimmer auch wendete. Selbst Ursinus merkte es schon, daß außer ihr niemand anders für Ragay existierte. Er neckte sie damit. Und doch kam Ragay nicht jeden Abend heim – war es ihm langweilig? Oder war es ihm zu schwer, sich so zu beherrschen, seine Blicke, seine Worte so zu zügeln, daß die nicht alles verrieten? Für sie hatte es einen kitzelnden, waghalsigen Reiz, bei Ursinus, dem Harmlosen, zu sitzen, ihm scheinbar ruhig zuzuhören und doch dabei die süße Unruhe zu verspüren, die sie beide mit aller Gewalt zueinanderzog. Neulich war ihr die Schere heruntergefallen, Ragay hatte sich rasch danach gebückt und unterm Tisch mit fiebernder Hand ihren Fuß in dem leichten Schuh umspannt. Sie fühlte das so, als sei ihr Fuß nackt; dieser Druck brannte, jagte glühendes Blut durch ihre Adern und färbte ihre Wangen hochrot. Sie fühlte diese Hand, die ihren Fuß für Sekunden nur umspannt hatte, die ganze lange Nacht, sie konnte nicht schlafen. O diese verführerischen kindlichen Spiele, durch sie hatte es angefangen! Man haschte sich bei Blindekuh, drückte den wandernden Taler in die Hand des andern, schrieb Steckbriefe mit allerlei Anspielungen, die nur der verstand, mit dem geheime Neigung verband. Und – oh – das Auslösen von Pfändern! Das war das Gefährlichste. Da war sie dazu verurteilt worden, dem Herrn van Ragay einen Kuß zu geben. Sie hatte sich sehr gewehrt: nein, das tat sie nicht, das war ein abgekartetes Spiel! Die jungen Mädchen kreischten vor Vergnügen, sie sah in lauter spitzbübisch lachende Gesichter. Ragay stand da, ein Bittender, den Kopf gesenkt, und rührte sich nicht. Sie fühlte sich von ausgelassener Jugend mutwillig umfaßt – »Sie müssen!« – festgehalten und auf ihn zugestoßen. Eng schloß sich um die beiden ein aufpassender Kreis: ein richtiger Kuß mußte es sein, nicht einer, der nur so tat, als ob er ein Kuß wäre. Es war geschehen. Die Zuschauer klatschten Beifall. »Danke«, murmelte Ragay, und ihr war es zumut gewesen, als fiele sie, fiele rasend schnell in die Tiefe, so tief, daß sie sich nie mehr aus ihr herausarbeiten konnte. Es war wie das Fallen im Traum. Aus dem Fallen im Traum erwacht man mit jähem Ruck, hier aber gab es kein Erwachen. Für ein paar Augenblicke hatte sie die Augen schließen müssen, ihr war schwindlig, der Saal mit den Kerzen und die Gesichter mit dem Lachen drehten sich im Wirbel um sie.
Das war vor Monaten gewesen. Viele Abende, viele Tage und Nächte hatte sie nun schon gewartet – auf was? Auf was, das wußte sie ganz genau, aber sie gestand es sich nicht ein. Er hatte so etwas Jünglinghaftes, zuweilen fast Knabenhaftes noch – ein großer Sohn – sie mußte gut für ihn sorgen. Und das tat sie wirklich. Jeden Morgen bekam der Capitaine ein mit besonderer Sorgfalt zubereitetes Frühstück aufs Zimmer geschickt; das erste Frühstück war laut Vereinbarung die einzige Mahlzeit, die er im Hause nahm, aber auch tagsüber fanden sich immer allerhand Leckereien bei ihm ein: kleine Kuchen, Süßigkeiten, Früchte. Und jeden Abend fand er neben seinem Bett ein Glas Mandelmilch vor und einen Brusttee gegen seinen Husten.
Er nahm all diese Freundlichkeiten besinnungslos an, und doch sträubte sich etwas an ihm. War es Ehrenhaftigkeit, die dies Sträuben veranlaßte? Er war doch sonst nicht so, hatte ohne langes Besinnen immer das genommen, was sich anbot. Aber hier war es ihm manchmal, als wäre es besser gewesen, er wäre nicht in dies Haus gezogen, oder noch besser, er hätte diese Frau gar nicht kennengelernt. Und würde es nicht scheußlich sein, den Geheimrat, diesen Ehrenmann, der ihm dazu noch besonderes Wohlwollen zeigte, zu betrügen, indem er ihm seine Frau verführte? Aber sie war ja gar nicht seine Frau. Wenn sie sagte: ›Mein Gatte‹, so war das nur ein Wort.
