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Achtzehntes Kapitel

Der Diener Benjamin Klein fühlte sich nicht wohl. Und er hatte doch gestern schon nichts weiter zu sich genommen als eine Tasse von der guten starken Herrschaftsbouillon, die ihm die Gnädige selber in die Küche brachte. Die Köchin schalt: das Übelbefinden kam noch von vorgestern her, sie hatte es ihm ja gleich gesagt, soviel Gurkensalat und fetten Aal verträgt nicht jeder Magen. Aber der Klein behauptete, so arg schlecht sei es ihm vorgestern gar nicht gewesen, erst seit gestern nach der Bouillon.

Als er heute bei Tisch bediente, war er blaß und zeigte eine bekümmerte Miene. Der Geheimrätin fiel sein Aussehen auf, sie fragte ganz erschrocken: »Was fehlt Ihm?«

Er klagte, daß es ihm noch immer nicht besser sei.

»Ist es denn in der Tat so schlimm? Zeige Er mal seine Zunge!« Sie sah ihn prüfend an, ließ ihn die Zunge herausstrecken und fühlte seinen Puls. Der war recht unregelmäßig. Sie hieß ihn, sich zu Bett legen und schickte in ihrer Besorgnis zu ihrem Hausarzt, dem Generalchirurgus Laube. Der kam auch, besah sich den Diener, ließ ihn die Zunge herausstrecken und fühlte den Puls. Unregelmäßig und schwach. Das beste war, man half der Natur, sich Luft zu machen; er verordnete ein Brechmittel. Der Klein hatte auch Verlangen danach – dann würde ihm leichter und infolgedessen besser werden –, aber die Geheimrätin war nicht für solche Gewaltkur, sie hieß die Köchin, ihm Kamillentee kochen und immer warme Umschläge erneuern gegen die Schmerzen im Leibe. Das half denn auch nach und nach. Der Diener konnte wieder aufstehen und seinen Obliegenheiten nachkommen. Aber wohl war ihm noch immer nicht recht, tagelang hatte er noch denselben metallischen häßlichen Geschmack im Munde wie nach dem Trinken der Bouillon; und alle Nacht lag er so in Schweiß gebadet, daß er am Morgen kaum aufstehen konnte, so matt war er. Was war das nur?!

Die Geheimrätin klagte auch: sie fühle sich gar nicht wohl. Trotzdem ging sie viel aus, noch mehr als sonst; morgens zu Besorgungen in die Stadt, nachmittags in irgendein Whist- oder anderes Kartenkränzchen, abends ins Theater oder in Gesellschaft. Sie war von einer ständigen Unruhe getrieben. Dabei verfehlte sie aber nie, sich in den kurzen Zwischenpausen, in denen sie zu Hause war, nach ihrem Diener umzusehen. Wenn man einen Diener schon so lange im Hause hat, nimmt man doch besonderes Interesse an ihm; sie war sehr gut und freundlich, sie tröstete ihn, wenn er mißmutig war, daß er noch immer sich nicht wohl fühlte, und ließ ihm, da er gar keinen Appetit zeigte, von der Köchin Milchreis kochen. Sie redete ihm zu, wenigstens von dieser leichten und bekömmlichen Speise etwas zu genießen. In vollem Gesellschaftsstaat kam sie mit einem Tellerchen voll Reis noch zu ihm in die Bedientenstube: »Er muß aber etwas zu sich nehmen – ein Löffelchen voll wenigstens – sei Er verständig!«

Er konnte nicht essen. Schon der Gedanke, essen zu müssen, machte ihm übel. Er ärgerte sich auch: warum drängte sie ihn denn so, wenn er doch durchaus nicht mochte?! Und es fiel ihm auf, daß sie den Reis, den doch niemand berührt hatte, selber wieder hinaustrug und mit dem im geheimen Kabinett verschwand. Komisch, sehr komisch!

Jetzt war es, als ob die geheime Unruhe der Herrin sich auch dem Diener mitgeteilt hätte. Was er sonst niemals getan hatte, er fing an, wie von einem geheimen Befehl getrieben, in Schränken und Schüben zu stöbern und nach etwas zu suchen. Nach was, das wußte er selber nicht. Aber es trieb ihn, trieb ihn unablässig, er mußte suchen. Er suchte, sowie seine Herrin das Haus verlassen hatte, schlich auf wankenden Füßen in ihre Schlafstube, suchte im großen Kleiderschrank, suchte in dem kleinen Nachtschränkchen, darin sie Medikamente verwahrte: Baldrian, Pfefferminz, Kamillen, Natron, Insektenpulver. Suchte und fand nichts.

