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Am Vormittag wurde Guatemoc zu Montezuma gerufen. Und als er sich eben in den Saal der Botschaften begeben wollte, warfen sich ihm mehrere seiner Sklaven verzweiflungsvoll vor die Füße.
»Strafe uns, o unser Herr! Wir haben den Tod verdient! ... Der Gefangene, den du uns zu hüten gabst, ist entkommen! ...«
Die Schuld zu untersuchen, die Saumseligen zu strafen, fehlte es dem Prinzen an Zeit. Auch war ihm klar, daß die Hauptschuld der gestrige Befehl Montezumas hatte, in dem durch die Verfinsterung des Palastes und die anbefohlene frühe Nachtruhe die Beaufsichtigung des Gefangenen erschwert worden war.
Mißgestimmt trat der Prinz vor Montezuma, küßte ihm die Füße und die Hände, warf Weihrauchkörner in eine Räucherpfanne, und mit über der Brust gekreuzten Armen erwartete er die Befehle des Herrn der Herren.
Der König schickte sein Gefolge aus dem Saal. Er hatte allein mit dem Herabstoßenden Adler zu reden.
Die plötzliche Abreise des Edlen Traurigen nach Tezcuco erleichterte Montezuma dies vorausgefürchtete Gespräch. Nur noch des einen Widerstand war zu brechen ...
Er erzählte von seinem Besuch im Schlangenberg und vom Baumorakel. Er bat nicht und er befahl nicht, er sagte nur, es sei sein Wunsch, den Sternhimmel am Huitzilopochtli-Turm mit einer Schicht von Edelgestein und Edelmetallen zu überziehen.
»Die Tribute aller Provinzen reichen dazu nicht hin!« sagte der Herabstoßende Adler.
»Die Schatzhäuser des Königs Wassergesicht und des Königs Molch sind unangerührt«, sprach Montezuma mit unstet flackernden Augen.
Erregt antwortete der Herabstoßende Adler:
»Beide Könige, dein Vater wie mein Vater, setzten einen Fluch zum Hüter ihrer Schatzhäuser ein. Und denjenigen wird ihr Fluch vernichten, der die Kleinode der Ahnen antastet, ehe Mexico in Gefahr schwebt!«
»Mexico schwebt in Gefahr ...«, murmelte Montezuma.
»Nein. Noch nicht ... Aber bald naht vielleicht die Zeit, und wenn sie naht, wollen wir mit Gold und Grünsteinen Waffen kaufen, die Juwele in Speere und Wurfbretter, Pfeile und Pfeilspitzen, Schilde und Sägeschwerter verwandeln, um die Gefahr zu bannen.«
»O großer Krieger, du Tapferer«, sagte Montezuma mit verletzender Höflichkeit, »ist das dein Mund, der so spricht? Ein guter Beschützer des Hauses der Tribute bin ich! spricht dein Mund. Dem Hunde gleichst du, der eines Knochens wegen seinem Herrn die Zähne zeigt! Denke ich denn daran, anzutasten, was unantastbar ist ? Doch der Schatz von Tezcuco hat keinen Fluch zum Hüter!«
»Er hat die Ehrlichkeit Mexicos zur Hüterin!« rief der Herabstoßende Adler.
Hart prallten ihre Augen aufeinander. Von maßloser Wut gepackt, schrie Montezuma:
»Bist du die Ehrlichkeit Mexicos? Wirfst du mir Unehrlichkeit vor? ... Hebe dich fort von hier! ... Für deine Würden werde ich Würdigere finden ... Fort! Mir aus den Augen! ... Ich verbanne dich! Und wenn du nicht bis morgen wie ein Vogel entfliegen oder wie eine Schlange in die Erde dich verkriechen kannst, so stirbst du einen bösen Tod! ...«
Ohne zu antworten, entfernte sich Guatemoc aus dem Saal der Botschaften. Und eine Stunde später schritt der Rote Jaguar hinter einer von vier Tlamamas getragenen Prachtsänfte her. Königlich, ein stolzer Verstoßener, ließ sich Guatemoc aus dem Palast hinaustragen, den wieder zu betreten ihm – vielleicht für immer, vielleicht für lange Zeit – verwehrt war.