Und doch hielt Ragay sich noch immer zurück; er wußte es genau, er hätte leichtes Spiel gehabt, aber wie eine Warnung stieg es vor ihm auf: »N'y touchez pas« – er kämpfte gegen sich selber. O dieses verfluchte Pfänderspiel! Hätte sie ihn dabei nicht geküßt, wäre er vielleicht nicht verfallen. Er verschwor sich, nie und nimmermehr Pfänderspiele mitzumachen; in jeder Berliner Gesellschaft, in die man kam, wurde dieser kindische Unfug getrieben. Dem Himmel sei Dank, daß alle Gesellschaften vor der Hand ein Ende hatten! Der Hof hatte Trauer, und die getreuen Untertanen trauerten mit; die Damen trugen schwarze Kleider und schwarze Schleier, die Herren einen Trauerflor um den Arm: der dicke König der Preußen war gestorben. –
Als ob Ragay es ahnte, daß die Frau heut um die Mitternacht noch draußen im Korridor sei, nur durch das Holz einer Tür von ihm getrennt, so war ihm. Er hatte ein feines Ohr, er hörte schleichen: das war die Katze nicht. An seiner Tür hielt es still, stand lange, und er glaubte heißen Atem zu spüren, der zitternd wehte.
»Wer da?« Er riß hastig die Tür auf – da stand die Frau.
Charlotte hatte lange gekämpft, einen Kampf, den sie in Empörung, an sich selber verzweifelnd, durchfocht und der sie dann doch so matt machte, so widerstandslos, daß sie nachgab: wenn er denn nicht zu ihr kam, mußte sie zu ihm kommen. Wenigstens fragen mußte sie ihn, warum er sie in letzter Zeit so auffallend mied.
Aber nichts von dem kam über ihre Lippen. Als er nun vor ihr stand auf der Schwelle seines matt erleuchteten Zimmers, das zu betreten sie sich sehnte und vor dem sie doch zurückschauderte, ihn sah, halb ausgekleidet schon, in seiner schönen Jünglingsschlankheit und doch jetzt so übermächtigen Männlichkeit, vergingen ihr die Gedanken. Sie konnte nur seufzen und die Hände vors Gesicht schlagen, etwas Unsinniges zur Entschuldigung zu stammeln versuchen und dann den Armen, die sie umschlangen, ins Zimmer hineinzogen, widerstandslos nachgeben.
*
Wenn Ursinus es wüßte, daß Ragay ihr Geliebter war?! Und wenn er es wüßte, was er dann wohl tun würde? Sie aus dem Hause jagen. Sich von ihr scheiden lassen, sie vor der Gesellschaft Berlins unmöglich machen. Er konnte ja gar nicht anders als Ehrenmann. Aber wenn ihr das auch alles drohte, auch sie konnte nicht anders. Sie konnte Ragay nicht lassen. Mit einer Unvorsichtigkeit, die an Herausforderung grenzte, gab sie sich dem Glück hin, ihn zu besitzen. Der Geliebte selber ermahnte sie oft: »Ich bitte dich, mehr Vorsicht!« Er war ängstlich, stand oft nachts auf und lauschte an der Zimmertür, ob auch niemand sie höre. Nie blieb er länger als bis zum Morgengrauen; kaum stahl sich der erste Strahl durch die Ritzen der Läden, so stahl auch er sich fort, kein Bitten, kein Umschlingen, keine Liebesbeteuerungen konnten ihn zurückhalten. »Ich tue es um deinetwillen«, sagte er. Ach, was machte sie sich daraus, wenn es entdeckt wurde!