Und wenn da auch weiter nichts war, ein Mißtrauen hatte ihn plötzlich gepackt und hielt ihn fest, ließ ihn nicht mehr los. In der Nacht hatte er entsetzliche Träume. Auch fiel, wenn er das Silber blank rieb und die Messer putzte, noch anderes über ihn her: er mußte plötzlich so viel an seinen früheren Herrn, den Ragay, denken. Warum hatte der Furcht vor ihr gehabt? Denn Furcht war es gewesen, die den veranlaßt hatte, ihren Besuch abzuweisen, ihm zu befehlen: »Bring Er mir nur sie nicht herein!« Oh, der arme Herr hatte schon gewußt, warum er Furcht hatte. Furcht! Dem elenden Menschen klapperten die Zähne: warum war sie so freundlich zu ihm, ganz besonders freundlich? Katzenfreundlich, ganz schrecklich freundlich, schreckhaft freundlich!

In dieser Nacht schrie Benjamin mehrfach so laut, daß er über das eigene Schreien erwachte, zitternd, von Angstschweiß übergossen. Nein, er würde hier nichts mehr genießen, und wenn es auch Einbildung war, daß gerade das, was sie ihm gab, ihm schlecht bekam. Nein, aus ihrer Küche nichts, gar nichts mehr essen! Er fühlte sich sehr elend.

Als die Herrin ihm andern Tages gekochte Backpflaumen schickte – er hatte sich wieder hinlegen müssen –, bat er die Zofe Annette, sowie die Geheimrätin in Gesellschaft gefahren war, die Pflaumen in die Flittnersche Apotheke zu tragen und sie da untersuchen zu lassen.

*

Die Geheimrätin Ursinus saß beim Whist. Heute war Whistpartie in ganz illustrem Kreise in einem Palais der Wilhelmstraße. Sogar ein königlicher Prinz war zugegen. Sie saß der Geliebten desselben gegenüber, die spielte nicht schlecht, aber sie spielte doch noch besser. Und auch an Schönheit konnte sie es mit der noch aufnehmen. Die Geheimrätin sah heute blendend aus. Ein Rot lag auf ihren Wangen, das diesmal nicht künstlich war, ihre Augen, dadurch gehoben, glänzten doppelt; sie zeigte die tadellosen Zähne mit ihrem weißen Schmelz in einem häufigen Lächeln. Daß dieses Lächeln aber künstlich war, das merkte niemand. Warum sollte denn diese schöne und reiche Frau auch nicht lächeln? Auf dieser klugen Stirn wohnten nur gute und liebenswürdige Gedanken, und der Mund, wenn er auch nicht mehr ganz frisch war, schien noch immer von Amoretten umschwebt. Die stolze Gestalt war, wie jetzt immer, nur in Schwarz gekleidet, aber die Tunique war reich gestickt, und die Schleppe des Unterkleides so lang, daß die ganze Gewohnheit solche Roben zu tragen dazu gehörte, um sich mit Grazie darin zu bewegen.

Die Diener liefen hin und her und boten Erfrischungen an. Auf den Spieltischen Wachskerzen in silbernen Leuchtern, aus einem der Nebenräume, wohin sich der Prinz mit einer hübschen jungen Dame zurückgezogen hatte, ertönte wundervolles Klavierspiel. In ihrer Hand den Fächer der Karten, schien die Geheimrätin ganz dem Zauber der Stunde hingegeben, das oft so unruhige Glitzern ihrer Augen hatte einer sanften Träumerei Platz gemacht. War sie so versunken in ihre Karten oder in das Klavierspiel? Plötzlich zuckte sie unmerklich.

Ein Diener war hinter sie getreten, er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Trotz seiner guten Schulung war er ein wenig verwirrt.

»Einen Augenblick noch!« Die Ursinus war gerade am Ausspielen. Ihr Gegner stach: »Trumpf« – sie hatte das Spiel verloren.