In Adlerrüstung, mit allen Insignien seines fürstlichen Ranges behängt, begab sich der Herabstoßende Adler nach Chapultepec, von Prinzessin Maisblüte Abschied zu nehmen. Er verwischte seine Spur nicht, er befürchtete keine Verfolgung vor Ablauf der eintägigen, vom König ihm gewährten Frist. Am Gartentor des Lustschlosses entstieg er der Sänfte und schickte die Tlamamas in den Großen Tecpan zurück. Auch den Roten Jaguar schickte er fort und gab ihm den Auftrag, in das Haus des Obsidianarbeiters zu gehen und dort Ohrring-Schlange von seiner Verbannung zu unterrichten.
Von Gartenterrasse zu Gartenterrasse war der Herabstoßende Adler die glanzig polierte dunkelrote Steintreppe emporgestiegen und näherte sich dem obersten Garten, wo die alten moosbewachsenen Zypressen das milchweiße Schlößchen gleich schwarzgrünen Flammen umloderten – als ihm der Gesang der Prinzessin Maisblüte entgegenklang:
Gefüllt mit meinen Worten
Stehn die Blumen aufrecht im Wasser.
Hinweggenommen sind die Tolteken,
Beendet ist das Buch ihrer Herzen –
Nicht länger mag ich hier leben.
Wer wird mich nehmen? Wer wird mit mir gehen?
Ich bin bereit, daß ihr mich nehmen kommt.
Was frisch war – die Düfte und meine Gesänge schwanden mit ihnen.
Gefüllt mit meinen Worten
Stehn die Blumen aufrecht im Wasser ...
Doch statt in die schattige Grotte zu gehen, aus welcher dies Lied herausschallte, ging Guatemoc auf das kleine Ballspielhaus zu. Und durch eine Sklavin ließ er Maisblüte melden, er erwarte sie und wünsche mit ihr Federball zu spielen. Schnell entkleidete er sich, legte den Lederpanzer der Ballspielenden an und band sich die Maske aus dunklem Lavagestein vors Gesicht. Denn so verkleidet gedachte er zu fliehen, nachdem er von der Geliebten Abschied genommen.
Sie kam, das dunkle Haar, zum Schutz gegen die Sonne, mit Feuerreiherblumen bekränzt. Er sagte ihr mit wenigen Worten, was ihn – trotz aller Gefahr – zu ihr getrieben hatte. Und als auch ihr von ihren Frauen Lavamaske und Lederpanzer angelegt worden waren, führte er sie vor das Ballspielhaus auf einen Rasenplatz hinaus, konnten sie doch innerhalb der Mauern zu leicht umstellt werden. Keine Frage richtete Maisblüte an ihn. Klar sah sie den Schmerz seiner Fröhlichkeit. Abschied nehmend, spielte er mit ihr, weil durch das anmutige Spiel ihr die Tränen gehemmt und ihm das Herz mit dem Bilde ihrer silberfüßigen Schönheit angefüllt wurde.
Da plötzlich sauste von der Lagune her ein Pfeil vor ihn in den Rasen. Und ihn aufhebend, fand er ein wie ein Brief gefaltetes Blatt an den Pfeil gebunden. Aus nur drei Worten bestand der auf das Schilfblatt eingeritzte Brief: »Coxtemexi, Montezuma, entflieh!«
Aber der Herabstoßende Adler wollte die Geliebte so jäh nicht verlassen. Er ließ durch Sklavinnen ein flammendes Räucherbecken, als wäre es zum Empfang von erwarteten Gästen, auf den Rasen stellen, und unbekümmert fuhr er fort, mit Maisblüte den Federball zu werfen. Und wieder flog ihm ein Pfeil vor die Füße. Aber ehe er ihn aufheben und lesen konnte, sah er aus den Gebüschen rings die Feuersteinlanzenspitzen der Leibwache Montezumas aufflimmern, sah blitzend in der Abendsonne die haßglühenden Augen Coxtemexis und des Vom-Himmel-Gestiegenen auf sich gerichtet und hörte die heiseren Befehle des Königs: »O meine Söhne, fangt ihn! Weh euch, wenn ihr ihn entkommen laßt!«
Ein leiser Aufschrei der Prinzessin Maisblüte zeigte ihm, daß auch sie ihn für verloren hielt. Er lächelte wie ein Sieger, und vor aller Augen drückte er ihr den Abschiedskuß auf die geschweiften Lippen. Und dann warf er seinen vollen Weihrauchbeutel auf das Räucherbecken.