Die Geheimrätin Ursinus, die stets als wohlanständige Frau den Schleier zurückhaltender Keuschheit über sich gebreitet, die wie kaum eine andere den Ruf einer tugendreichen Hausfrau, einer mit liebender Aufopferung für ihren alternden Gatten sorgenden Gattin genossen hatte, fühlte sich jetzt als Geheimrätin Ursinus nicht mehr. Auch nicht mehr als die Charlotte von Weiß, jenes Mädchen, das mit einem Leutnant von Revell einstmals ein wenig geliebelt hatte. Von dieser Charlotte war zurzeit gar nichts in ihr, alles in ihr und an ihr war anders geworden. Keine Vorsicht, keine Berechnung, kein ausgeklügeltes Benehmen mehr. Und sie wollte lieben, frei und ungehindert, in Leidenschaft sich rückhaltlos geben mit dem Schrei eines Tieres der Wildnis. Lange genug war sie unfrei gewesen, eingekerkert wie die Sträflinge auf der Festung in Spandau – die Kette klirrt, die Kugel schleppt nach – jetzt war sie ausgebrochen. Und wenn sie zugrunde gehen müßte auf ihrer Flucht, einmal hatte sie dann doch die Freiheit genossen, gekostet, wie gut die schmeckt. Lachend und weinend stürzte sie sich an die Brust des Geliebten: »Ich hasse die Welt. Ich hasse Ursinus. Ich hasse alles, wo du nicht bist – laß uns fliehen, ich mag nicht mehr hier sein!«
Er machte behutsam leise seine Tür zu und riegelte ab – sie war zu ihm hereingestürzt gekommen, ganz ohne Rücksicht, ob vielleicht noch jemand von den Dienstboten auf war oder auch Ursinus noch nicht schlief. – »Aber, Charlotte! Wie unvorsichtig!«
»Du bliebst zu lange.« Sie wurde zornrot: »Warum bist du nicht schon vor einer Stunde zu mir gekommen? Ich wartete ungeduldig, verzweifelnd. Jede Stunde, die wir nicht genossen haben, ist ein Verbrechen!«
Ihr Übermaß befremdete ihn zuweilen, heute wieder. Sie war begehrenswert in dieser Erregtheit, in der Heftigkeit dieser Sätze, die sie so herausschleuderte, als könnte sie nicht rasch genug zu anderen Worten kommen, Worten der Liebe und Zärtlichkeit. Aber es war wirklich zu viel, ihre Leidenschaft rieb sie ja auf – und ihn auch. Er nahm beruhigend ihre Hände: »Komm, setz dich!« Er liebte die Liebe, aber er liebte auch Ruhepausen in ihr. »Es wird dich doch niemand gesehen haben?«
Sie sah ihn starr an, fast mit ein wenig Verachtung: »Das fürchtest du?«
»Natürlich fürchte ich es. Warum sollen wir uns die Lage unnötig erschweren? Denke, einer der Dienstboten hätte dich gesehen! Hättest du doch noch ein wenig gewartet, sowie alles sicher war, kam ich ja zu dir. Man wird es Ursinus zutragen, was dann?!«
»Ich werde es ihm selber sagen.«
Sie lächelte eigentümlich: »Vielleicht weiß er es schon. Nicht daß ich es ihm gesagt hätte. Aber er hat doch meine Blicke gesehen. Und meine Unruhe, wenn du nicht da bist. Er müßte blind sein und ganz dumm, und beides ist er nicht völlig. Er versucht mich schadlos zu halten, ach, der Arme« – sie lachte in sich hinein – »er wird zärtlich. Ich lasse es mir gefallen um deinetwillen – aber ich hasse, ich hasse ihn! Er ist mir eklig, unerträglich! Sage mir, wenn du eine Frau hättest, und die und ein Dritter wechselten Blicke und küßten sich mit den Augen, würfen Worte hin, deren geheimen Sinn nur sie verstünden, und du säßest dabei, würdest du ruhig zusehen?«
»Ohrfeigen würde ich den Kerl, über den Haufen schießen.«
»Er sitzt ruhig dabei. Nun, mag er sitzen, solange er dabei sitzt, sind wir vor allem geschützt. Und ich werde schon sorgen, daß er sitzenbleibt, du kannst ruhig sein. Laß mich nur machen.«
Er sah sie halb neugierig, halb erschreckt an: was wollte sie denn machen? – – – – – – – – – –
Nie hatte sich Geheimrat Ursinus größerer Aufmerksamkeiten und gefügigerer Zärtlichkeiten seiner Lotte erfreuen können – ›Mein lieber Ursinus, mein guter Ursinus‹ und ›Wie du willst‹ und ›Was möchtest du gern?‹ Sie tat schön mit ihm wie mit einem verdrießlichen Kind, das man gern zufrieden und vergnügt machen möchte. Ihre Schmiegsamkeit seinen Launen gegenüber – und er hatte jetzt Launen, zunehmende Jahre und Kränklichkeit erzeugten die –, ihre gefälligen Liebenswürdigkeiten schläferten seine Manneswürde ein. Er empfand es nicht als Beleidigung, daß sie neben ihm noch einen zweiten liebte; der war ja auch ihm ein guter Freund, ein ihm von Herzen ergebener Freund und ein treuer Hausgenosse, fast ein Sohn. Bei ihr war ja auch viel Mütterlichkeit in der Liebe – die arme Lotte hatte keine Kinder – mußte man ihr nicht manches zugute halten? Ursinus fühlte sich schuldig, schuldiger, als Charlotte es war. Er hätte eben keine junge Frau nehmen dürfen in seinen Jahren und bei seinen mangelnden Kräften, das rächte sich jetzt. Aber er nahm es nicht so schwer – früher hätte er es freilich schwerer genommen – jetzt nicht mehr. Überhaupt, wenn niemand davon erfuhr. Und er war doch immer ihr guter Ursinus, zu dem sie erst gestern gesprochen hatte: »Ja, wenn ich dich nicht hätte!« Und es war wirklich schön, so zu Dreien beim milden Schein der Lampe zu sitzen und zu wissen: wir haben uns lieb, wir sind alle drei glücklich. Eine einige kleine Familie, sich selbst genug und so befriedigt, daß es viel klüger war, er machte gute Miene und schloß sich nicht selber aus, da die beiden anderen ja gar nicht daran dachten, ihn auszuschließen. Wenn Ursinus am Abend ein wenig früher vom Tisch aufstand – Lotte brachte ihm nachher noch die Limonade und saß noch ein Weilchen auf seinem Bettrand – dann sagte er: »Angenehme Ruh, liebe Kinder«, und es konnte sein, daß er Lottes Hand in der einen und Ragays Hand in der anderen hielt.
