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Da die dauernde Unfähigkeit, Tlascala zu bezwingen oder auszuhungern, den Kaufherren Tenuchtitlans allgemach zum Ärgernis wurde und auch zu befürchten stand, es könnten daraus die geknechteten Provinzen und Vasallenstaaten einen Machtniedergang des Aztekenreiches folgern, beschloß der Drei-Städte-Bund, aus der Untugend eine Tugend zu machen. Der Rat der Alten in Tenuchtitlan verkündete – sich selbst ungescheut widersprechend –: nicht die Zertrümmerung Tlascalas sei beabsichtigt, und der Krieg an der Großen Mauer habe kein anderes Ziel als: in den heimischen Tempeln jederzeit Opfersklaven bereit zu haben, um mit deren Blut die Erde Mexicos zu begatten. Dieser Auslegung mehr Gewicht zu geben, wurde Texcucos König, der damals eben erst gekrönte Herr des Fastens, veranlaßt, Gesetze und Regeln zu ersinnen für ein ritterliches Mörderspiel, welches hinfort der Blumenkrieg oder Rosenkrieg heißen sollte. Sei es nun, daß der Herr des Fastens das Ansinnen Mexicos abzulehnen außerstande war, sei es, daß er hochsinnig erhoffte, das Blutvergießen durch strenge Satzungen eindämmen zu können – kurz, zu seines eigenen Landes Schaden (wie er später, allzu spät, erkennen mußte) deckte er mit seiner Rechtlichkeit jene Erfindung mexikanischer Abgefeimtheit. Er war es, der die periodische Wiederkehr des Blumenkrieges anordnete und auch die Stätte des Kampfspiels – das Tal zwischen dem Adlerberg und dem Jaguarberg, zwei Ausläufern des Popocatepetl – bestimmte, wo die Tlascalteken zu gleicher Anzahl mit den Azteken und ihren Bundesgenossen zu fechten hatten.

Den Tlascalteken konnte es gleich sein, ob die Schlachterei Krieg oder Blumenkrieg genannt wurde. Ein Spiel war ihnen die Beschirmung der Landesgrenzen nicht. Ihr Haß aber wuchs ins Ungemessene. Während der ersten fünf Tage jeden Monats erscholl die Teponaztli-Trommel in jenem Tal, und es wurden Blumen gepflückt für die Altäre. Erst vor wenigen Jahren hatte eine Hungersnot Anahuac heimgesucht, – daher waren jetzt die Götter mehr als ehedem hungrig.

Der Rosenkrieg wurde in Mexico als eine Schule des Mutes angesehen. Besonders der Kriegsadel legte Wert darauf, daß seine Söhne am Kampfspiel teilnahmen, wo sie sich zu wehren oder zu sterben lernten. Wer einem Tlascalteken gegenüber gestanden und dennoch dem Tode entronnen, galt für gefeit und hatte die Waffen anderer Völker nicht mehr zu scheuen.

Indessen war solche Lemzeit in der Regel kurz bemessen. Die Azteken schonten ihre Mannschaften und liebten es, ihre Siege mit dem Fleisch und den Knochen der Vasallenvölker zu erkaufen.

Mehr als fünfzig Jahre schon hatte der Blumenkrieg gewährt, König Molch, der Tempelerbauer, war der Kopfwunde erlegen, die er sich bei der großen Wasserflut zugezogen, und Montezuma saß seit einem Jahrzehnt bereits auf dem von Adlerdaunen überdachten Thronsessel. Da beschloß auch er, der Herr der Welt, seinen Lieblingssohn, den Menschen-Fänger, in den Rosenkrieg zu senden. Er verlieh dem kaum Erwachsenen den hohen Rang eines Vorstehers des Hauses der Spiegelschlange, umgab ihn mit einer hochgemuten Leibwache, aus den Tapfersten der Tapfern gewählt, und überreichte ihm beim Abschied die Schlachtrüstung seines Vorfahren, des Königs Wassergesicht –: einen schwarzgoldenen, als Standarte dienenden Wappenschild mit einem Löffelreiher aus Edelsteinen, einen Goldplatten-Panzer, überdeckt mit einer Menschenhaut (der Kleidung Xipes, Unseres Herrn des Geschundenen) und mit einem grasgrünen Mädchen-Röckchen versehen, sowie ein breites Sägeschwert, schwarz lackiert und mit zwei Reihen äußerst langer Obsidian-Schneiden.