Sie erhob sich: »Ich bitte die Herrschaften mich zu entschuldigen, im Vorzimmer warte Dringendes auf mich, sagt man mir eben.« Die Achseln zuckend, lächelte sie ungläubig: »Was kann das groß sein! Ich bitte sehr um Verzeihung wegen der Störung, aber in wenigen Minuten bin ich wieder da.« Sich artig verneigend und lächelnd ging sie hinaus.

Doch sie kam nicht zurück.

*

So hatte Berlin sich nicht aufgeregt und sich nicht einmal so gierig auf die Zeitungen gestürzt, als die Enke-Rietz-Lichtenau, die verhaßte Favoritin, auf Befehl des neuen Königs verhaftet und auf die Festung Glogau abtransportiert worden war, wie es sich jetzt aufregte. Kein Haus in der großen Stadt, in dem man nicht davon sprach: die Ursinus, eine Geheimrätin, eine vornehme Dame, eine Frau, vor der jeder den Hut abgezogen hatte, die war verhaftet worden! Sie hatte ihren Diener vergiftet. Noch lebte der, konnte vernommen werden, aber wer weiß, ob er morgen noch lebte? Und ihren Mann, den alten Geheimrat Ursinus, hatte dieses Scheusal von Weib auch umgebracht, und eine Tante, die Schwester ihrer Mutter, weil sie nicht abwarten konnte, die zu beerben. Und zu allererst ihren Geliebten, den holländischen Capitaine Ragay. Ein ganzer Rattenkönig von Morden. Fiebernd harrte die Menge des Volkes auf weitere Enthüllungen: es war noch lange nicht genug, lange nicht genug, die hatte noch viel mehr Morde auf dem Gewissen! Die war ja schrecklicher, verbrecherischer, als je eine Frau auf Erden gelebt hatte!

Die Empörung war so groß, daß eine Menge Leute, darunter ganz anständige Bürger, sich zusammenrotteten, vor das Ursinus'sche Haus zogen und unter lauten Schmährufen und Verwünschungen dort die Fenster einwarfen. Steine polterten gegen Haustür und Mauern, das Haus mußte unter polizeilichen Schutz gestellt werden. Aber ob auch Gendarmen davor auf und ab patrouillierten, immer stand noch in einiger Entfernung ein gaffender Haufe und grollte: das Haus der Giftmischerin, der Mörderin! Stäupt sie, hängt sie, treibt sie aber vorher nackt durch die Straßen und peitscht sie mit Ruten, daß ihr das Sündenfleisch in Fetzen hängt!

Die Ursinus saß in der Stadtvogtei. Vordem war sie zerknirscht gewesen, von Reue und Gewissensbissen so gefoltert, daß nur der Tod ihr Erlösung schien – eine matte müde Frau, die nur mit Aufbietung letzter Kräfte etwas scheinen konnte, das sie nicht war –, nun aber war etwas in die Belanglosigkeit ihres Lebens gekommen, in die Monotonie des Daseins überhaupt, das ihre Nerven aufpeitschte, ihr die Kraft zum Widerstand gab. Wie konnte man sich unterstehen, sie, die Geheimrätin Ursinus, solch gemeiner Taten zu beschuldigen? Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, sich zu grämen, die Hände zu ringen, die Stirn an den schmucklosen Wänden ihres Arrestlokales einzurennen, war sie doch in eine Lage gekommen, in der eine andere zusammengebrochen wäre, aber sie dachte nach mit Ruhe und Umsicht, wie sie am besten ihre Sache verfechten könne.

Der Justizkommissarius Blume, ein noch junger Mann, den man ihr zum Defensor bestellt hatte, um ihm die Chance zu geben, sich auszuzeichnen, war ihr sehr lästig oder erschien ihr mindestens überflüssig. Was schnitt er doch immer so ungeschickte Gespräche an, dumm und aushorchend? Er suchte auf einen vertrauten Fuß mit ihr zu kommen, tat unter vier Augen bei seinen Besuchen in der Stadtvogtei so, als ob er vollkommen von ihrer Unschuld überzeugt sei, aber überzeugt war er doch nicht, das empfand sie fein. Und wie sollte nun ein Mensch, der nicht felsenfest an ihre Schuldlosigkeit glaubte, andere davon überzeugen? Er war ihr zum Defensor von Gerichts wegen bestellt, darum verteidigte er sie, nur darum, es war ihm kein persönliches Herzensbedürfnis. Aber nur der kann wirkungsvoll verteidigen, der völlig durchdrungen ist von der Wahrheit dessen, was sein Klient sagt, sich mit dem ganz eins weiß in der Empörung über ungerechte Anschuldigung. Sie würde sich selber weit besser verteidigen können.