Nach einem solchen Abend war es, daß Ursinus, als Lotte auf seinem Bettrand saß und ihn tändelnd streichelte, ganz bewegt und mit der Rührseligkeit eines Schläfriggewordenen sagte: »Meine Lotte, sprich, bist du mit mir zufrieden? Ich möchte dich glücklich wissen.«
Da barg sie, wie verschämt, den Kopf an seiner Brust und nickte stumm.
Gesprochen wurde weiter nichts mehr, aber Ursinus nahm in seine Nachtruhe die tröstende Gewißheit mit hinüber: ›Ich habe meine Pflicht, was es mich auch gekostet haben mag, meine Ehrenpflicht, die gute Lotte glücklich zu machen, erfüllt.‹ Und er war stolz auf sich selber.
*
»Du kannst ganz ruhig sein, er weiß alles«, hatte Charlotte damals ihrem Geliebten gesagt. Aber sie selber war jetzt nicht mehr ganz ruhig. Nicht wegen Ursinus – ach, das wußte sie ja, den hatte sie ganz in der Hand – aber nicht ruhig wegen des Geliebten. Ragay war nicht derselbe mehr, mit allerfeinstem Spürsinn fand sie das heraus. Wo war sein Ungestüm, wo das wilde Feuer, das über ihnen beiden zusammengeschlagen war in lodernden Flammen?
»Bist du meiner müde?« forschte sie. »Schon müde?« Oh, wenn sie das in Wahrheit denken müßte, wenn ihre Frage nicht nur eine von jenen Fragen gewesen wäre, wie ewig hungernde Liebe sie immer fragt, sie hätte ihn ermorden können. »Hast du eine andere gefunden, die dir besser gefällt? Eine, die jünger ist? O du, du!« Sie fiel ihn förmlich an, sie biß ihn in die Kehle, daß er mit einem unwilligen Aufzucken zurückfuhr: was fiel ihr denn ein? Das tat ja weh. Überhaupt, was war das für eine Frage: ›Eine andre gefunden?‹ Als ob er noch Zeit dazu hätte und auch noch Kräfte und auch noch Lust!
»Ich bin zuweilen so müde«, sagte er leise. »Ich werde einmal wieder meinen Arzt konsultieren, mir scheint, ich habe manchmal Fieber. Diesen Zustand hatte ich schon einmal, dann war es lange besser. Aber jetzt!« Er zuckte die Achseln. Und wie ein Vorwurf regte es sich in ihm: warum hatte sie ihn an sich gezogen und hielt ihn nun fest mit aller Gewalt.
Sir war zu Tode erschrocken. Angstvoll faßte sie nach seinen Händen: ja, die waren heiß. »Hast du es auf der Brust – Stiche? Hustest du sehr?«
Nein, er hustete nicht mehr, als sie es selber immer hörte, er war ja fast nie ohne sie. »Aber hier, hier sitzt mir etwas!« Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust, so ingrimmig, so verzweifelt, daß es dröhnte und er heftiger noch als sonst husten mußte.
Sie hätte am liebsten gleich an der Klingel gerissen, sofort nach dem Arzt geschickt, aber es war ja mitten in der Nacht. So konnte sie nichts für ihn tun, als ihn mit beiden Armen umfangen, ihn so fest, so angstvoll zärtlich an ihre Brust drücken, daß ihm der Atem ausging.
Sie waren wie immer beisammen, aber es wurde eine Nacht ohne Zärtlichkeiten, ohne Entzückungen. Er war tief verstimmt; und auch sie war verstimmt, denn sie glaubte deutlich einen Mangel an Liebe bei Ragay zu verspüren. So krank ist doch kein Mensch, daß er nicht lieben könnte! War er denn überhaupt krank? Oder war es nicht nur Übersättigung bei ihm? Sie mußte sich seltener machen, kostbarer, mehr zurückhalten – ach, konnte sie denn das? Wenn man so liebt, wie sie liebte, gibt es keine Zurückhaltung: ganz und gar oder gleich ein Ende!
»Wir wollen sterben«, flüsterte sie ihm ins Ohr, gepeitscht von der furchtbaren, sie plötzlich überfallenden sinnlosen Angst, er könnte sie eines Tages verlassen.
