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Als die Königsgaleere sich Tezcuco näherte, sagte plötzlich die Schwarze Blume, nach Tenuchtitlan blickend:

»Süßeres Fleisch als das Gekröse der drei Truthähne hat heute mein Bruder, der Edle Traurige, gewonnen – und dazu dein blaues Stirnband, Vater!«

Der Herr des Fastens schüttelte langsam den Kopf. Des Sohnes Gedanken waren denselben Weg gezogen wie seine, wie zwei nachtumhüllte Wanderer waren ihre Träume am gleichen Ziele angelangt. Einen natürlichen Bundesgenossen besaß Montezuma am Edlen Traurigen, dem Sohn der Hingerichteten, dem Bruder des lieblichen und so grausam mit Blumen Erdrosselten. Denn obgleich der Herr des Fastens des toten Sohnes Gemächer im Palaste hatte zumauern lassen, um seinen Augen den immerwährenden Vorwurf zu ersparen, der Erdrosselte fand doch nicht Ruhe im Lande der Sonne, und sein nie verblassendes Bild mahnte die ihn geliebt hatten. Sein und der Mutter Schicksal mußte ja den Edlen Traurigen zum Vasallen Mexicos machen, wäre er auch nie umworben und hinübergelockt worden. Und wenn er die Krone erbte, so war das Reich von Tezcuco nur noch eine Provinz Tenuchtitlans. Das war gewiß. Dennoch schwieg der Herr des Fastens, wie er immer schwieg, sobald ein Wort die noch ungewisse Thronfolge streifte. Nach längerem Sinnen aber sagte er:

»Dem Herabstoßenden Adler hat er sein Kind Maisblüte versprochen.«

Die Schwarze Blume lachte kurz auf:

»Alle seine Versprechen vergißt er. Sonst vergißt er nichts und nie. Doch auch ich werde den Hund nicht vergessen, der dich gebissen hat! Das schwöre ich bei Mictlan-Tecutli, dem Herrn des neunten Totenreiches und der weißen Kreideschmetterlinge! – nie, nie werde ich vergessen ...!«

Als sie diese Nacht sich trennten, umarmte der Vater den Sohn. Er hatte es nie getan, seit jener der Kindheit entwachsen. Voll Staunen und verständnislos blickte ihn die Schwarze Blume an. Dann wandte er sich um, sein Schlafgemach aufzusuchen. Der Herr des Fastens hielt ihn am Arm fest.

»Eins fürchte ich«, sagte er leise.

»Was, o König und Vater?« fragte die Schwarze Blume.

»Eins fürchte ich: du wirst dein eigenes Blut trinken, mein Sohn.«

Der Prinz schwieg finster.

»Schade um dies schöne Tal Anahuac«, sprach der König fast flüsternd, »und schade um dich, wenn du je Feuerbrände an die Heimat legst.«

»Dann treffe ihn der Fluch, der mir die Brandfackel in die Hand zwingt!« murmelte der Prinz, und seltsam lächelnd schritt er hinaus.


Die Besorgnis, Montezuma werde Vergeltung üben, war nicht unbegründet gewesen – das zeigten die nächstfolgenden Tage. Aber der Herr des Fastens hatte kleine Nadelstiche erwartet und war daher wie gelähmt durch einen unvorhergesehenen Keulenhieb, mit dem ihn die Rachsucht des Großkönigs aus dem Hinterhalte traf. Nämlich ohne vorher Tezcuco in Kenntnis zu setzen, sandte der Zornige Herr Botschaften an die tributpflichtigen Städte der Chinampaneca – der um den Süßwassersee von Chalco gelegenen Landschaft – und ordnete an, daß das dem Herrn des Fastens zukommende Drittel aller Abgaben in Zukunft mit nach Tenuchtitlan geschickt werde. Heimtückisch war dieser Streich, denn schwerer noch zu verschmerzen als der Verlust des Tributs war der Verlust an Ansehen. Vor aller Augen hatte Montezuma an die Selbständigkeit des Bundesstaates gegriffen, und zu schwach waren die Heerscharen der Acolhuas, den Schlag zurückzugeben. Der Herr des Fastens war ein gebrochener Mann seitdem. Ein Herzleiden, das schon früher hin und wieder seiner Nächte Ruhe getrübt, schlürfte ihm jetzt den Atem aus der Brust und fing an, seinen Körper und Geist zu zerrütten.