Wie, sie sollte ihren Geliebten umgebracht haben, den unvergessenen und so tief betrauerten Ragay?! Täte diese Beschuldigung nicht so schmerzlich weh, so könnte man darüber lachen. Aus dem Gelee von isländisch Moos und Kandis gekocht, das sie ihm gegen seinen Husten geschickt hatte, wollte man einen Gifttrank zusammenbrauen. Ach, er hatte ja gar nichts davon genommen! Überhaupt nichts genossen von dem, was ihre Freundschaft ihm gesandt hatte, ihre treue, selbstlose, gern alles opfernde Freundschaft.

Sie flammte auf, wenn Ragay genannt wurde. Oh, wenn er doch aufstehen könnte aus seinem Grabe, sich schützend vor sie stellen, vor sie, deren Haus er nur verlassen hatte in einem Anfall törichter Laune, weil er sich einbildete, sie möge ihn so krank nicht mehr um sich haben. Er hatte gefürchtet, sie zu belästigen mit der Mühsal seiner Pflege. Sind denn solch arme Kranke nicht disponiert zu unglückseligen Einbildungen? Ach, der arme Freund, ihn zerrten sie noch aus seinem Grabe, besudelten eine schöne ideale Zuneigung mit schmutzigem Verdacht, faßten mit groben Fingern in das feine Gespinst einer reinen Seelenfreundschaft!

Der Justizkommissarius, dem sie ihr Verhältnis zu Ragay, das ihre und das ihres guten Ursinus, den mit Ragay die gleiche Freundschaft verbunden hatte – wie wäre bei einem unreinen Verhältnis einem solchen Ehrenmann das wohl möglich –, mit großer Wärme und der beredten Kraft eines reinen Herzens klarlegte, war überzeugt: an diesem Tode war sie unschuldig. Aber ob in den beiden anderen Fällen?

Auch da legte sie ihm in den Mund, was er zu sagen hatte im weiteren Verlauf des Prozesses. Sie ihrem Gatten Gift gegeben, ihrem guten Ursinus?! Wo lebte der Mensch, der ihr solche Gemeinheit zutrauen könnte? Ach, zutrauen wohl, die Menschheit ist ja leider mit so niedrigen Elementen durchsetzt, daß sich wohl ein Individuum finden würde, das die Stirn besäße, auch solches gegen sie auszusagen! »Aber Doktor Heim und Generalchirurgus Laube, die ich sofort beim Eintritt der Erkrankung holen ließ, werden bestätigen auf ihren Eid, daß Ursinus infolge eines Nervenschlages verschieden ist. Ach, mein guter Mann, der immer so treu für mich sorgte, wenn der wüßte, wessen man mich anklagt! Aber auch ich habe treu für ihn gesorgt, das wird mir jeder anständige Mensch bestätigen. Und das werden Sie, mein Herr Defensor, auch den Richtern klarlegen, daß ich nicht nötig hatte, mich meines Mannes zu entledigen – wenn ich je diesen ganz niederträchtigen Wunsch gehabt haben sollte –, denn Ursinus zählte über dreißig Jahre mehr als ich, war alt und gebrechlich, es konnte nicht lange mehr währen, und er durfte eingehen zum ewigen Frieden. Was brauchte ich mich da noch mit einem Morde zu beflecken, mich in eine so unglückliche Lage zu bringen, in der ich mich trotz meiner Unschuld jetzt befinde? Sie werden das den Richtern mit Leichtigkeit beweisen, Herr Justizkommissarius!« Sie sah ihn mit stolz erhobenem Kopfe fest an.

Blume nickte: in der Tat, dieser Schluß war ganz folgerichtig. Ihre Logik, so selten bei einer Frau, und auch ihr fester Blick imponierten ihm: eine Frau, die ihren Gatten gemordet hat, kann nicht so fest und ruhig blicken. Er suchte in ihren Augen irgend etwas zu entdecken von Scheu, von Unsicherheit, aber vergebens, sie erwiderte seinen Blick mit der Offenheit eines guten Gewissens. Ihr Ton war ernst, aber ohne jede Bangigkeit. So würde diese Frau auch vor ihren Richtern stehen, in ihren Antworten bestimmt, klar in ihren Angaben – eine ganz außergewöhnliche Frau!