»Warum, warum denn?« Er war ungeduldig: immer diese Exaltationen! Seufzend schob er sie von sich – sie lastete schwer – so konnte er freier atmen.
Da sah sie ihn an mit Blicken, wie er noch nie welche bei ihr gesehen hatte, selbst in der höchsten Ekstase nicht. Waren das nicht ganz wirre Blicke? Nein, wirr waren sie eigentlich nicht, eher wild, hungrige verzehrende Blicke, Blicke, mit denen wohl die Tigerin ihr Opfer bannen mag, daß es nicht mehr die Kraft hat, sich zu wehren. »Sieh mich nicht so an« murmelte er und legte die Hand über ihre Augen.
Sie riß ihn wieder in ihre Arme, und er brachte nicht die Willenskraft auf, sich noch einmal wieder freizumachen. Sie war die Stärkere, das fühlte er mit Scheu. Wie eine Puppe, ohne sich zu rühren, hing er in ihren Armen und hatte nur den einen Wunsch: wenn doch der Morgen erst da wäre. – –
Die Geheimrätin wollte gleich am Morgen zu Geheimrat Heim schicken, er wohnte ihnen zunächst am Gendarmenmarkt und war zudem der Leibarzt der alten Prinzeß Amalie und der Prinzessin Heinrich, ein so berühmter Arzt, daß er täglich seine siebzig Besuche machte, abgesehen von all den Patienten, die zu ihm kamen. Aber Ragay widerstrebte eigensinnig: nein, nicht den Arzt, den sie vorschlug. Er wollte seinen Doktor Zenker, der ihn damals, als er vor einigen Jahren an einer Lungenentzündung schwer krank gelegen, gut behandelt hatte. Um ihn nicht zu reizen, mußte Charlotte nachgeben.
Ach, Ragay war jetzt überhaupt sehr reizbar, ein unvermutetes Ihm-zu-nahe-kommen, eine Liebkosung, die ihm vielleicht nicht gerade gelegen kam, genügten schon, ihn zusammenfahren zu lassen. Er war auch unfreundlich. Oft, wenn sie ihm etwas brachte, sich über ihn beugend nach seinen Wünschen fragte – ach, sie wollte ihn ja so gern bedienen, ihm alle Handreichungen selber tun – sagte er: »Rufe den Diener!« Er hatte jetzt, da Zenker für einige Wochen Bettruhe verordnete hatte – sein Körpergewicht war zu leicht, er sollte zunehmen – sich den Burschen, der früher nur morgens gekommen war, um seine Kleider zu reinigen, als Bedienten für den ganzen Tag angenommen. Er ließ ihn auch nachts bei sich im Zimmer schlafen, damit er ihn immer bei der Hand hatte. Und das war das Härteste für Charlotte. Sie beneidete diesen Benjamin Klein und weinte über die Zurücksetzung, die ihr zuteil wurde.
Ursinus tröstete sie: aber das war doch keine Zurücksetzung. Es war falsch von ihr, das so aufzufassen. Der gute Ragay wollte sie nur schonen, ihr nicht zumuten, ihre Nachtruhe zu opfern, um seinen Wünschen jederzeit erreichbar zu sein. Diese Krankheitszeit würde ja auch bald vorübergehen, und dann würden sie alle drei wieder einig und vergnügt miteinander sein. Er wischte seiner Lotte die Tränen ab, die sie vor ihm zu verbergen nicht nötig hatte.
Aber Charlotte ließ sich so leicht nicht trösten: was hatte Ragay nur gegen sie? Sie zermarterte sich: hatte sie ihm etwas getan? Ach nein, nichts als Liebes. Und doch wurde sie den Gedanken nicht los: er hat Scheu vor mir.
Träume und deren Schrecknisse, durch die sie gejagt wurde, verwirrten und erschöpften sie so, daß sie am Morgen bleich und mit Augen, die ihr hohl im Kopf lagen, an seinem Bette erschien.
Es wollte sich nur schwer bessern mit Ragay. Sie quälte ihn so lange, bis er, um Ruhe zu haben, einwilligte, daß Doktor Heim noch zugezogen wurde. Warum hatte er sich eigentlich so gegen diesen gesträubt? Nun mußte Ragay selber zugeben, daß es ein außerordentlich vertrauenerweckender und sympathischer Arzt sei, trotz seiner etwas sehr geradezu erscheinenden Art und Weise.