Der Jubel, der den beim Volke beliebten, jugendschönen Prinzen bis vor die Tore der Hauptstadt begleitete, kam dem Jubel seines eigenen Herzens gleich. Als er spätabends in der Nähe der Großen Mauer gelangt war, sagte er zu seinen dort versammelten Kampfgenossen: »Morgen ist mein Tag!«


Und das Morgen kam, und das Rosenspiel begann. Wunder der Tapferkeit vollbrachte der Königssohn, streckte zwanzig Gegner nieder. Da erblickte er – selbst schon ermattet – einen Teil der Seinen in Bedrängnis. Er warf sich den Zurückflutenden nicht entgegen, zwang sie nicht zur Umkehr – fast allein trug er die goldene Standarte ins Herz der tlascaltekischen Reihen, und wie vor einem Gotte wichen die Feinde entsetzt vor ihm. Da traf ihn der Keulenschlag des furchtbaren Otomi-Kriegers, des Irdenen Kruges.

Kaum lag er blutend am Boden, war er auch schon unentrinnbar umschlossen, umwirbelt, umwimmelt. »Wie ein Wurm von Fliegen«, schrieb später ein Azteke. Der Prinz lächelte verächtlich, als er das Gewimmel sah, das eine rätselhafte Scheu noch in Abstand hielt, und er sprach zu seinen Bedrängern: »Nun ist geschehen, was mir bestimmt war. Ich habe mich ergötzt mit euch eine kurze Weile. Tut jetzt mit mir, was euch beliebt!«


Die Nachricht vom Tode seines Lieblingssohnes war für Montezuma um so erschütternder, als seine Selbstsicherheit damals schon ins Wanken geraten war infolge der ersten bösen Vorzeichen des drohenden Weltumschwungs. Der Schilfsee war rings um Tenuchtitlan siedend aufgeschäumt, das Fest des Jubels, Unsere-Jahre-umgürtensich, war durch den Brand in den Türmen des Großen Tempels zum Schreckensfest geworden, am Himmel schritt ein Komet seine Bahn in blauem Geloder, und schon ließ sich zuweilen nachts die grausige Frauenstimme vernehmen, die stöhnend klagte: »Weh, meine Töchter! Weh, meine Söhne! Die Stunde des Verderbens naht! ...«

Zuerst zwar brachte es der König über sein Herz, das Leid niederzuzwingen, und zu den wenigen dem Gemetzel Entronnenen, die die Trauerkunde überbrachten, sagte er in schön gesetzter Rede, während Tränen seinen Blick verglasten: zu preisen sei das Los des Prinzen, der nicht bei Mädchen und Schmausen, inmitten irdischer Sünden, umgekommen – sondern mannhaft »einen süßen, blumenhaften Tod gestorben, auf blumigem Feld, in blumiger Schlacht«. Auch bewirtete er sie im Palaste, setzte ihnen Kakao, Rosen und Wohlgerüche vor und ließ jedem einzelnen durch den Vorsteher des Hauses der Teppiche einen kostbaren Mantel überreichen.

Dann aber überwältigte ihn der maßlose Schmerz. Er schloß sich ab und weilte Tag für Tag im schwarz verhängten Haus der Trauer, kniend, betend und den zerpeinten Blick in den durchscheinenden Kristallschädel bohrend, als ließe sich dem geisterhaft klaren Mineral die Antwort entreißen auf das unerforschliche Warum. Er haderte mit den Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen. Sie hatten sich seine Menschenhekatomben gefallen lassen, die Hungrigen. Nie hatte er sie vernachlässigt, nie gekränkt. Dennoch nahmen sie ihm seine schimmernde Quetzal-Feder ... Warum ? ...

Dort im Haus der Trauer reifte sein Entschluß, für den Tod des Prinzen eine unerhörte Rachetat zu vollführen. Und als er, nach Wochen, sich den Staatsgeschäften wieder zu widmen begann, verkündete er dem Weiblichen Zwilling und dem Rat der Alten: der Blumenkrieg sei zu Ende, um dessen willen der Himmel Tlascalas Zerstörung gefristet habe. Wie von einem Orkan solle es nunmehr fortgefegt werden, so daß selbst sein Name ausgewischt sei künftig aus dem Gedächtnis der Völker.

Die übermenschlichen Anstrengungen, die dieser Befehl im Gefolge hatte, fruchteten nichts. Die Heerscharen von zehn verbündeten Staaten, mit den aztekischen vereint, griffen – gleichzeitig und von allen Windrichtungen her – das kleine Land an, stürmten die Mauer in ihrer ganzen Ausdehnung, ohne indes eine Bresche zu schlagen. Heldenmut erwirkte nicht mehr als Hinterlist. Die Otomis nahmen der Mexikaner Bestechungsgeschenke – Gold, Kakao und Salz – gern entgegen und fochten um so erbitterter für das Reich der Freiheit. Das Ansinnen, den Mörder des Königssohnes, den Irdenen Krug, auszuliefern, wiesen sie mit Gelächter zurück. Die zehn Heerscharen mußten schmachbedeckt wieder abziehen. Bloß dreitausend Kriegsgefangene konnten dem Wunderbaren Huitzilopochtli dargebracht werden: eine geringe Anzahl, ein klägliches Ergebnis.