Als die weiße Rauchwolke sich verzogen hatte, war der Herabstoßende Adler entschwunden.
Die warnenden Pfeile waren von Prinz Ohrring-Schlange geschossen worden.
In das Haus des Obsidianarbeiters hatte der Rote Jaguar nicht zu gehen brauchen, da, gleich nachdem er am Eingang zum Schloßgarten seinen Herrn verließ und zurück nach Tenuchtitlan über den Steindamm eilte, ihm unter den Bootfahrenden auf dem Schilfsee ein Mann aufgefallen war, der seiner Tracht nach niemand anders sein konnte als der Prinz, den zu suchen er Auftrag hatte. Es gelang ihm, sich durch Winken bemerkbar zu machen. Im Schilfröhricht am westlichen Seeufer trafen sie zusammen. Kaum aber hatte Prinz Ohrring-Schlange von der Verbannung des Herabstoßenden Adlers und seinem verwegenen Besuch im Garten der einstigen Verlobten erfahren, da gewahrte er auch schon, wie die Zugänge zum Garten von der Leibwache Montezumas besetzt und wie der König, Coxtemexi und der Vom-Himmel-Gestiegene mit einem Trupp bewaffneter Krieger die Treppen zu den Gartenterrassen emporeilten. Er schoß seine Pfeile ab, obgleich kaum noch zu hoffen war, daß sie den umstellten Freund zeitig genug erreichen würden.
Im Schutze des Rauchqualms war dann der Herabstoßende Adler seinen Verfolgern entsprungen und hatte das Seeufer erreicht. Stumm wurde er von Ohrring-Schlange und dem Roten Jaguar in das bergende Röhricht gezogen. Alle drei bestiegen das bereitliegende Kanoe und ruderten zunächst in das Kanalgewirr der Stadt hinein. Unfern dem Hause des Obsidianarbeiters stiegen die beiden Prinzen aus, da Ohrring-Schlange, der in seinem Schlupfwinkel olmekische, mixtekische, zapotekische und andere völkische Trachten bereitliegen hatte, darauf bestand, sein Freund müsse eine davon wählen und sich der Ballspielrüstung – des Lederpanzers und der Maske – entledigen. Als Versteck kam das Haus des Arbeiters für die beiden Prinzen nicht mehr in Frage, länger zu verweilen oder gar zu übernachten darin, wäre leichtsinnig gewesen, seitdem Coxtemexi in Freiheit war. Aber an eine augenblickliche Gefahr dachten die Prinzen nicht. Auch war, als sie sich näherten, dem unscheinbaren Gebäude keine Veränderung, nichts Gefahrdrohendes anzusehen. Als sie jedoch schon dicht bei der Haustür waren, bemerkte Ohrring-Schlange, daß aus dem Nebenhaus eine der Federarbeiterinnen, die jüngste Schwester der Schwindsüchtigen, herausschaute und sich mit der Hand an die Kehle faßte. Es war das ein zwischen ihr und dem Prinzen verabredetes Zeichen. Ohrring-Schlange ergriff Guatemocs Hand, und ohne daß ein Wort gesprochen worden war, wußte auch dieser, daß das Haus von Häschern Montezumas besetzt war. Sie schritten an der Tür vorbei und bemühten sich, unauffällig durch das Menschengedränge der engen Gasse sich Bahn zu schaffen. Doch sie waren gesehen worden. Aus dem Hause des Obsidianarbeiters stürzten Bewaffnete, denen anbefohlen war, die beiden Feinde des Zornigen Herrn tot oder lebendig zu ergreifen. Die Prinzen nützten ihren Vorsprung aus und entwichen. Die Folge davon war, daß ein Hagel von Geschossen ihnen nachgesandt wurde – der sie zwar nicht traf, unter der ahnungslosen Menge auf der Gasse aber ein Gemetzel anrichtete. Verwundete wälzten sich in ihrem Blut. Der jungen Federarbeiterin, der Schwester der Schwindsüchtigen, waren Brust und Lunge von einem Speer durchbohrt worden. Eine Sterbende, wurde sie ins Haus getragen.