Die Geheimrätin war bei Heims erstem Besuch diesem bis zur Treppe entgegengeeilt, hatte ihn schon vor der Tür abfangen wollen, um ihm die nötigen Informationen zu geben, aber Heim hatte gleich gesagt: »Ich werde mir selber ein Bild machen« und war, ohne sich aufhalten zu lassen, in das Zimmer des Patienten gegangen. Er konferierte dann nachher lange mit Zenker. Charlotte lauschte vor der Tür des Zimmers, in das sich die beiden Ärzte zur Beratung begeben hatten, aber sie sprachen lateinisch, sie konnte nichts verstehen. Doch als Heim wegging, fiel sie ihn förmlich an, hielt ihn bei der Hand fest: »Steht es schlimm mit ihm? Um Gottes willen!«
Heim sah sie aus seinen merkwürdig klaren Augen scharf an: was regte sich denn die Ursinus so mächtig auf? Das war nicht bloß Menschenliebe, das war noch etwas anderes. »In puncto puncti scheint mir der Herr Capitaine etwas reichlich viel getan zu haben. Es wäre ihm besser gewesen, er hätte das nicht getan. Ich habe ihm angeraten, für einige Zeit den Ort zu wechseln; die Französische Straße hat nicht gerade die beste Luft. Und die braucht er.«
Fort von hier, fort von ihr –?! Mit vor Entsetzen ganz verglasten Augen sah die Frau drein.
Der Arzt ging fort, der festen Überzeugung, daß der Ruf der Geheimrätin, der ihm als der einer tadellosen Dame der Gesellschaft und vorbildlichen Gattin bekannt war, jetzt vielleicht doch einen kleinen Schönheitsfehler bekommen haben könnte. Er lächelte in sich hinein, als er die breite Treppe hinunterstieg: Spandauer alte Tage tauchten vor ihm auf, in denen er das junge Fräulein von Weiß einst kennengelernt hatte – was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. – –
Fort sollte er, fort?! » Müßte er«, sagte ihr Ragay. Sie war empört. Die Tränen, die sie erst vergossen hatte, waren versiegt, grün, mit schmalgewordenen Pupillen funkelten ihre Augen ihn an: so hatte der Doktor das ja gar nicht gesagt. Es wäre gut und anzuraten, aber nichts von › müßte‹. Also er wollte fort, er belog sie, nur um fortzukommen von ihr?! Sie schnellte auf, in bebendem Zorn und verzweifelter Drohung hob sie den Arm gegen ihn: »Du wirst nicht fortgehen, du wirst mich nicht verlassen!«
Er schwieg; in Fieberschauern fröstelnd, zog er die Decke höher über sich und lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück. Sie sah, daß er litt, und das brach ihren Zorn. In bitteren Tränen sank sie vor dem Bett auf die Knie und bat, bettelte förmlich: »Geh nicht fort! Ich bitte dich, ach, ich bitte dich, geh nicht von mir!«
»Ich kann ja gar nicht«, sagte er matt, und um sie zu beruhigen, hob er seine Hand und legte sie feuchtheiß und zuckend auf ihren Kopf. Er strich auch über ihr Gesicht in einer Liebkosung, unter der sie stiller und ruhiger wurde. Er atmete auf, als der Diener jetzt hereinkam und ihm die stündlich zu nehmende Mixtur brachte.
Mit starren Augen sah die Ursinus zu, wie Benjamin Klein die Flasche schüttelte, den Eßlöffel füllte und ihn dann Ragay an den Mund führte. Der Kranke schluckte befriedigt: ja, diese Medizin tat ihm gut. Dann schloß er die Augen; er wollte schlafen.
Schlafen! Die Ursinus atmete hastig: ein einziger Löffel voll, ach, ein einziger Schluck nur konnte es schon tun, und man schlief für immer! Sie beugte sich vor, den Rücken ein wenig geduckt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Nasenflügel bebten nervös, sie verwandte keinen Blick von ihm.
Ragay fühlte diesen Blick, aber er öffnete die Augen nicht – und wenn sie auch wieder und immer wieder riefe: ›Geh nicht fort‹, er würde doch fortgehen. Er fürchtete sie.