Erst vier Jahre später gab ein Zufall Montezuma die Möglichkeit in die Hand, Rache für seinen Sohn zu nehmen. Aber als dieser heißeste Wunsch sich rundete, Gestalt gewann, sich erfüllte, hatte längst die Sehnsucht den Stachel verloren. Teilnahmslos ließ Montezuma die Rache wie Sand seinen müden Fingern entgleiten.

Nämlich die südwestlich von Tlascala gelegenen Nachbarstaaten Cholula und Huexotzinco bemühten sich, neuerdings ins mexikanische Netz verstrickt, durch Liebedienerei die Erinnerung an frühere Freiheitskämpfe auszulöschen. Cholula hatte in seiner gleichnamigen Hauptstadt, der Stadt der Priesterkönige und der großen Pyramide, dermaleinst den weißen Gott, den Kreuzträger Quetzalcoatl, beherbergt – nachdem er in Tulas Meermuschel-Burg sein Antlitz im gekrümmten Spiegel erblickt und vom Trank des Zauberers – welcher sich am Spinnfaden vom Himmel herabgelassen – berauscht, seine eigene Schwester geschändet hatte und fortgezogen war, von den Singvögeln der Gärten Tulas begleitet, das Land Tlillan-Tlapallan zu suchen. Ein gefangener König und Gott, hatte er in Cholula gelebt, sein Gesicht hinter der mit Türkisen inkrustierten Schädelmaske verbergend. Seitdem war Cholula mit seinen hehren Altertümern das Ziel ungezählter Wallfahrer alljährlich. Der nie versiegende Fluß von Reichtum, den die Pilger in die heilige Stadt geleitet hatten, verdarb und verweichlichte allgemach die einst kriegerischen Einwohner. Jetzt galt Cholula nur noch als eine Heimstätte der Fremden, der Krämer und der Freudenmädchen.

Anders Huexotzinco. Denn dieses hatte keine altehrwürdige, dem Wohlstand fördersame Vergangenheit. Wenn es hie und da Pilger anlockte, so geschah das allenfalls des großen Freudenhauses wegen, welches dem berühmten von Tlatelolco den Rang ablief. Und auf Tlatelolco, den Lustort Tenuchtitlans, waren die Augen aller seiner vermögenden Jünglinge und begüterten Greise gerichtet. An Verderbtheit kam keine Stadt Huexotzinco gleich. Und morsch wie seine Moral war seine Politik. Ein in die Straßenmenge geschleudertes Wort genügte, das unstete Volk zu jeder Wahnsinnstat aufzustacheln. Unterjocht durch Mexico, dessen blindlings nachäffender Bewunderer zu sein es in Lebenshaltung, Schmuckbedürfnis und Sittenverderbnis bemüht war, gab das Volk doch immer und immer wieder dem Zwingherrn Anlaß, an die Wucht der aztekischen Waffen zu erinnern: kürzlich erst, beim Jubelfest Unsere-Jahre-umgürten-sich, war es ja ein Kriegsgefangener aus Huexotzinco gewesen, welcher als Sklave-des-Feuers auf dem Hügel Iztapalapans, während die Plejaden den Meridian durchschritten, dem Türkisherrn dargebracht und in dessen edelsteinberaubter Brust das neue Feuer durch das männliche und weibliche Stäbchen errieben worden war.

Das Verhalten Huexotzincos seinem Lehnsherrn gegenüber mochte unklug sein, vielleicht auch entschuldbar, schlimmer war sein Benehmen gegen seinen Bundesgenossen und altbewährten Freund Tlascala.

Noch zu Beginn des Rosenkrieges hatten sie Seite an Seite den Azteken manches Treffen geliefert, wie ja auch der Gesetzgeber des Kampfspiels, der Herr des Fastens, ihnen gemeinsam Schranken auf der Gegenseite Mexicos zugewiesen hatte. Als aber des Spieles heiteres Antlitz sich verdüsterte, war auf Huexotzinco kein Verlaß mehr: es focht heute hier, morgen dort. Nach dem Tode des Königssohnes mischte es sich unter die Heerscharen, die sich heranwälzten, Tlascala fortzufegen wie ein Orkan, so daß selbst sein Name ausgewischt sei aus dem Gedächtnis der Völker.

Die Heerscharen zogen ab, jedoch Huexotzinco wie ebenfalls Cholula blieben, blieben ungeschützt und allein, nicht fern der Mauer, – sie waren ja Nachbarn und sogar Bundesgenossen, alte Freunde trotz allem, und hatten wohl Tlascalas Rache zu gewärtigen. Freilich war Tlascala augenblicklich erschöpft und mußte erst wieder zu Atem kommen. Dem vorzubeugen, schien ein Gebot der Klugheit.

