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Erstes Kapitel

An dem niedrigen Gitter, das den Altarraum mit dem mächtigen Schnitzwerk seines Hochaltars gegen das Schiff der alten Kirche abschließt, kniete Charlotte Sophie Elisabeth von Weiß. Wenn sie denn schon alle Morgen zur Messe gehen mußte, an diesen frühen kalten Morgen, an denen es allein schon grauslich war, das Bett zu verlassen und Finger und Nasenspitze in das mit einer leichten Eiskruste überzogene Wasser des kleinen Waschnapfes zu tauchen, und noch viel grauslicher, durch die immer öden, jetzt im schmutziggrauen Morgenzwielicht noch öderen Straßen zu tappen, so wollte sie wenigstens ganz hier vorne knien und die gemalten großen Flügeltüren des Hochaltars betrachten wie ein Bilderbuch. Die ganze Geschichte von Christus und seiner Mutter Maria war darauf zu sehen; gegen die umstrahlten Gesichter der Heiligen stachen verzerrt-finstere Gestalten doppelt ab. Die Frommen waren alle sehr schön dargestellt, die Bösen sehr scheußlich, doch der kleinen Lotte waren gerade diese sehr interessant: Teufel, Dämonen, aber Menschen waren es auch. Sie sah sie sich sehr genau an und vergaß darüber das Beten. Wohl hielt sie ihr Meßbüchlein vor sich in beiden Händen, aber über die Seiten weg schweiften ihre Blicke. Andacht war nicht in ihrem Innern, obgleich ihr Äußeres danach aussah. Ihr zartes, leicht emporgehobenes Gesicht schimmerte wie eine weiße Blüte aus der dunklen Kapuze, die man ihr, der Morgenkälte wegen, über die Locken gezogen hatte; die kindlichrunde Stirn in ihrer ungetrübten Reinheit leuchtete förmlich durch den trüben Halbdämmer der grauen Kirche.

»Wie ein Engel«, sagten die Stendaler von der jungen Demoiselle Weiß. »Ein Engelsantlitz«, so schwärmte auch der ganz in sein Töchterchen verliebte Papa. Selbst die französische Mamsell, die man sich, wie es jetzt allgemein in guten Häusern Sitte war, wegen eines feinen Französisch hielt, fand, daß ihre Schülerin »une âme candide« sei und »parfaitement jolie«.

Mademoiselle Zéphire war nicht gern nach Stendal gekommen. Sie wäre lieber in Berlin geblieben, aber es gab dort so viele Töchter aus den Familien der Refugiés, die Stellung suchten, daß sie sich genötigt sah, diese hier anzunehmen. Ach, es war ja jetzt so schwer, auf redliche Weise sich etwas zu verdienen! Die langen Schlesischen Kriege, die ganz Europa in Aufruhr gebracht hatten, waren freilich vorüber, auch der noch längere Siebenjährige Krieg, aber vergessen waren sie noch nicht. Man war durch so viele Jahre in Preußen geschröpft worden, gleicherweise durch Freund wie durch Feind, daß kaum einer mehr da war, der Geld hatte. Der Adel nicht, der Bürger nicht, der Bauer nicht; und wenn der König sich nicht zu helfen gewußt und nicht hätte neue Taler prägen lassen durch Veitel Ephraim Söhne am Mühlendamm, Taler, die statt des fehlenden Silbers Kupfer im Leibe hatten und die man doch genau so annehmen mußte, als wären es noch die alten guten ehrlichen Silbertaler, so hätte auch er nicht gewußt, womit all das zahlen, was er zu zahlen hatte. Schulden, Schulden, Schulden.

Mademoiselle Zéphire hörte ihren Brotherrn, den Herrn von Weiß, so viel darüber stöhnen und bitter seufzen, daß man jetzt sein fälliges Gehalt nur in Zettelchen angewiesen bekam, die man sich dann mit mehr oder weniger Verlust eintauschen lassen mußte, daß sie schon ganz zufrieden war, am Ende des Monats ein paar von den neuen Ephraimiten bar in ihre Tasche stecken zu können. Und sie hatte doch auch ihren Unterhalt frei; am Morgen die Mehlsuppe, am Mittag ein Mahl, das nicht gerade sehr reichlich war, aber einem nicht anspruchsvollen Magen doch genügte, und am Abend wieder eine Suppe und Brot à discrétion. Und ein Bett, das zwar schmal war, aber nicht in der Dienstbotenkammer stand, sondern gegenüber dem Bett der Tochter des Hauses an der langen Wand im Schulzimmer. Wenn nur nicht der alle Morgen wiederkehrende Gang zur Messe gewesen wäre! Mademoiselle Zéphire haßte den. Zudem war es so kalt in diesem Stendal, kalt wie auf freiem, aller Wetterunbill preisgegebenen Feld. Und noch kälter in jener alten Kirche. Bis ins Innerste erschauernd, kroch sie ganz in sich zusammen, wenn sie im Hintergrund der Kirche auf kalten Steinfliesen wartete, bis ihre Schutzbefohlene die vorgeschriebene Zeit der Andacht beendet hatte. Sie hustete und nieste: war die Demoiselle denn noch immer nicht mit ihren Gebeten fertig? Ach, das dauerte ja ewig! Aber das gute Kind war so rührend in seiner frommen Versunkenheit, daß sie nicht gewagt hätte, es zu stören.