Langsam fing der Kommissarius das Amt der Verteidigung, das man ihm als eine ganz besonders heikle Aufgabe aufgehalst hatte, liebzugewinnen. War es nicht überhaupt eine Ehre für ihn, in einem Prozeß, der ein Aufsehen erregte wie seit vielen Jahren keiner, ein Prozeß, der einzig dastehen würde in den Annalen der Justiz, eine hervorragende Rolle zu spielen? Wenn es ihm doch gelänge, seine Verteidigung so zu führen, daß er sie frei bekäme! Ein Jammer, wenn dieses schöne Haupt fallen sollte.

»Sie werden Ihr möglichstes tun, Herr Justizkommissarius, Sie werden es tun, ja, ja, ich weiß es!« Sie lächelte ihn vertrauensvoll an. »Hier, fühlen Sie« – sie legte ihre Hand auf die seine –, »fühlen Sie, wie ruhig mein Puls geht. So geht nicht der Puls einer Schuldigen, Angst vor Entdeckung würde ihn zum Jagen bringen. Ich bin getrost, ich lege meine Sache in Gottes Hand und in die Ihre, mir kann kein Leides geschehen.«

Ihr Vertrauen ehrte ihn sehr, er konnte sich einer gewissen Sympathie für sie nicht erwehren und auch einer gewissen Bewunderung nicht. Diese Fassung, diese Würde! Grenzten sie nicht an Seelengröße? Jedenfalls, klein, verzagt und larmoyant war seine Klientin nicht. Sie sollte sich nur ruhig auf ihn stützen, wenn sie einer Stütze bedürfte, es würde ihm eine Ehre sein, für sie mit all seiner Kraft einzutreten. Es war nicht nur seine Pflicht, es war ihm auch Bedürfnis des Herzens.

»Oh, ich danke Ihnen«, sagte sie, und nun war es ihm, als stiegen feuchte Schimmer in ihren jetzt leicht verschleierten Augen auf. »Es gibt doch noch gute Menschen. Einen von ihnen heute kennengelernt zu haben, macht mich glücklich trotz meiner fatalen Lage.« Sie reichte ihm ihre Hand und drückte die seine herzlich.

Er konnte einen Handkuß nicht gut umgehen, obgleich er sich nachher darüber ärgerte: am Ende war sie doch eine Verbrecherin. Aber so lange er bei ihr war, ihr gegenüber saß, kam er nicht zu dieser Ansicht; nur wenn er draußen war im Lärm der geschäftsregen Straßen, in einer so anderen Welt – Menschen, Wagen, Lastkarren, Geschäfte – stellte er sich wieder anders ein. Zweifel an ihr, viele Zweifel kamen ihm. Sie waren heute noch nicht bis zum Fall Witte gelangt – was würde sie da vorbringen zu ihrer Entlastung? Vielmehr, was konnte er da vorbringen? Eine ganz verteufelt schwierige Verteidigung. Und dann die Geschichte mit dem Diener! Die war nicht aus der Welt zu schaffen, die war und blieb ein Giftmordversuch. Geglückt war er nicht, der Diener lebte und würde nach Ansicht der behandelnden Ärzte auch am Leben bleiben. Aber sie hatte ihn doch angegiftet, ihm mehrmals Gift gegeben und geben wollen – Fleischbrühe, Reis, Backpflaumen – noch ein paar Dosen, und der arme Teufel wäre hin gewesen.

Warum hatte sie das getan? Aus Rachsucht, aus satanischer Lust am Quälen, aus Ärger oder als Strafe für irgendein Versehen, das der Diener sich etwa hatte zuschulden kommen lassen? Aber da gibt man doch nicht gleich Gift. Kein irgend denkbarer Grund war vorhanden. Sie hatte diesen Diener immer besonders geschätzt, und auch er sprach jetzt noch von seiner Anhänglichkeit, und daß er niemals mit der gnädigen Frau einen Disput gehabt hätte. Was war der Grund gewesen? – – –

Ganz Berlin zerbrach sich darüber den Kopf, nicht bloß die Herren Juristen. Es war wie ein Preisrätsel, das gelöst werden mußte. Aber es wurde nicht gelöst. Auch während der ganzen langen Dauer des Prozesses nicht. –