Der Anstifter des neuen Überfalls war Cholula. Wie die großen Handelsherren Tlatelolcps hatten auch die Kaufleute Cholulas von jeher scheel dem Aufschwung Tlascalas zugeschaut, und die letzthin bewirkte Vernichtung seines Handels schien ihnen eine geringe Genüge: der Baum war gefällt, doch die Wurzel lebte noch und konnte neue Schößlinge treiben. Im Hohen Rat wiederholten Vertreter der Kaufmannschaft unentwegt die Forderung, der Rival müsse vom Erdboden verschwinden, und die beiden Priesterkönige widersetzten sich ihren Gründen um so weniger, als ihnen jedwede Tücke gegen den früheren Bundesgenossen Lohn und Gunst von sehen Montezumas einbringen konnte. Das Volk der heiligen Stadt, das in der Vergangenheit lebte, wäre leicht zu entflammen gewesen durch den Hinweis auf einst besessene, an Tlascala verlorengegangene Gebietsteile. Lodernde Begeisterung jedoch hätte nimmer hingereicht, ein sieghaftes Heer zu schaffen aus diesem Volk von Krämern und Priesterknechten, das seit Jahrhunderten dem Kriegshandwerk entwöhnt war. Darum wandte man sich an Huexotzinco, und mit gutem Erfolg, da dies Land die gleichen Gründe hatte, um das Wohlwollen des Weltherrn zu buhlen.

Der Angriff der Heerscharen war, wenn auch vergeblich, ein Keulenschlag gewesen, der nun folgende Kleinkrieg bestand aus einer Reihe von Nadelstichen. Tlascala nahm die Feindschaft Huexotzincos nicht ernst. Scharmützel wurden geliefert, nicht Schlachten. Es schien genügend zu sein, den überheblichen Zwerg abzuwehren wie eine lästige Wespe. Die Otomis lachten herzhaft, wenn der Gegner verstohlen und mordgewillt auftauchte, und sie hielten es oft genug der Mühe nicht wert, nach dem Speerbündel zu greifen. Die Lässigkeit wurde zur Fahrlässigkeit. So konnte es geschehen, daß die Mißachtung des Feindes die Otomis zu Tollkühnheiten verleitete. Ein Trupp von ihnen geriet in einen Hinterhalt auf morastigem Boden und wurde bis auf einen Mann niedergemacht. Dieser eine Mann war der Irdene Krug. Er stak bis an die Brust im Sumpf, so daß er die Arme nicht mehr frei hatte. Der Anführer der Leute von Huexotzinco, ein Mann namens Tlachpanquizqui, der Tempel-Feger, nahm ihn gefangen.


Der Irdene Krug wurde vom Tempel-Feger in einen Holzkäfig gesperrt, den er indes sofort zersplitterte, wie auch bald darauf einen zweiten. Erst ein neuerbauter dritter Käfig aus Zedernholz war stark genug, dies wilde Tier zu bergen. Einige Wochen lang, bis seine Wunden geheilt, wurde er gemästet und verhältnismäßig gut behandelt, denn es war erwünscht, daß dieser Götterleckerbissen wohlgenährt und kraftstrotzend, die Lippen von einem Lächeln umkräuselt, die Gelassenheit zur Schau trage, welche bei todgeweihten Kriegssklaven so sehr geschätzt wurde.

Sein Besitzer, der Tempel-Feger, setzte hohe Hoffnungen auf ihn, da er sich eben damals in schwerer Bedrängnis befand, aus der nur ein unwahrscheinliches Glück ihn befreien konnte. Das Gewölk hatte sich über seinem Haupte zusammengezogen, während er, von Huexotzinco abwesend, den furchtbaren Otomi in den Sumpf gelockt und dank dieser Heldentat auf der höchsten Sprosse des Ruhmes zu stehen glaubte. Als er mitsamt dem Käfig in seine Heimatstadt als Triumphator zurückgekehrt war, mußte er die Erfahrung machen, daß Ruhm kein Schild ist gegen Schmach und Tod. Beim Hohen Rat von Huexotzinco war er in seiner Abwesenheit verklagt worden wegen mehrfachen Ehebruchs. Die Stadt war darob in zwei Lager gespalten. Verwandtschaft und Anhang der beschimpften hochadligen Geschlechter heischten die unbarmherzige Strenge des Verfahrens ohne Rücksicht auf die Person. In alten Gesetzesbüchern waren fleischliche Verfehlungen mit dem Tode bedroht. Zwar waren diese Gesetzesbücher seit langem nicht mehr aufgeschlagen worden. Aber das sittenloseste aller Stadtvölker hatte sich urplötzlich auf seine Sittsamkeit besonnen.