Die beiden Landflüchtigen hatten, den Weg durch Seitengassen nehmend, die Landungsstelle wieder erreicht, wo der Rote Jaguar mit dem Kanoe auf sie wartete. Blitzgeschwind trug sie das Boot durch das Labyrinth der kleinen Vorstadtkanäle hinaus auf die Lagune. Erst ziemlich weit von Tenuchtitlan entfernt, im östlichen Teil des Schilfsees, verstummte der hastige Schlag der Ruder, und geschaukelt von Wind und Wellen, ließen die Ruderer das Boot treiben. Sie berieten nun, was sie tun sollten. Beide Prinzen hegten den Wunsch, in oder doch in der Nähe Mexicos zu bleiben, wo seit dem Anmarsch der weißen Götter große Geschehnisse sich ankündigten. Im Augenblick aber wäre es aussichtslos gewesen, einen Unterschlupf in der Wasserstadt zu suchen. Aber auch in einen der Küstenorte des Sees sich zu wagen, wäre tollkühn gewesen, da Montezuma seine Späher und Häscher in jedem Fischerdorfe hatte. Prinz Ohrring-Schlange schlug einzelne der Laguneninseln vor, doch der Herabstoßende Adler lehnte immer und immer wieder ab und wies auf die Undurchführbarkeit der Vorschläge hin, die eine oder andere Insel mochte für eine Nacht Obdach bieten, doch nicht für längere Zeit, da zu viele Fischer und Krabbenfänger den See befuhren ...
Der Rote Jaguar, der bis dahin geschwiegen hatte, fragte, ob er reden dürfe. Und aufgefordert, gab er den Rat, in einer unterirdischen Grabkammer, die er ausfindig gemacht hatte, Wohnung zu nehmen. Im nordwestlichen Teil des Sees liege verborgen zwischen hohem Röhricht der Eingang zu einem vergessenen – sei es toltekischen, sei es tepanekischen – Totenhaus. Kürzlich erst, bei einer seiner einsamen Bootfahrten, habe er die Grabkammer entdeckt, doch da ihm eine Fackel nicht zur Hand gewesen, habe er in das finstere Gewölbe nicht eindringen können.
Der Vorschlag fand Beifall. Einen Feuerbohrer und ein Bündel Kienfackeln hatte Prinz Ohrring-Schlange vorsorglich ins Boot genommen. Der Rote Jaguar wurde angewiesen, zur Grabkammer zu rudern.