Zitternd vor Kälte machten sie sich dann endlich auf den Heimweg. Es war inzwischen etwas heller geworden, und es begegneten ihnen die Söhne der besseren Bürger und die der um Stendal ansässigen Besitzer, die in der Klosterschule zur höheren Bildung vorbereitet wurden. Das Fräulein trippelte voran; die französische Mamsell in der vorgeschriebenen respektvollen Entfernung hinterdrein, so sah sie nicht, wie dies eben noch so fromme Gesicht blicken konnte. Es war gar nicht so kindlich mehr. Die schönen Augen der jungen Weiß waren munter, unter den langen Wimpern hervor blitzten sie nach den angehenden Jünglingen. Die waren alle begeistert: Oh, was für zierliche Füßchen hatte die Demoiselle Weiß und was für schöne blonde Locken! Wäre ihr Vater nicht so in ewiger Geldbedrängnis und ginge nicht die Sage, daß Herr von Weiß einstmals, als er noch österreichischer Legationssekretär gewesen war, Aktenstücke ausgeliefert und sich dafür hatte bezahlen lassen von Preußen – er sollte sogar damals Baron gewesen sein, ein Baron von Weingarten –, so hätte man sich kein höheres Zukunftsideal vorstellen können, als einmal diese blonde Fee zum Traualtar zu führen.

Ob Charlotte von Weiß auch schon an dergleichen dachte? Das wußte niemand. Sie ging ins dreizehnte Jahr. Mit fünfzehn Jahren hatte sich ihre ältere Schwester Henriette schon verheiratet, sie aber war jetzt noch Kind, »ganz Kind«, sagte die Mutter und war gerührt, wenn Lotte Fragen stellte, die andere Mädchen in ihrem Alter längst nicht mehr gestellt haben würden. Es war eben der Segen der kleinen Stadt, daß dieses Kind so völlig unberührt war. Und dabei von einem Mutterwitz und einer Schelmerei, die alle entzückten.

»Denken Sie sich«, erzählte Frau von Weiß einer sie besuchenden Freundin, »was für ein Kind meine Lotte ist! Da komme ich gestern in die Bedientenstube, wo auch unsere Hauskatze ihr Lager hat, und da finde ich meine Lotte bei der Katze, die eben Junge bekommen hat. ›Mon Dieu‹, rufe ich entsetzt, ›sieben kleine Katzen, wohin soll man mit denen?!‹ ›Ertränken‹, sagt der Bediente und zuckt die Achseln. Aber als ich ihm gebiete, das zu tun, weigert er sich: ›Nee, gnädige Frau, ich nicht!‹ Ich bin ganz außer mir: wohin mit den Tieren?! Da sagt das gute Kind und lächelt dabei unter Tränen, die ihr unter den langen Wimpern vorquellen: ›Ich werde es tun. Und zwar sofort, ehe sie wissen, daß sie sterben.‹ Und nimmt, ehe ich ihr Einhalt tun kann, die sieben Kätzchen in ihren Schoß und wirft sie alle miteinander in einen Bottich voll Wasser. Mit wahrhaft stoischem Mut und bewunderungswürdiger Selbstbeherrschung. Ich sehe, wie ein Zittern dabei über sie hinläuft. ›Oh, oh, was tust du!‹ rufe ich wahrhaft erschrocken. Da sagt dieses Kind ganz ernsthaft und sieht mich groß dabei an: ›Ich habe ihnen in den Katzenhimmel geholfen, Maman‹, geht und kauert sich bei der alten Katze, die kläglich miaut, nieder und tröstet sie damit, daß ihre Kätzchen nun im Himmel sind, und spricht so zärtlich zu ihr und mit einer so lieben Stimme, daß es selbst mich fast rührt. Sie ist ein merkwürdiges Kind.«