Aber noch einen Pfeil hatte der Gegner im Köcher behalten, und auch den schnellte er nun vom Bogen ab. Der Edle Traurige verschwand aus Tezcuco, und als er nach etlichen Tagen freudestrahlend heimkehrte, umjubelt von seinen mexicofreundlichen Parteigängern, war er der Verlobte der schönen Prinzessin Maisblüte, der Lieblingstochter Montezumas.

Da zog sich der Herr des Fastens tiefverbittert in das außerhalb der Stadt gelegene Lustschloß Tezcotzinco zurück. Keinem seiner Söhne gestattete er, ihm dahin zu folgen oder ihn dort aufzusuchen. Die turmhohen Steinmauern des wunderalten Schloßparkes schieden ihn ab von der Welt der Täuschungen und Enttäuschungen. Nur die Herrin von Tula durfte bei ihm weilen und mit Gesprächen und Gesängen seine Trübsal scheuchen. Zwei Monate später schickte er auch sie zurück nach Tezcuco, und er blieb allein, unter kahlköpfigen Zypressen die Tage verträumend mit kreischenden Papageien und lärmenden Affen, mit stummen Kunstfelsen und schweigsamen Fischteichen, mit geschwätzigen Springbrunnen und zwei gebeugten Greisen – abgedankten nutzlosen Würdenträgern gleich ihm.


Fortan hielt er nur noch nachts mit Gestirnen Zwiesprache, nie mehr kam ein Wort über seine Lippen. Bloß einmal, kurz nachdem er von der Herrin von Tula Abschied genommen, durchbrach er das freiwillig auferlegte Schweigegebot. Den beiden Greisen eröffnete er, daß er den Tod nahe wisse, und gab Anordnungen, seine Leiche in aller Stille zu verbrennen und sein Hinscheiden längere Zeit dem Volke geheimzuhalten. Denn so weit seines Namens hinwelkende Macht reichte, wollte er das Unabwendbare hinausschieben. Auf die Frage, wen er zum Nachfolger bestimme, gab er zur Antwort: weder wolle er seinem besten Sohn, der Schwarzen Blume, die Kränkung antun, daß er ihn übergehe, noch dürfe er des Reiches Wohlfahrt so hintansetzen, daß er dem Verderber Anahuacs zum Thron verhelfe. Und er löschte die brennende Wißbegier der beiden Greise, indem er ihnen die Kindheit der Schwarzen Blume erzählte.

Einst, als die Herrin von Tula schwanger mit ihm ging, verkündeten böse Vorzeichen, das Kind im Mutterleibe sei dem eigenen Volke zum Fluch erzeugt worden. Sterndeuter und Weise nahten, um den König zu warnen, und stellten das Ansinnen an ihn, er müsse – die Gefahr abzuwenden – das Kind gleich nach der Geburt den Sterngöttern opfern. Schweren Herzens willigte der König drein. Als jedoch die Herrin von Tula die Wehen auf dem hohen Gebärstuhl überstanden und der König an ihr blumenbesätes Bett trat, ihr den Lohn ihrer Schmerzen zu entreißen, da wurde er weich im Nebel ihrer Klage. Und er schenkte dem todgeweihten Kinde ein zweites Mal das Leben. So fühlte er sich doppelt Vater dieses Sohnes und hielt seine schirmende Hand über ihn, Planeten und eigener Einsicht zum Trotz, auch in späterer Zeit, als die Unbändigkeit des kleinen Prinzen bestätigte, welchen Wolf er an ihm großzog. Vier Jahre alt, stieß die Schwarze Blume seine Amme in ein tiefes Brunnenloch hinab, wo sie ertrank, und er tat es, weil sie den Liebesworten eines Adlerritters Gehör geschenkt. Im Alter von zehn Jahren ernannte er sich selbst zum Haupt einer Bande gleichaltriger Kinder, drang plündernd in die Wohnungen der höchsten Staatsbeamten ein und folterte diese zu Tode, weil sie sich zur Wehr gesetzt. Auf die Vorhaltungen seines erzürnten Vaters erwiderte der Knabe: viel mehr Lob als Tadel verdiene er, habe er doch die eingeschläferte Kriegslust der durch Reichtum und Wohlleben erschlafften Chichimeken wieder erweckt, wenigstens unter seinen Altersgenossen. Diese erstaunlich wildköpfige Antwort rettete ihn und seine Mithelfer. Die Strenge des Vaters, unerbittlich einst, war seit des Erstgeborenen Hinrichtung blutlos geworden. Er wollte keinen zweiten Sohn auf den Altar der Gerechtigkeit legen. Darum verzieh er und verzieh immer wieder.