*
Die Geheimrätin Ursinus befand sich auf dem Weg nach Charlottenburg. Sie war lange nicht draußen gewesen. Bis heute hatte sie da ja auch nicht viel zu suchen gehabt. Tante Christiane war alt und kränklich geworden, machte viel Wesens mit allerlei Leiden und war durch ihr einsames Leben recht ungenießbar geworden. Trotzdem bezeigte sie der Nichte, wenn die einmal zu ihr kam, immer noch die alte Liebe. Die erste Frage war stets: »Was macht der gute Ursinus?« Die zweite: »Bist du glücklich, meine Lotte?« Nicht, daß die Witte daran gezweifelt hätte, es war ihr selbstverständlich, daß man mit Ursinus glücklich war, aber es bereitete ihr eine große Freude, aus Lottes Mund selber zu hören: »Unendlich!«
Auf die Zuneigung der Tante baute die Nichte ihren Plan. Wenn es denn nun für Ragay wirklich durchaus nötig war, daß er in andere Luft kam, in ländlichere, aus der großstädtischen heraus, so gab es für sie nur die einzige Möglichkeit, sich von ihm zu trennen, wenn Tante Christiane sich bewegen ließ, den Rekonvaleszenten bei sich aufzunehmen. Das kleine Landhaus war ja wohnlich und angenehm, ringsum schöne Gärten, kein Staub, kein Lärm, und es war nicht weit von Berlin, in einer einzigen Stunde zu erreichen. Und vor allem, sie behielt ihn in der Hand. Eine ständige Angst plagte die Leidenschaftliche, er könne ihr von irgendwem oder von irgendetwas entrissen werden. Ihn nicht hergeben, nicht hergeben, nur soweit, wie der Käfer fliegen kann, den der Knabe am Fädchen hält! Bei Tante Christiane blieb er ihr. Und die würde ihm von morgens bis abends von ihrer Lotte sprechen, ihm von ihr vorschwärmen, ihm erzählen von ihrer Schönheit, ihrer Klugheit, ihrer Güte, so daß all das wieder in ihm aufflammte, was jetzt verschüttet schien. Aber wie Tante Christiane dazu bewegen? Die zimperliche alte Jungfer voll veralteter Moralansichten und rückständiger Vorurteile würde es höchst unpassend finden, wenn ihre Nichte sich für diesen jungen, ihr gar nicht verwandten Mann so eifrig verwendete. Und nun gar, wenn sie immer herauskam, um mit Ragay zusammen zu sein, allein und ungestört. Wie sollte sie der Tante all das begreiflich machen, die dazu bestimmen, ihr behilflich zu sein? Da war ihr ein rettender Gedanke gekommen: Ursinus! Von ihm geschrieben, aber von ihr ersonnen und ihm suggeriert, war der Brief, in dem Ursinus das hochzuverehrende Fräulein Christiane Witte bat, seinen besten Freund, den holländischen Capitaine van Ragay für einige Zeit bei sich aufzunehmen, da derselbe leidend sei, sich aber wegen durchaus nötiger Geheimhaltung – Gründe hochpolitischer, wichtiger Natur – verborgen halten müsse. Da derselbe nun einer angenehmen Umgebung und einiger Pflege bedürfe, die sich mit der notwendigen Geheimhaltung nicht vereinen lasse, und deshalb in Verlegenheit sei, so bitte er seine liebe verehrte Freundin und seiner Lotte geliebteste mütterliche Tante, doch besagten Ragay – usw. usw.
Dies war der Brief, den die Geheimrätin unter ihrer Chemise, dem engen Gewand, das jede elegante Frau jetzt ohne Unterkleid selbst auf der Straße anhatte, auf dem Busen trug. Ihre Hand faßte immer wieder danach: hatte sie ihn auch noch? Sie war voller Hoffnung. Alles war schön und licht heute, so strahlend wie in Gold getaucht und unbeschreiblich heiter. Trotzdem sie sich Bestes von ihrem Brief versprach, war ihre Seele dennoch voller Unruhe. Wenn die Vögel im Walde des Tiergartens nur den Schnabel halten wollten, die schirpten ja unverschämt laut und frech! Wenn sie zurückfuhr, die Einwilligung der Tante hatte, dann erst würde auch sie den Gesang der Vögel gern hören, denen einsame Spaziergänger und zweisame Pärchen verzückt zu lauschen schienen. Ah, die Einwilligung, die Zusage der Tante! Nur dafür hatte sie jetzt Sinn.
Die erste Enttäuschung wurde ihr, als sie die Witte mit hochgeschwollenem Gesicht und rotglühend im Bette fand: »Ich habe die Rose.« Es war auch die Rose, man hatte sie bereits mit Besprechen zu vertreiben gesucht. Es gab in Charlottenburg eine Frau, die das ausgezeichnet verstand, aber in diesem Fall hatte es merkwürdigerweise nichts geholfen. Der Chirurgus Pohl hatte der alten Dame heiße Kompressen und Schwitztee verordnet – neun Tage steigt die Rose, neun Tage fällt sie.