Der Steindamm von Chapultepec verband Tenuchtitlan mit dem Westufer des Sees. Ein anderer Steindamm aber, der von Tepeyacac, führte über den nordwestlichen Teil des Sees in das Gebiet des Königs von Tlacopan – in das an Trümmerhügeln reiche einstige Stammland der tepanekischen Welteroberer Zürnender Aderlasser und Schambinde. Im Norden des Dammes von Tepeyacac war der See verschlammt und verschilft. Der Seeboden hatte sich – wohl infolge vulkanischer Tätigkeit – gehoben, und durch den aus dem Wasserspiegel emporgetauchten Schlamm waren zahllose kleine und kleinste Inseln entstanden, die, von üppiger Vegetation überwuchert, an Aussehen und Größe den schwimmenden Gärten Mexicos glichen, nur daß sie im See verankert blieben. So nahe lagen sie beieinander, daß in den sie trennenden Wasserrinnen oft kaum für ein schmales Kanoe Raum zur Durchfahrt war. Und da es nicht selten geschehen war, daß Boote in die Eilandirrsal hinein, jedoch nicht wieder heraus gefunden hatten, wurde dieser Teil der Lagune von Fischern gemieden. Nur Entenjäger wagten sich zuweilen in das Schlammdickicht und suchten sich eine der tieferen Rinnen, wo sie, bis an den Hals im Wasser stehend, den Kopf mit Schilfblättern verdeckt, nach schwimmenden Wasservögeln mit den Händen griffen. Denn dichter gedrängt als sonstwo auf dem See, flogen und schwammen, tauchten und nisteten, kreischten, piepten, schrillten und zankten sich hier in ihrem Röhrichtparadies die Blauflügelenten, die gelben Baumenten, Rotkappen-Ibisse, Schlangenhalsvögel, blaue Reiher, weiße Sichler, Moorschnepfen, rosa Löffelreiher und Kraniche.
An diesem Abend begegnete das Boot keinem Entenjäger. Es war bereits Abend geworden, als der Rote Jaguar zwischen den mit Kolbenrohr, Schildkrötenblumen und kleinen Dorn-Akazien bewachsenen Inseln hindurchsteuerte. Obgleich er bloß einmal hier gerudert war, entging er dank seinem außergewöhnlichen Ortssinn der Gefahr, sich zu verirren oder festzufahren. Nach einem kurzen Zickzackweg legte er an einer der größeren Inseln an.
»Hier ist der Eingang«, sagte er.
Aber erst nachdem er an Land gestiegen und vor den Eingang getreten war, erkannten seine zwei Begleiter, daß – gänzlich überwachsen von Schilf, Schlingpflanzen und Farnkräutern – sich ein aus Quadern errichtetes Mauerwerk kaum fußhoch aus dem Inselboden erhob. Ein gestufter Schacht führte hinab in das Subterraneum.
Da ein Lichtschein vom Seeufer aus gesehen werden konnte, beschlossen die Prinzen, (die Fackeln erst unter der Erde zu entzünden. Sie und der Sklave tasteten sich die enge, stockfinstere, kellerfeuchte Treppe hinab und waren bald von schwarzer Nacht umfangen. Ein eisiger Modergeruch legte sich schwer auf ihre Sinne. Etwas huschte an ihnen vorbei – ein Marder war es oder ein Katzenfrett –, sie konnten es nicht erkennen: von Wand zu Wand sprang es dem Ausgang zu. Endlos lang schien der Schacht zu sein. Eine Wolke von Fledermäusen flüchtete an ihnen vorbei ins Freie. An den moosbewachsenen Wänden tastend, deren rieselnde Feuchtigkeit zuerst sich schleimig angefaßt hatte, fiel es den Hinabsteigenden auf, daß allmählich die Feuchtigkeit schwand und einer erddunstigen, staubtrockenen Kälte wich, je weiter sie vordrangen. Der giftige Moderstaub zerbeizte die Augen, setzte sich in Lungen und Kehle fest, reizte zum Husten. Statt sich an die Finsternis zu gewöhnen, wurden die Augen wie verdeckt von einem Tränenschleier. Und als das Ziel erreicht war, als die drei ebenen Boden unter ihren Füßen fühlten, waren ihre Augen so getrübt und der durch die Schachtöffnung einfallende Lichtschimmer so schwach, daß sie einander nicht sehen und von der Kammer, in der sie sich befanden, nichts erkennen konnten.
Der Herabstoßende Adler griff mit den Händen in die graue Dunkelheit hinein und erfaßte einen Mantel.
»Ohrring-Schlange? Bist du es?« fragte er leise.
»Nein!« ertönte die Antwort aus einer anderen Ecke der Totenkammer.