›Ein seltenes Kind‹, das fand auch der Vater. »Mein Töchterchen«, pflegte er zärtlich zu sagen, »was wünscht sich denn mein Töchterchen?«

Aber Charlotte hatte keine Wünsche, sie küßte nur seine Hand: »Mon cher Papa!«

Herr von Weiß empfand dann über diese jeder Berechnung ferne kindliche Liebe eine so große Freude, daß die ihn über alles übrige Mißgeschick seines Lebens tröstete. Er war ein etwas verbitterter Mann: hatte es ihm der König denn nicht viel zu wenig gelohnt, daß er ihn damals von dem geheimen österreichisch-russischen Abkommen etwas wissen ließ, die Akten darüber kopierte und dem preußischen Kabinett zustellte? Bei aller Schwärmerei seiner Frau für ihren großen König, er hätte das nicht tun sollen; abgesehen davon, daß die paar tausend Taler, die er dafür bekommen hatte, dahinschwanden wie Spreu vor dem Winde. Seine Liebe zu ihr, die ihn so schwach gemacht hatte, um an einem Österreich Verrat zu begehen, war auch dahingegangen. Er begriff jetzt nicht mehr, daß er ihr je hatte so nachgeben können; es gab Stunden, in denen er von einem heftigen Widerwillen geplagt war, wenn er an sein schönes Wien dachte, das er hatte verlassen müssen, und seine Stellung dort verglich mit dem kleinen unbedeutenden Amt, das man ihm in Preußen gegeben hatte, noch dazu in einem solch elenden Nest wie Stendal. Er verabscheute diese Stadt, die reizlos in sandiger Ebene liegt, deren zwei Tortürme nur davon Kenntnis geben, daß sie einstmals etwas mehr gewesen war. Der riesige Roland, der, den hageren, knochigen Leib schwer gepanzert, ungefüge vor dem Schwibbogen des alten Rathauses reckt, rief ihm die weichen Leiber der schönen Wienerinnen und die noch schöneren der Marmorfrauen in den kaiserlich-königlichen Gärten zu schmerzlichem Vergleich ins Gedächtnis zurück. Nein, er konnte es nicht vergessen, sein Wien, und er trauerte ihm nach hier in diesem kalten, nüchternen, unliebenswürdigen Land, das so verarmt und ausgesogen war, daß es fast einem Wunder gleichkam, sollte es jetzt wieder anfangen aufzublühen.

Gelegentlich eines Besuches, den die Eltern von Weiß bei ihrer ältesten Tochter in Spandau gemacht hatten, waren sie auch nach Berlin gekommen, und Frau von Weiß, eine geborene Witte aus Charlottenburg, hatte triumphierend ihren Mann umhergeführt. War ihr Berlin nicht herrlich, kam es seinem Wien nicht gleich, war dem vielleicht gar über? Das wollte er freilich nicht zugeben. Die Luft, die Luft dort war eben ganz anders, die gab den Duft, die Lust, die Lebensleichtigkeit und den Genuß. Aber das es sich in Berlin ganz anders leben lassen würde als in Stendal, das gab er ihr unumwunden zu. Und der Wunsch stieg in ihm auf, ja der feste Entschluß, seiner geliebten Jüngsten ein Leben dort zu ermöglichen.

Es war ausgemachte Sache, daß Lotte zur letzten Vollendung ihrer Erziehung nach Spandau zur Schwester gegeben werden sollte. Schwester Jettchen war zehn Jahre älter, war die Frau des Hofrats von Hauke. Jettchen hatte große Fortune gehabt, obgleich sie nicht halb so hübsch war wie Lottchen; man konnte diesem Kind also nichts Besseres antun, als es dorthin zu geben, sowie es einigermaßen den Kinderschuhen entwachsen war. Lotte konnte dann auch ihrer Mutter unverehelichte Schwester, die Tante Christiane Witte in Charlottenburg, besuchen, die dort in recht angenehmen Verhältnissen lebte; hatte doch ein Mann, der sie geliebt, aber nicht um ihre Hand angehalten hatte, weil ihm in der Schlacht bei Leuthen, als er, seinem Fußvolk voran, mit gezogenem Säbel stürmte, beide Beine unterm Leib weggerissen wurden, sie zur Erbin seines nicht unbeträchtlichen Nachlasses eingesetzt. Es würde Lotten ein Leichtes sein, die Liebe der Tante im Sturm zu erobern. Vielleicht daß diese dann Lottchen wiederum zu ihrer Erbin – aber das waren nur ganz geheime Gedanken, von denen das Ehepaar nichts miteinander sprach.