Monate saß nun schon die Geheimrätin Ursinus in Untersuchungshaft. In ihr schönes blondes Haar, das jetzt keine geschickte Zofe frisierte und in Lockenbündeln aufsteckte, das sie sich selber zusammenband in einen schlichten Knoten, fingen weiße Fäden an sich einzureihen. Sie riß die jedesmal, wenn sie sich mit Mühe vor einem winzigen Spiegelchen spiegelte, sorgfältig aus. Kleider hatte sie sich kommen lassen dürfen, auch entbehrte sie nicht völlig aller Bequemlichkeiten. Man behandelte die Geheimrätin denn doch mit einiger Rücksicht, nicht wie eine ganz gewöhnliche Untersuchungsgefangene. Das schmeichelte ihr, sie fühlte sich wieder. Und als sie von den Krawallen hörte, die vor ihrem Hause stattgefunden hatten, verfertigte sie ein Schriftstück: »An eine hochwohllöbliche Polizeibehörde zu Berlin«, in dem sie sich bitter beklagte, als allezeit pünktliche Steuerzahlerin und angesehene Bürgerin der Stadt, vor zerstörungswütiger Roheit nicht besser geschützt worden zu sein.

Noch geht es mir nicht wie denen auf den Spandauer Wällen‹, sagte sie sich und schauerte zusammen. ›Es wird mir auch niemals so gehen‹, triumphierte sie dann, ›denn wer kann es mir beweisen, daß Ursinus, daß Tante Christiane an Gift gestorben sind? Und Ragay? Lächerlich! Davon sehen sie ja auch bereits ganz ab. Und von dem anderen werden sie auch noch absehen, nur ruhig! Bleibt nur Benjamin Klein. Wie kam ich eigentlich dazu? Ach, wenn ich das wüßte! Mein Verstand muß verwirrt gewesen sein, durch den Tod der geliebtesten Menschen völlig aus dem Geleise gebracht. Ist denn mein Kopf nicht überhaupt verwirrt? Bin ich je ein normaler Mensch gewesen? Niemals. Mein Vater war schon krank, als ich empfangen wurde; oft hat mir meine Mutter erzählt, sie sei in Ängsten gewesen, als ich geboren werden sollte: würde es auch ein normales Kind sein? Und als in der Stunde meiner Geburt ein Komet am Himmel erschien, einen feurigen Schweif hinter sich herziehend, da war es ihr gewiß, ich war zum Unglück geboren. Sie hat mich niemals geliebt. Um Liebe bin ich betrogen worden mein ganzes Leben. Liebe hat mir gefehlt, die Liebe, die gut macht und glücklich. Aus dem Leben, das mir nichts gab, wollte ich immer fliehen. Fort, nur fort vor mir selber! Ach, wäre mein Leben doch hingeströmt damals mit dem Blut aus meinen Pulsadern! Grausam hat man mich aus dem Todesschlaf, der mich schon umfing, wieder geweckt. Und seitdem wollte ich mehrmals den Versuch wieder machen – immer mißglückt. Ist es ein Wunder, daß ich verwirrt bin? Ein stärkerer Geist als der meine mußte da Schiffbruch leiden. Ich habe an Krisen gelitten schon von Kindheit an. Wenn der Arzt in Stendal noch lebte, der könnte es bezeugen. Ich weiß dann nicht, was ich tue, ich bin dann außer mir selbst; mein Körper gehorcht wohl, geht, sitzt, liegt, spricht, der Geist aber ist fort. Wo er ist, das weiß ich nicht, auch nicht, was er denkt und ersinnt. Er ist dann ein kranker, nicht verantwortlich zu machender Geist.‹

Und dabei blieb sie auch. Von ihrem Hausarzt, dem Generalchirurgus Laube, hatte sie Arsenik gefordert und auch bekommen. Sie wollte es haben für einen guten Bekannten, einen Gutsbesitzer in Polen, dem Füchse und Wiesel viel Schaden taten. Wo war der Gutsbesitzer? Nicht aufzufinden. Und wo das Gift? In einer Schachtel, ›Natron‹ stand darauf; es fand sich bei der Haussuchung zwischen den übrigen Medikamenten: Kamillen, Pfefferminz, Baldriantropfen und Brusttee.