Der Tempel-Feger gehörte selbst einem Adelsgeschlecht an und war nicht ohne Anhang. Seinem Krieger-Rang, seinem Reichtum und seiner in den philosophischen Akademien Tezcucos erworbenen Geistesbildung verdankte er die überragende Stellung, die man ihm bisher zugebilligt hatte, in und außerhalb Huexotzincos. Denn seit er, als Jüngling, in den Gerichtssälen Tenuchtitlans sich die Redekunst angeeignet, hatte er mancherlei Fäden zu den Hochmögenden der Weltstadt gesponnen und war dort ein oft und gern gesehener Gast. Nichts vom Provinzialen haftete diesem weltgewandten Epikuräer an. Die ersten Geister Mexicos, Philosophen, Historiker und Dichter, durfte er zu seinen Freunden zählen. Er war schön. In Gesichtsausdruck, Haltung und Gebärde glich er Montezuma so auffällig, daß es allgemein Staunen erregte. Nicht ungern hörte er das erwähnen. Und seufzend pflegte er darüber zu klagen, daß ein ungütiges Los ihn fern vom Mittelpunkt der Welt zu leben zwang.

Doch die Fesseln, die ihn an die Stadt seiner Geburt banden, hatte er nicht zu lockern vermocht. Klein war Huexotzinco, nur an Verderbtheit konnte es mit Tlatelolco, dem Lustort Mexicos, wetteifern. Wer unter Sittenlosen sich hervortun wollte, mußte der Sittenloseste werden. Und das wurde der Tempel-Feger. Genußsucht, Langeweile und hemmungslose Eitelkeit machten diesen Lüstling zum Diener und Gezeichneten der Straferin, der Kehricht-Göttin, die in Gestalt eines gräßlichen, am Maule blutigen Frosches verehrt wurde: »denn die Liebe frißt und verschlingt alles ...«

Tränen gefallener Mädchen waren mit einem Edelstein oder einer Papageienfeder zu beschwichtigen, die Klagen der Väter mit Drohungen. Solange er sich begnügte, Fischerinnen, Blumenhändlerinnen und Handwerkerkinder der Lustgöttin zuzuführen, wurden seine Erfolge teils belächelt, teils beneidet. Aber seiner Vermessenheit waren die Erfolge zu leichtwiegend. Er sehnte sich nach verbotener Speise, deren Würze die Gefahr war. Nur noch ein Gift, das durch Todesschauer berauschte, konnte seinem müden Gaumen ein Reizmittel sein.

Mit zwei der vornehmsten Edelfrauen der Stadt ließ er sich gleichzeitig ein und verleitete sie zum Ehebruch. Sklavenaugen hatten die heimlichen Zusammenkünfte gesehen, und er, der vor keinem Auge zu beben wußte, hatte das mißachtet. Als er in den Kampf gegen Tlascala gezogen war, offenbarten die Sklaven den betrogenen Gatten, was sich zugetragen.

Die beiden Beschimpften waren hohe Würdenträger. Sie zögerten keinen Augenblick, Rache für die Schmach zu nehmen. Sie gaben Befehl, die schuldigen Frauen des Schmuckes zu entkleiden und ihre Blöße in graue Hanfmäntel zu hüllen. Dann führten sie die nackten Sünderinnen auf den großen Marktplatz, und vor Himmel und Erde die Missetat verkündend, forderten sie das Volk auf, die Verbrecherinnen zu steinigen. Erst stutzte wohl das Volk vor der Lieblichkeit der Sünde. Doch das geweckte Richtergefühl der Menge siegte über die Mitleidsregung. Ein Stein fiel, und bald hagelten die Steine.

Schwerer war es, den Verführer zu strafen. Die gekränkten Ehegatten führten Klage beim Hohen Rat. Und solange der Tempel-Feger abwesend war, schien sein Schicksal besiegelt. Dann aber kehrte er siegstrahlend zurück, als Bändiger umjubelt des furchtbaren Otomi. Der Hohe Rat war in Verlegenheit. Die Spaltung im Volk, der Haß unter den Adelsgeschlechtern konnten zum Bürgerkrieg ausarten. Man schob die Gerichtssitzung hinaus, der Schuldige wurde auf freiem Fuß belassen. Die beiden Würdenträger sahen in den Augen des Tempel-Fegers das triumphierende Lachen. Da begaben sie sich nach Tenuchtitlan, vom Herrn der Welt das Recht zu fordern, das ihnen in ihrer Vaterstadt versagt blieb.