*

Ob Charlotte von dem Plan, sie in einiger Zeit nach Spandau zu geben, etwas wußte? Gesagt war ihr nichts davon worden, aber sie ahnte es; vielleicht hatte sie's auch erhorcht. Sie hatte sehr feine Ohren, und sie hatte ein oft seltsam vorahnendes Empfinden, so daß sich ihr manchesmal Dinge als Tatsachen vorstellten, die in Wirklichkeit noch nicht vorhanden waren.

»Man darf nicht lügen – fi donc«, sagte dann Mademoiselle Zéphire und sah die Schülerin mit ihren hübschen braunen Augen mehr betrübt als strafend an. Dann warf sich Charlotte ihr stürmisch in die Arme und schluchzte heftig an ihrem Halse: »Du mußt nicht denken, daß ich lüge – nein, nein, ich lüge nicht, ich will gar nicht lügen, aber es ist nun einmal so, daß ich das so sagen muß. Dich belügen, du Geliebte, o nein!« Und sie küßte die über solchen Ausbruch ganz Erschrockene mit so viel stürmischer Heftigkeit, daß die arme kleine Zéphire die Augen schloß und sich für selige Momente unter den Küssen ihres Geliebten wähnte, den sie, ach, so lange schon nicht mehr gesehen hatte.

Es war dem Fräulein von Weiß streng verboten, ihre französische Mamsell allzu vertraulich zu behandeln. »Man muß Untergebenen gegenüber immer in einer gewissen Reserve bleiben«, hatte ihr der Vater gesagt, und besonders der Mutter wäre es höchst unliebsam gewesen, hätte sie das schwesterliche Du gehört, das die beiden gebrauchten, wenn sie ganz allein waren. Besonders am Abend. Frau von Weiß hatte die Gewohnheit, wenn Charlotte zu Bette lag, noch einmal das Schulzimmer zu betreten; sie küßte dann ihr Töchterchen flüchtig auf die Stirn und rauschte wieder hinaus. Die Turnüren auf ihren beiden Hüften bauschten sich, der Springrock, dessen Reifen nur bis zum Knie gingen, endigte in einem von starrer Seide steif stehenden Volant. Frau von Weiß war, wenn sie abends in Gesellschaft ging, schon vom Morgen an fest geschnürt, die Jungfer mußte über Tag noch ein paarmal nachziehen. Dann zeigte sich der Ansatz ihres Busens über der vorn tief ausgeschnittenen Taille; aus den am Ellbogen endigenden weiten Manschetten der seidengeblümten Ärmel streckte sich aus der mehrfachen Reihe der Spitzen der volle weiße Arm. Auf der hochgetürmten, gepuderten Frisur wippte eine Rose. Obgleich Frau von Weiß schon mehrfache Großmutter war – die Hofrätin in Spandau beschenkte ihren Gatten alljährlich mit einem Kinde –, war sie noch immer eine sehr schöne Frau. Und sie wußte sich zu kleiden; sie hielt sich das »Magazin des Modes«. Trotzdem schien Herr von Weiß blind geworden für die Reize seiner Gattin, die ihn einst so betört hatten.

Die Weiß gingen oft in Gesellschaft – was sollten sie auch zu Hause? Sie hatten sich nichts zu sagen. Und da es Theater in Stendal nicht gab, Konzerte auch nicht, so war das Zusammenkommen in geselligem Kreise die einzige Abwechslung. Viel Anregung hatte man zwar dadurch auch nicht, aber die Gazetten wurden besprochen, und die Männer politisierten, wobei sie sich oft sehr erregten, denn über die Teilung Polens und über das, was Preußen sich dabei eingesteckt hatte, war man sehr verschiedener Meinung.

Armes Landvolk ohne Webstuhl, ohne Spinnrad, ohne Backofen. Unbestellte Felder, ungedielte Hütten, unterm Kruzifix an der Wand ein Weihwassernapf. Herr von Weiß gehörte zu denen, die über das, was man Polen angetan, indem man es zerstückelte und darüber herfiel, am strengsten urteilten.

»Sssst!« Man sah sich scheu um: »Vorsicht!« Man war Beamter, man hatte zu schweigen, der König hörte alles, der König war überall.