Die Ursinus erblaßte, errötete und erblaßte wieder, ihre Farbe kam und ging schnell, als sie die Schachtel auf dem Tische stehen sah.

»Kennen Sie dieses?« Der Untersuchungsrichter hielt ihr die Schachtel entgegen.

»Ja. Arsenik. Ich ließ es mir geben von meinem Hausarzt.«

» So viel?« Er lächelte sarkastisch. »Damit konnten Sie ja eine ganze Kompagnie Soldaten vergiften.«

Gereizt fuhr sie auf: »Ich wußte doch nicht, wieviel man braucht, um zu sterben.«

» Wollten Sie denn sterben?«

»Ja.«

»Warum denn?«

»Man sah mich scheel an, ich hörte Stimmen – sie spotteten – man gaffte mir nach, man wies mit Fingern auf mich, ich fühlte mich verfolgt, gehetzt, ich mußte entfliehen.«

»Ach, machen Sie uns hier doch nichts vor, Frau Geheimrätin! Wir glauben nicht an Ihre Geistesverwirrtheit. Und als Sie dem Diener Klein Gift gaben – Sie fingen es doch recht schlau an –, wie, waren Sie da auch so verwirrt?«

Sie war empört. »Wenn Sie auch nicht daran glauben, darum ist es doch so; ich war völlig verwirrt. Ich bin sehr oft meiner Sinne nicht mächtig, und dann tue ich Dinge, muß Dinge tun, von denen ich nachher gar nichts mehr weiß. Vergeblich werden sich Richter – die ja leider nicht immer Psychologen sind – bemühen, mir überlegte Pläne und berechnete Motive unterzuschieben. Es wird ihnen nicht gelingen. Kein menschlicher Scharfsinn kann einen Zusammenhang da schaffen, wo kein Zusammenhang vorhanden ist. Den Zweck meiner Handlung vermag niemand festzustellen, weil kein Zweck da ist. Ich war eben gänzlich geistesverwirrt.«

»Das widerspricht aber völlig den Ansichten des Herrn Doktor Heim, die dieser in einem eingehenden Gutachten niedergelegt hat. Er kennt Sie seit lange, hat Sie zu den verschiedensten Zeiten behandelt. Sie haben das Gutachten gelesen und wünschten eine Konfrontation mit Herrn Doktor Heim, wir haben Ihrem Wunsche Gehör gegeben, Herr Doktor Heim dürfte gleich erscheinen.« –

Eine Konfrontation mit Heim, dessen Gutachten sie beleidigt hatte, war von der Ursinus dringend gewünscht worden, nun aber, da er ihr gegenüberstand, war doch eine gewisse Unsicherheit in ihrem Blick.

»Herr Geheimer Sanitätsrat, ich habe Sie bitten lassen«, sagte in ganz anderem, jetzt sehr höflichem Ton der Untersuchungsrichter, »um Ihre über den Geisteszustand der Angeklagten ausgesprochene Meinung, die wir in Ihrem Gutachten zu den Akten brachten, der Frau Geheimrätin noch einmal persönlich zu Gehör zu geben. Die Angeklagte behauptet, zuzeiten nicht im Besitz ihrer Geisteskräfte, sogar völlig verwirrt zu sein. Besinnen Sie sich, Herr Geheimrat, haben Sie nicht vielleicht ein oder das andere Mal doch Ähnliches bemerkt?«

»Schwachheit des Verstandes oder überhaupt Geistesverwirrungen habe ich niemals an ihr bemerkt, im Gegenteil, die Frau Geheimrätin besitzt einen ganz besonders ausgebildeten, klaren Verstand.« Und der rücksichtslose Bekenner der Wahrheit setzte noch hinzu: »Aber sie besitzt große Verstellungsgabe. Ich wurde sehr oft hingerufen, sie affektierte Krämpfe, Ohnmachten, schreckliches Übelbefinden – ich habe nie daran geglaubt.«

»Und doch haben Sie mir die teuersten Medizinen verschrieben!« Die Ursinus war außer sich vor Empörung, ihre Augen flammten, mit Mühe nur beherrschte sie sich.

Der berühmte Arzt lächelte: »Die teuersten Medizinen, ja, das tue ich immer bei solchen Patienten, die ebensowenig krank sind, wie Sie es waren, Frau Geheimrat.«


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