»Auch ich bin es nicht«, murmelte der Rote Jaguar.
Und auch seine Stimme klang entfernt.
»Hier steht ein Mann neben mir!« flüsterte der Herabstossende Adler.
Unheimlich wurde es ihm. Er ließ den Mantel fahren. Weiter tastete er sich vor.
»Auch hier steht ein Mensch ... Und hier steht ein dritter ...«
Ohrring-Schlange und der Sklave rieben Feuer an.
Als ein FIämmchen, aus dem Holzmehl aufzüngelnd, das Kienfackelbündel zu belecken begann, lief ein tänzelnder rötlichblasser Lichtschein in waagerechter Richtung nach den entferntesten Winkeln des schmalen, langen und niedrigen Raumes und bevölkerte ihn. Da saßen und standen einige fünfzig Gestalten. Ob es Geister waren oder Menschen – Feinde vielleicht –, ließ das eben geborene Flatterlicht nicht gleich erkennen. In lasser, müder Haltung, den Kopf auf die Brust gesenkt oder zur Decke emporgerichtet, schienen sie regungslos in Träumereien versunken vor sich hin zu blicken und schenkten den Eindringlingen keine Beachtung. Erst nachdem die Fackeln hell aufgeflammt waren, verdrängte das sieghafte Licht die staubgraue Kellerdüsternis, belichtete die Wirkereien, Kleinodien, Gliedmassen und Gesichter der hier Versammelten und zeigte, daß sie Mumien waren. Erst jetzt konnte man sehen, wie grausig und zugleich grotesk die große Schar dieser schweigenden Gestalten war, die seit Jahrhunderten in der Grabkammer den kommenden Jahrtausenden entgegenharrten. Denn es waren Gekrönte des unter Schutt und Trümmern versunkenen Tepanekenreiches, die Kaiser Schambinde, Zürnender Aderlasser und ihre Vorgänger, nebst prinzlichen Brüdern und Schwestern, Neffen und Nichten, die hier in altertümlichem Fürstenornat teils thronend saßen, teils angelehnt an die beiden Längswände der Katakombe in schier endloser Reihe – gerade aufrecht die einen, schief und fallend die anderen – einander gegenüberstanden. An ihrem Fleisch, ihrem Haar und ihrer Haut hatte keinerlei Verwesung genagt, die unterirdische Luft hatte sie gedörrt, aber die Haut ihrer Hände und Köpfe wies Risse auf wie überaltes und trockenes, von der Zeit gebeiztes Leder. Eingesunken waren die Augen und Nasen. Weit geöffnet waren die Münder mit vorbleckenden gebräunten Zähnen – alle fünfzig Mumien hatten die ledrigen verschrumpften Lippen aufgerissen, und das gab ihnen das Aussehen, als sängen sie gemeinsam ein Lied. Manche schienen stille Sänger zu sein, andere gebärdeten sich, als brüllten sie aus Leibeskräften. Eine Frau, die ihrem Schmuck nach eine Kaiserin gewesen sein mochte, sang und hielt schalkhaft ihr schweres Haupt zur Seite geneigt, ihr rotbraunes Haar aber und ihr Kopfputz waren zerzaust und überdeckt mit dem Kot von Fledermäusen, die auf ihr genistet hatten. Einem der Thronenden war der Halswirbel gebrochen und die Halshaut gerissen, sein Kopf war ihm auf den Schoß gefallen und lag grinsend und singend zwischen den starr ausgestreckten Armen.