Jetzt war es zu spät. Das kleine Welf hätte sich ertränken lassen – der so geliebte und gefürchtete Wolf nicht mehr. Ausgewachsen war er nun, ein herrliches Raubtier, nur halbgezähmt, und wußte vielleicht selbst noch nichts von seiner Blutgier und seinem Heißhunger nach rotem, zerrissenem Fleisch ...


Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, seit der Herr des Fastens hinter den steilen Gartenmauern Tezcotzincos den Augen seines Volkes entschwunden. Da tauchte – unerklärlich wie und warum – das Gerücht aus der Tiefe des Volksherzens auf: der König der Acolhuas, der Große Chichimecatl, sei ins selige Land Tlalocan, in das zweite der Totenreiche, gestiegen. In Scharen zu Tausenden und aber Tausenden zogen die erregten Bewohner Tezcucos hinaus nach dem Lustschloß, um Sicherheit zu erlangen, daß ihr Herrscher noch lebe. Die beiden Greise wiesen erst die einlaßheischende Volksmenge ab mit dem Bedeuten, der König wolle in seinen frommen Meditationen nicht gestört sein. Als aber die Wilderregten Anstalten machten, mit Leitern die Mauern des Schloßgartens zu erklimmen, gaben die Greise zu, der König weile nicht mehr im Garten, sondern ermattet von schwerer Kasteiung ruhe er aus auf seinem silbernen Thronsessel im Schlangensaal. »Wir wollen ihn sehen!« schrie das Volk. Und eingeschüchtert riegelten die beiden Greise den Eingang zum Garten auf, nachdem sie als Bedingung gefordert, daß die Menge am weit geöffneten Tor des Thronsaales vorbeischreite, ohne den sinnenden König zu stören. Und so geschah es. Stundenlang zog die nie reißende Kette besorgter Männer, Frauen und Kinder am offenen Saaltor vorbei, und die Heimkehrenden konnten freudevoll in Tezcuco berichten, daß der König am Leben sei, da sie mit eigenen Augen ihn thronend erschaut.

Der letzte im langen Zuge war die Schwarze Blume. Die anderen Prinzen hatten es verschmäht, sich unter Kaufleute, Marktfrauen, Fischhändler und Bettler zu mischen. Aber ihn hatte die Sorge herausgerufen mit unwiderstehlicher Lockung. Als die letzten sich entfernt hatten, betrat er den Schlangensaal. Die beiden Greise warfen sich ihm entgegen, beschworen ihn, das Verbot seines Vaters zu achten. Er würdigte sie keiner Antwort. Eilig näherte er sich dem Silberthron. Dann riß er dem Thronenden die Stirnbinde aus Türkismosaik vom Haupt und wand sie sich um die Schläfen. Der thronende König aber fiel auf die Marmorfliesen mit lautem Gepolter – ein stürzender Steingötze, lächerlich geschmückt mit den Kleinodien des längst verstorbenen und verbrannten alten Königs.


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