Es gelang ihnen, zum Großen Palast und zum Saal der Botschaften Zutritt zu erhalten. Und der Zornige Herr lieh ihnen ein geneigtes Ohr. Freilich verschwiegen sie, daß der Sünder, den sie des doppelten Ehebruchs zeihten, den Totschläger des Königssohnes in Gewahrsam hielt.

Der Tempel-Feger mußte ein gewagtes Spiel spielen, wollte er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Darum wurde der Otomi-Held im Käfig gemästet und gut behandelt. Denn nur sein Blut konnte seines Besitzers Helfer werden.

Nach wenigen Tagen kehrten die beiden Würdenträger befriedigt heim. Sie brachten ein Schreiben mit, worin Montezuma dem Vasallen Huexotzinco den Rat erteilte, den Ehebruch mit dem Tode zu ahnden. Ein Ratschlag des Zornigen Herrn litt keinen Aufschub.

Doch der Tempel-Feger war der Gefangennahme zuvorgekommen. Er selbst befand sich jetzt auf dem Wege nach Mexico, in einem reichverzierten Tragsessel von vier Sänftenträgern getragen. Und hinter ihm her – auf den Schultern einer dreifachen Anzahl von Trägern – wiegte sich der große Käfig aus Zedernholz.


Es geschah etwa ein Jahr vor der Ankunft der weißen Götter. Die Sonne ging zur Neige und verschönerte die Welt, die bald in Nacht versinken sollte. Montezuma wollte sich in der Purpurflut dieses Abendrotes von Staatssorgen, Reue und Zukunftsbeklemmungen rein baden und wandelte unter den Magnolien seines Palastgartens im Gespräch mit dem Annalenschreiber Xiuhcozcatzin, Feuer-Juwel, einem stillen, ernsten Mann. Von ihm ließ er sich die Geschichte der ersten toltekischen Könige vortragen, lauschte jedoch nur zerstreut der Erzählung. Denn immer wieder schwebten seine Gedanken über den See hinüber nach Tezcuco, wo – damals noch – der Herr des Fastens lebte, beleidigt von ihm und benachteiligt und doch so beneidet um seiner drei mannhaften Söhne willen. Ihm aber war sein bester Sohn erschlagen; und die Mannesgestalt des Zweitältesten – Ilhuiltemoc, des Vom-Himmel-Gestiegenen – schimmerte bereits unheilkündend aus der durchsichtigen Schleierhülle der Jugend hervor, er war unstet, träumerisch und den Sinnen Untertan, kein geborener Herrscher.

Ein dumpfes Gebrüll unterbrach den gleichtönigen Vortrag des Schriftgelehrten und schreckte den König aus seinem Sinnen. In einem Teile des Schloßgartens waren wilde und seltene Tiere untergebracht, die Montezuma mit gleicher Leidenschaftlichkeit sammelte wie Blütenbäume, Balsamine und Orchideen. Dort befand sich seit zwei Tagen ein jüngst im Hochland eingefangener unbändiger Jaguar.

Montezuma und Feuer-Juwel schritten nun dem Tierpark zu. Speerträger und Höflinge folgten in angemessener Entfernung.

Der Weg führte vorbei an Käfigen mit Kolibris und Honigsaugern, die schwirrenden Blumenvögel glichen großen Faltern im Fluge, wie diese in buntem Metallglanz brennend. Da waren Käfige mit langgeschweiften Quetzalen, deren flammendes Goldgrün als der Inbegriff unirdischer Herrlichkeit galt. In anderen Käfigen sah man Türkisvögel, Buschreiher, Blauraben, Tangaren. An Stäbe gekettet, wiegten sich Hyazinth-Araras und kreischten die Vorübergehenden schreckhaftgutherzig an. Geweihte Hirsche blickten mit Götteraugen über Palisaden hinweg. Eingepfercht in Hürden waren Präriewölfe, Stinktiere, Ameisenbären, ferner Beutelratten, von denen man annahm, daß sie die Geburt erleichterten. Tapire wälzten sich in morastigen Tümpeln.

Der Jaguar war in einem turmartigen Zwinger untergebracht. Zu ebener Erde befand sich eine verrammelte Pforte. Um das Tier sehen zu können, mußte man auf einer geländerlosen Außentreppe zu einer kleinen Terrasse steigen, die einen Blick in das Innere der ungedeckten Löwenhöhle gewährte. Als Montezuma und seine Begleiter dort oben standen, wurde die Raserei des Tieres zur Tollheit. Es sauste aufspringend an den geglätteten Wänden empor, ohne sie freilich je erspringen zu können, doch so höllenhaft wütig und wild, daß das steinerne Gebäude wie von einem Erdstoß gerüttelt dröhnte.

»Ich möchte ihn freilassen«, sagte Montezuma.