Der Brief, den Charlotte aus ihrem Busen gezogen hatte, knitterte in ihrer Hand: hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Mußte denn jetzt, gerade jetzt diese jämmerliche Alte krank werden? Aber es würde schon nicht so schlimm sein. Heiße Kompressen und Schwitztee, Unsinn! »So züchtest du ja das Fieber«, herrschte sie und zog der Schwitzenden das Deckbett weg. »Nimm ein Abführmittel, ein Brechmittel, trinke fleißig Kühlendes, dann wirst du morgen schon wohler sein!«
»O nein, nein«, wimmerte die Überängstliche, »um Gottes willen, laß mich zugedeckt! Ich schwitze, ich werde neun Tage schwitzen. Nur schwitzen treibt die Krankheit aus.«
Hatte es dann Zweck, den Brief überhaupt zu zeigen und um Aufnahme für Ragay zu bitten? Bitterste Enttäuschung überkam Charlotte – schon sah sie den Geliebten sich entschwinden – und zugleich loderte helle Wut in ihr. Am liebsten hätte sie sich auf dies rotgeschwollene, jammernde Etwas gestürzt, es aus dem Bett gerissen, oder besser noch, es tiefer in seine Kissen gedrückt, damit das Gejammer ersticke. Mit Mühe nur faßte sie sich und zeigte ihre ruhige, sanftmütige, gewohnte Miene. Sie brachte es sogar fertig, Tante Christiane recht zu bedauern und zu versprechen, daß sie schon in den nächsten Tagen wiederkommen würde, um nach ihr zu sehen.
Aber als sie wieder draußen war, brach es los in ihr wie ein Ungewitter: nie, nie würde sie das der Tante verzeihen, legte sich die jetzt gerade hin und wurde krank! Und als sei die Natur mit ihrem Inneren im Bunde, so war nun, als sie aus dem Hause trat, die Sonne plötzlich verschwunden. Finster zog es herauf, dunkle Wolken, von schwefligem Gelb umschlängelt, ballten sich. Kein Windchen regte sich, in einer plötzlichen Schwüle schienen Baum und Blatt, Lüfte und Vögel gelähmt. Jetzt schriller Vogelaufschrei, fauchender Windstoß. Am Sommersitz der Lichtenau jagte der Kutscher gerade vorüber. Er wies mit dem Peitschenstiel nach den dichten Kronen des schönen Parkes, in denen ein Gewitterbrausen anfing zu wühlen, Blätter und Zweige abriß und über das Gitter weg auf die Straße fegte: »So läg die nu ooch uf de Straße, wenn unser neuer König ihr nich in die Festung Glogau ingelocht hätte. ›Das Weib, das meinen Vater täglich bestohlen hat‹ – ola, ola!« Er rief dem aufgeregten Pferd beruhigend zu. »Da kann se nu keene Zicken mehr machen, det Aas!«
Angewidert zog die Geheimrätin die Brauen zusammen: welche Roheit! Also auf der Festung Glogau, die aus allen Höhen Gestürzte! Und für wie lange? Aber schon verließen ihre Gedanken jene Frau, mit der sie einst sympathisiert und die sie beneidet hatte, und eilten zu Ragay. Was sollte sie nun machen, wie es anstellen, daß ihre eigenen Wünsche und die der behandelnden Ärzte sich deckten, und daß auch er, ihr ungezogener, jetzt so launischer und, ach, doch so heißgeliebter Liebling zufrieden war?
Sie war so tief in sorgende, alle möglichen Pläne hin und her wälzende Gedanken versunken, daß sie gar nicht bemerkte, wie furchtbar das Wetter war. Ihr langgestielter Sonnenschirm bot keinen Schutz, der Fächer auch nicht, die hochstehenden Federn vorn auf ihrem Hut hingen längst geknickt, der Regen strömte. Aber es war schon kein Regen mehr, es waren Güsse, die eine bis zum Überlaufen gefüllte Schleuse in Strömen ausschüttete. Der Kutscher fluchte und hieb auf das bockende Pferd, das nicht weiter wollte. Die Landstraße war keine Straße mehr, sondern ein Fluß. Plötzlich: krach! – grollender Donner, schwefliger Blitz, und wieder, wie in eins verschmolzen, Donner und Blitz. Das Pferd scheute und sprang zur Seite, in einen alten Eichbaum vor ihnen war der Blitz gefahren, hatte den gespalten und einen Ast, selber so dick wie ein mittlerer Stamm, heruntergeschlagen und quer über den Weg geworfen.
»Herr Gott, steh uns bei!« Der Mann zitterte, der Gaul auch, aber die Frau blieb ganz ruhig. Sie hatte aussteigen müssen, der Kutscher besänftigte das entsetzte Tier und führte es dann, es an der Trense fassend, auf einem Seitenweg um das die Straße sperrende Hindernis herum.
Die Geheimrätin folgte, ihre niedrigen kleinen Schuhe waren nasses Seidenpapier, ihre dünne Linon-Chemise klebte jetzt wirklich an wie ein Hemd. Aber sie fühlte die Nässe nicht und auch nicht die Kälte, die sich ihr dadurch bis ins Innerste stahl. Sie fühlte beides erst, fühlte es bis zu einer völligen Erstarrung, als sie, zu Hause angekommen, hörte: Ragay ist fort. Mit all seinem Gepäck und dem Diener Benjamin Klein.