Die drei Lebenden unter den Toten hatten keinen Sinn für die grauenhafte Komik dieser fürstlichen Versammlung, und sie übersahen, daß hier der Tod seiner Erhabenheit entkleidet war. Nicht daß die Nähe des Todes sie lähmen konnte, aber ihre Seelen schwebten lange Zeit in haltloser Verwirrung, wie scheue an Käfiggitter sich schlagende Vögel, infolge des ebenso unerwarteten wie ungewohnten Anblicks. Schrieb doch der aztekische Gräberkult vor, daß Könige und Prinzen – sofern man sie nicht auf Scheitern verbrannte – in Grabkammern einzeln beigesetzt, mit weißen Totengewändern und einer Gesichtsmaske verdeckt und dann eingemauert werden mußten. Es war dem Herabstoßenden Adler und Ohrring-Schlange unbekannt, daß frühere Völker andere Bestattungsgebräuche gehabt hatten. Und sie vermochten sich dies erstarrte Leben, die Festbannung, die Unwandelbarkeit des sonst ewig sich wandelnden Lebens nicht zu erklären. Warum die Toten hier versammelt waren, in solcher Anzahl und die meisten aufrecht stehend, war ihnen ebenso rätselhaft wie ihre verhältnismäßige Unversehrtheit durch die Zeit. Daß dies Wunder durch vulkanische Gase bewirkt war, die, aus der Seetiefe an der Insel emporsteigend, die Leichen vor Verwesung bewahrten, blieb selbst dem weißen Sklaven dunkel.
Da Ohrring-Schlange und der Herabstoßende Adler lange kein Wort fanden und stumm umherzublicken fortfuhren, wagte es der Rote Jaguar als erster, das lastende Schweigen zu brechen. Er bemerkte:
»Der letzte der Toten – dort am Ende der Kammer – ist kein Toter!«
Wunderbar war die Wirkung auf die beiden Prinzen. Sie hatten bereits sich an die Nähe der Leichen zu gewöhnen begonnen. Aber die Vermutung, ein Lebender leiste diesen fünfzig Toten Gesellschaft, war furchtbarer als die erste Schau beim Entzünden der Fackel. Das schon besänftigte Grausen wurde von Grund auf wieder emporgewühlt. Pfeilschnell flogen die Blicke den Saal entlang. Aber dann schüttelte Guatemoc abweisend den Kopf.
»Warum glaubst du das?« fragte er den Sklaven.
»O edler Herr, er hat sich bewegt!«
»Das Licht bewegt sich ... Die alle dort haben geschlossene Augen!«
»O edler Herr, blind ist jener letzte – doch er lebt!«
Guatemoc entriß dem Sklaven die Fackel und schritt durch die Gasse, die aus den zwei Reihen vertrockneter Leiber gebildet war. Ohrring-Schlange und der Rote Jaguar folgten ihm dicht auf den Fersen. Am anderen Ende der langen Grabkammer befand sich an der Schmalseite eine Tür – offen, in einen lichtlosen, tiefschwarzen Raum hinausgähnend – und neben der Tür stand ein Knabe. Mochte er eine Mumie, mochte er ein Mensch sein – seine Augen waren geschlossen, und in den Händen hielt er eine kleine grasgrüne Papageienmumie mit einem Halsband aus roten Karneolperlen und einer kurzen dünnen Goldkette, die an der linken Klaue befestigt war. Diese Goldkette war gerissen, und ihr größerer Teil befand sich in den schmalen schokoladenbraunen Kinderhänden einer etwa siebenjährigen Prinzessin, unweit, neben dem Thron jenes Königs stand sie, welcher seinen Kopf auf dem Schoß liegen hatte. Augenscheinlich war dem Mädchen ihr Lieblingsvogel mit ins Grab gegeben worden, und der Knabe hatte der kleinen Prinzessin den Papagei entwendet.
Es war keine Mumie. Er wandte den Kopf, als der Herabstoßende Adler mit der grellen Fackel näher kam – die geschlossenen Augen spürten das Licht, öffneten sich jedoch nicht. Blind war der Knabe. Furchtlos ging er Guatemoc entgegen und faßte ihn an der Hand.
»Komm!« sagte er, »ich werde dich führen!«
Und das Wunderbare geschah, daß Guatemoc, gelähmt in seinem Willen und jeder Widerstandskraft bar, sich vom blinden Knaben führen ließ. Hätte der Knabe ihn in einen Hinterhalt, in einen Abgrund locken wollen, der kluge, vorsichtige Krieger wäre ihm in diesem Augenblick, den inneren Warnerstimmen zum Trotz, dennoch gefolgt.