»O großer König, o Zorniger Herr«, sprach Feuer-Juwel beklommen. »Wenn du das tust, wird er's dir nicht danken.«

»Nein. Ein Jaguar weiß nichts von Dank – wie die Götter, wie wir Könige!« lächelte Montezuma. »Darum gleichen wir einander. Unsere Grausamkeit ist unschuldig wie der Duft der Blumen. Die Welt trägt Schuld – nicht die Götter, nicht wir.«

»In alten Liedern wird gesungen, daß das erste Weltalter verschlungen wurde von Jaguaren«, bemerkte der Gelehrte.

Montezuma erwiderte: »Die reife Frucht bedarf der Esser. Vielleicht ist die Welt wieder herangereift ... Ich will sehen, was der Jaguar tut, wenn ich ihn hier inmitten des Gartens, inmitten der volkreichen Stadt loslasse. Ich will sehen, ob der Held den Helden erspäht unter den Tausenden. Ich selbst fand ihn nicht, den ich suchte ... Vielleicht weil ich ihn unter Menschen suchte«, fügte er hinzu.

Der Gelehrte war auch ein Höfling. Darum gab er zur Antwort: »Kraft ist nur Kraft durch Widerstände. Die Freiheit lähmt und schwächt und entmutigt. Das Tier wird so Vermessenes nicht wagen. Das Tier weiß, daß es an Königsblut ersticken müßte. Selbst wenn es dich anfallen sollte, es würde vor deinem Blick wie vor einem Spiegel zurücktaumeln. Geruhe, mir zu glauben, o mein König, o Zorniger Herr, – öffnest du die Pforte dort, so wird der Jaguar feige im Geäst der Zypressen Schutz suchen.«

Das Gespräch wurde durch den Vorsteher des Hauses der Teppiche unterbrochen. Er kam zu melden: aus Huexotzinco sei der Tempel-Feger angelangt und rühme sich, Montezuma beschenken zu wollen, wie ein Herr der Welt noch nie beschenkt worden sei, denn er bringe ihm als Gabe den Mörder des Königssohnes, den Irdenen Krug, den berühmten Otomi.

Montezuma hob die Arme zu stummem Gebet.

Vergessen war die Schuld des Ehebrechers, ausgewischt, erledigt. Montezuma begehrte ihn zu sehen, ihn zu belohnen. Obgleich er Fremde sonst nur vormittags im Saale der Botschaften empfing, gab er Befehl, den Tempel-Feger und den gefangenen Otomi sofort vorzuführen.


Nun hielt er sie in der Hand, die Rache, die so lange ersehnte. Und, wunderbar, sie erschien ihm plötzlich unansehnlich und klein, nicht würdig seiner und des großen Otomi. Er öffnete die Hand und ließ die Rache fallen.

Der Tempel-Feger nahte, und die Träger schleppten den großen Käfig hinter ihm her. Die Kunde von der Ankunft des Fremden hatte zahllose Neugierige aus dem Großen Palast gelockt, und auch aus dem Haus der Vierhundert Frauen, wo die Beischläferinnen des Weltherrn ihre Lagerstätten, Fontänen und porphyrnen Badebecken hatten, strömten jetzt Scharen befiederter, gelb geschminkter und grellbunt gekleideter Maidgestalten in den Garten. Alle Erhöhungen – Erdstufen und künstliche Felsen – waren von farbigem, zuckendem Leben verbrämt, als hätte sich ein Schwärm riesenhafter Kolibris zur Rast auf den Erdboden niedergelassen.

Der Mehrzahl der Hofbeamten war der Tempel-Feger von früher her bekannt. Aber Montezuma sah ihn zum ersten Male und sah maßlos staunend in ihm seinen Doppelgänger. Das Unheimliche der Ähnlichkeit zog ihn ebensosehr an, wie es ihn abschreckte, und unterjochte ihn alsbald gegen seinen Willen. Er fühlte sich schicksalhaft verknüpft mit diesem Mann und wußte sofort, daß er ihn noch enger an sich binden werde, mochte es zu Gedeih sein oder Verderb. Er nahm sich seinen kostbaren Brustschmuck ab, reichte ihn dem Tempel-Feger und sagte:

»O mutiger Krieger, o Tempel-Feger, du hast die Perle auf dem Grunde des Meeres gesehen und bist hinabgetaucht. Du hast den Wunsch auf dem Grunde meines Herzens gesehen! Dein Auge ist scharf. Sieht es nicht die andere Perle in den Tiefen? Bleibe wohnen in meinem großen Palaste, iß von meinen Speisen und trinke von meinen Königsgetränken!«

Dann wandte sich Montezuma dem Otomi zu. Er befahl, ihn aus dem Käfig zu lassen. Es geschah.