Aber Weiß ließ sich nicht zum Schweigen bringen: »Das ist eines Herrschers nicht würdig, den schon seine Zeit – etwas voreilig, wie mich bedünkt – den ›Großen‹ nennt!« Er war im besten Zuge, noch mehr zu sagen, die Bitterkeit, die in ihm aufquoll, wenn er an die geringe Ablohnung dachte, die er für geleistete Dienste erhalten hatte, übermannte seine Klugheit. Er erhob wiederum seine Stimme: »Es ist vom moralischen Gesichtspunkt aus eine unleugbare Schuld, die« – er stockte, seine Gattin hatte ihn angesehen.

Ihre Augen blitzten: Und sie gab ihrem Manne eine Abfuhr, daß die Herren lächelten.

Sie waren alle dem von Weiß nicht grün. Es war eben so eine Sache mit dem; wenn man auch nicht daran glaubte, was Frau Fama tuschelte, er war eben doch nicht von hier, sondern einer aus Österreich. Herübergeweht – warum, wieso – einem vor die Nase gesetzt in die Stellung eines Kammerrates, die ebenso gut, ja viel besser, jeder Einheimische hätte ausfüllen können. Die Herren waren alle auf Seiten der noch immer schönen Frau, es wäre auch jeder geneigt gewesen, eine kleine Liaison mit ihr anzuknüpfen. Man war zurzeit nicht so engherzig, die Herren und Damen in Berlin genierten sich ja in keiner Weise, so daß man sich's wohl auch gestatten durfte, ein Veilchen zu pflücken, wenn es am Wege stand. Aber die Dame von Weiß war unnahbar; sie war eine Festung, gegen die man Batterien hätte auffahren lassen müssen, wie damals der König bei Prag.

Aber die Damen der höheren Gesellschaft waren ganz anderer Meinung als ihre Männer. Laut hätten sie sich freilich nichts zu sagen getraut, nicht einmal zu ihren Männern im ehelichen Schlafgemach, aber untereinander wechselten sie Blicke: und war es nicht chokant, wie sie ihrem Mann übers Maul fuhr mitten in einer Gesellschaft? Und was dieses Weib für einen Hochmutsteufel hatte, hielt sich das »Magazin des Modes«! Trug sich hier in Stendal so, als käme sie aus Paris! Und man wußte doch, daß die Vermögensverhältnisse der Weiß durchaus keine glänzenden waren – ach, der arme Mann, der mühte sich ab, während sie sich einen Bedienten hielt, eine Jungfer und eine französische Mamsell für ihre Kleine. Was aus der wohl werden konnte bei solcher Erziehung? Alles im Hause nur auf den äußeren Schein gestellt.

»Mein Sohn hat mir erzählt«, flüsterte die Geheime Rätin hinter der vorgehaltenen Hand der Landrätin zu, »daß diese kleine Weiß schon Blicke wirft, denken Sie an, meine Liebe, ein Kind noch und schon Blicke! Es wird nicht lange dauern, und die Amouren fangen an. Es müßte denn sein, daß sie zu klug dazu ist, so klug wie die Mama – sie soll ja sehr klug sein.«

Die, von der die Frau Geheimrätin und auch andere dachten, sie wäre sehr klug, war heute abend gar nicht klug. Kaum daß ihre Mutter nach dem flüchtigen Gutenachtkuß das Zimmer verlassen hatte und man hörte, daß unten die Haustür geschlossen wurde, richtete sie sich auf im Bett. Ihre Augen funkelten neugierig: Ah, da stand ja Zéphire jetzt im Hemde, es war so kurz, ging kaum bis an die Knie. Und was sie für einen hübschen Busen hatte, viel hübscher und voller schon, als der ihre war, und was für schöne weiße Arme! »Komm, komm her zu mir«, rief sie und streckte beide Arme aus.

Mademoiselle Zéphire folgte: ach Gott, es tat wohl, ein bißchen Liebe zu spüren, sie war ja hier so weggesetzt, so vereinsamt. Sie folgte den sie ziehenden Armen und kroch zu Charlotte ins Bett. Eng aneinandergeschmiegt lagen sie.

Als die Eltern schon längst nach Hause gekommen waren, flüsterten sie noch. Zéphire war aufgefahren, als die Schritte der Heimkehrenden auf der Treppe zu hören waren: wenn Madame etwa noch einmal hereinkäme!

Aber Charlotte sagte kalt: »Sie soll nicht kommen. Sie kommt auch nicht, das fühle ich. Bleibe! Du bist weich und warm. Ich liebe nur dich!


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