Sie durchschritten die Tür und traten in den nachtschwarzen Raum. Der Lichtschimmer der Fackel verscheuchte alsbald die Finsternis, welche flatternd durch Decke, Fußboden und Wände auseinanderstob, als wäre sie ein Volk schwarzer Vögel. Geräumig war die Kammer, in der sie sich befanden, ärmlich, doch wohnlich eingerichtet. Binsenmatten deckten den Fußboden, Gewebe hingen an den Wänden. Auf Stühlen saßen zwei Menschen, ein Greis und ein Jüngling. Guatemoc erkannte den Spinner und erriet, daß der Alte jener Zauberer Zacatzin sein müsse, von dem jedermann in Tenuchtitlan wußte, daß er wie eine Schlange in die Erde geschlüpft oder wie ein Falke in die Luft geflogen war, als Montezuma sein armseliges Haus dem Erdboden hatte gleichmachen lassen.
»Wir haben euch lange erwartet!« begann Zacatzin seine Begrüßungsrede. Doch weiter zu reden, wurde er gehindert durch den Ungestüm des Prinzen Ohrring-Schlange. Mit einem Aufschrei stürzte der Prinz auf ihn zu, beugte sich über seine Hände, küßte die Greisenhände.
»O du Alter!« rief er glückstrahlend. »Du bist der Alte Wickelbär, der treue Diener des Herrn des Fastens! Der einzige bist du unter den Lebenden, der des sterbenden Königs letzte Reden vernommen hat!« Und so war es. Von den beiden Greisen, die in den Gärten Tezcotzincos den henkranken Herrn des Fastens auf dem Sterbebette gepflegt und, seinem Wunsche gemäß, lange Zeit sein Hinscheiden dem Volk Tezcucos verheimlicht hatten, war der eine bald hernach dem großen König ins Land der Sonne gefolgt. Der andere aber, Cuetlachhuehue, der Alte Wickelbär, war nach Tenuchtitlan übergesiedelt, woselbst er sich Zacatzin nannte und das Zaubergewerbe betrieb, welches ihn in den Stand setzen konnte, durch den Verkehr mit arm und reich Einblick zu gewinnen in mancherlei verborgene Gespinste des Hofes von Mexico.
»So wahr der Himmel und die Erde leben! Würde der König und Große Chichimecatl, mein Vater (wie heute noch das Volk Tezcucos erwartet), plötzlich wiederkehren von den Toten, plötzlich vor mir stehen – meine kupfernen Armringe könnten nicht freudiger klirren, als sie es jetzt tun!« rief Ohrring-Schlange überschwenglich.
Da erhob sich der Alte Wickelbär hoheitsvoll und sprach:
»O mein Herr, o du strahlender Quetzalvogel! Gehört habe ich mit Tränen, vernommen habe ich mit Rührung den Aufschrei deines Herzens. Der Herr des Fastens kehrt nie mehr zurück auf die blaue Erdscheibe, denn fortgezogen ist er in das Speerhaus des Himmels, in den Palast seines Vaters, der Sonne, wo alle ein Dasein der Freude, Zufriedenheit und Glückseligkeit führen. Doch mag sein Leib auch tot sein – sein Wille lebt noch und wird fortleben. Obgleich ich unwürdig bin, hat der Große Chichimecatl mir seinen Willen anvertraut, damit ich als treuer Diener ihn hüte und verwahre. Ich habe ihn gehütet wie eine kostbare Standarte und ihn verwahrt wie einen mit Perlen geschmückten Knochen. Nunmehr ist die Zeit nahe, daß ich dir des Toten Willen übergeben kann. Dann sollst du fortan sein Hüter und Verwalter sein, du edler Krieger, du Junger! Das Volk Tezcucos aber wird sich in dein Sternbild stellen!«
So sprach der Greis, kniete nieder und küßte des Jünglings Hände und Füße.