Der Irdene Krug war kein Riese, war kaum mittelgroß. Bis auf einen Lendenschurz trug er keinerlei Bekleidung. Sein Körper, stählern zäh wie der eines Raubvogels, war der ganzen Länge nach mit schmalen, rot-weißen Streifen übermalt und wies, wie ebenfalls sein Gesicht, viele tiefe Narben auf, Denkzeichen seiner ungezählten Siege. Sein kugelrunder Schädel blitzte kahlgeschabt im Sonnenschein, nur vom Scheitel wuchs ihm ein breiter Haarschopf in den Nacken. Und seltsam gutmütig erschien sein breites Antlitz, trotz des unförmlichen Lippenpflockes aus Kristall und der entstellenden Gesichtsbemalung.

Der König und der Gefangene maßen sich mit bohrenden Blicken. Schließlich senkte Montezuma die Augen, als hätte er in die Sonne gesehen.

Die Tausende ringsher waren leichenstill geworden.

Da sprach Montezuma:

»O mutiger Krieger, du Junger, erwartet habe ich dich! Seit vier Jahren habe ich meinen Großen Palast schmücken lassen für deine Ankunft. Trinke auch du von meinen süßen Kräutertränken und wähle dir eins meiner Mädchen für den heiligen Tanz. Dann aber kehre lebend heim zu deinen Bergen und Tälern, kehre heim in dein Land Tlascala!«

Der Gefangene begriff. Und er fühlte sich schmachübergossen. Montezuma wehrte ihm seinen höchsten Stolz und sein letztes Glück: den Tod auf dem Altarstein.

»O großer König, o Zorniger Herr«, sagte er. »Ein gezähmter Wolf kehrt zu seiner Meute nicht zurück, denn sie würde ihn zerreißen.«

»O mutiger Krieger, du Junger, fürchtest du zerrissen zu werden? Bangt dir vor dem Gott des Todes und der blauen Hölle so sehr?« fragte Montezuma verächtlich.

»Nein, o großer König, ich fürchte nur das Fürchten. Töte mich, denn ich habe deinen Sohn geschlachtet.«

Er hoffte Montezuma reizen zu können. Doch dieser blieb gelassen.

»Das Blut, das du vergossen hast, kann nur durch das Blut der Sterne gesühnt werden! Dein Blut ist zu gering. Wer bist du, daß ich dich für ihn hinnehmen sollte? Deine Tat ist so groß, daß keine Strafe ihr gleichkommen kann. Darum geh nach Tlascala. Oder wenn du dich schämst vor deinen Bergen und Tälern, weil du vom Netz des Geschickes dich fangen ließest, so bleibe im Schatten meiner Herrlichkeit, und ich will dich reich und allbeneidet machen durch Geschenke, Würden und Ehrungen.«

Der Irdene Krug schwieg eine Weile. Dann sprach er:

»O großer König, laß mir den Edelstein aus der Brust schneiden! Deine Ehrungen sind nur süße Gifte für mich, – mehr als vor dem Tode müßte ich vor ihnen zittern – wenn ich zu zittern verstünde!«

Da brauste Montezuma auf. Mit herrischer Gebärde fuhr er den Gefangenen an:

»Beweise mir, daß du nicht zu zittern vermagst! Geh in den Zwinger hinein – zu deinem Bruder, dem Jaguar! Bring ihn mir her, lebend oder tot!«

Der Irdene Krug gehorchte. Er schob die schweren Balkenriegel der Pforte beiseite und entschwand im Zwinger. Ohne Waffe ging er zu seinem Bruder, dem Jaguar.


Das Fieber in den Augen der Zuschauermenge wurde zu einem glimmenden Geflirr, unverrückbar wie das am Gewande des Sternhimmelgottes. Wäre das Gebrüll im Zwinger nicht gewesen, man hätte Menschenherzen pochen hören und das Herz der Erde.

Das Gebrüll riß jählings ab. Und der Irdene Krug trat aus der Zwingerpforte, blutüberströmt. Fetzen Fleisch waren ihm aus dem Schenkel und der Brust gerissen. In den Armen trug er das erdrosselte Tier; und er breitete es vor den Weltherrn hin wie einen Schemel für seinen türkisbesäten Fuß.

Ein Schrei des Staunens aus tausend Kehlen und dann wieder Stille.

»O mutiger Krieger, du Junger!« sprach Montezuma. »Ich lasse dich nicht von mir! Bezwungen hast du den Jaguar – doch ich bin gewaltiger als der Jaguar. Erdrosseln werde ich deinen Haß, niederringen deine große Verachtung, du starker Held! Wer lebt, der meines Herzens Wünsche mir weigern dürfte?«

Und Montezuma gab Weisung, den Otomi in die Gemächer zu führen, welche einst sein Sohn bewohnt hatte. Die königlichen Ärzte wurden beauftragt, seine Wunden zu heilen.


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