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4

Als Rantan vom Schlaf erwachte, war es Morgen. Er hatte vierundzwanzig Stunden geruht. Nun war er hungrig, fühlte sich aber wieder kräftig. Er trat aus den Bäumen hervor und blieb einen Augenblick am Ufer der kleinen Lagune stehen, über deren saphirgrünem Wasser weiße Seemöwen flatterten. Ein zartblauer Himmel spannte sich weit und herrlich über die Insel und das Meer.

Das Kanu lag jetzt hoch am Ufer, denn es war Ebbe eingetreten. Die Leichen am Ausleger konnte er nicht mehr sehen; die großen Raubmöwen hatten ihre Arbeit getan. Nur die Stricke aus Kokosfasern waren übriggeblieben und hingen wie braune Lumpen daran, die sich in der Brise bewegten.

Dicht neben den nördlichsten Bäumen lag ein kleiner Teich, von dem er getrunken hatte, bevor er sich niederlegte. Die Bäume erstreckten sich von hier aus ein paar hundert Meter am Ufer entlang. Es gab Pandanus- und Kokospalmen, Brotfruchtbäume und dichtes Gebüsch von Mammi-Äpfeln. Sie reichten bis zu der Stelle, wo sich die nackten Korallenfelsen aus dem Meer hoben. Der Rest des Riffs war nur wenig mit Pflanzen und Wuchs bestanden. Es war Nahrung genug hier, aber Rantan hatte weder Messer noch Feuerzeug, weder Angelleinen noch Fischnetze. Und er war nackt.

Als sie ihn banden und in das Kanu warfen, hatte ihm das nichts ausgemacht. Aber jetzt, nachdem er geschlafen und sich wieder erholt hatte, bedrückte es ihn schwer, daß er keine Kleider hatte. Er vergaß darüber im Augenblick sogar alles andere, selbst das Essen.

Das Klima war so warm, daß er keine Hülle gegen Kälte brauchte. Und die großen Bäume boten Schatten genug, um ihn vor der Hitze zu schützen. Aber trotzdem lastete seine Nacktheit wie ein Fluch auf ihm, und er fühlte sich hilflos. Seit vierzig Jahren war er daran gewöhnt, Kleider zu tragen, und ohne sie kam er sich machtlos vor wie ein Insekt, das man zertreten kann.

Den Mangel an Schuhen empfand er weniger schmerzlich, obwohl er sich mit nackten Füßen von den scharfen Korallenriffen fernhalten mußte und gezwungen war, an dem sandigen Ufer zu bleiben. Er ging zu dem Kanu und sah, daß die Reste der Früchte an der Sonne verdorben waren. Dann betrachtete er die Verbindungsstangen zu dem Ausleger und band die Kokosnußfasern davon ab.

Seine Finger zitterten jetzt nicht wie damals auf Karolin, als er versucht hatte, die Knoten zu lösen. Er hatte Zeit genug, diese Arbeit in Muße zu vollenden.

Dann versuchte er, sich einen Lendenschurz daraus zu machen, und schließlich gelang es ihm auch.

Noch bevor er Speise anrührte, nahm er die verdorbenen Pandanusfrüchte und das andere Obst aus dem Kanu heraus. Er konnte es nicht ausschöpfen, da er kein Gefäß hatte. Aber an dem Ausleger hing ein großes Stück Tang, das die Sonne getrocknet hatte. Das nahm er, feuchtete es im Wasser der Lagune an und benützte es wie einen Schwamm.

Nachdem er das Kanu gereinigt hatte, überzeugte er sich davon, daß Mast, Segel und Ruder vollkommen in Ordnung waren. Dann erst ging er zu den Bäumen zurück, pflückte einige Pandanusfrüchte und begann zu essen.

Als er sich niedersetzte, machte er eine Bewegung, als ob er seine Beinkleider hochziehen wollte, und vorher hatte er schon mehrmals die Hand in die Tasche stecken wollen. All diese Bewegungen erinnerten ihn daran, daß er nackt war, nackt wie ein gemeiner Erdwurm.

Er aß und starrte auf die Lagune, wie hypnotisiert durch das tiefe Blau ihres Wassers. Sein Geist wanderte wie ein Vogel, der von Zweig zu Zweig hüpft. Er sah wieder die Lagune von Karolin und die beiden toten Frauen vor sich, die er am südlichen Ufer zurückgelassen hatte. Dann stand er plötzlich an Bord der Kermadec, dann am Ufer von Levua, wo er im Wald Peterson erschlagen hatte.

Mit dem Mord an dem Kapitän hatte all sein Elend begonnen; es war ihm, als ob Peterson ihn verfolgte und ihm alles abnahm, eins nach dem andern, zuletzt sogar seine Kleider. Er hatte das schöne Segelschiff verloren, die Perlenlagune, seinen Koffer mit den wenigen ersparten Dollars, seinen Hut, seine Schuhe, seine Beinkleider, sein Hemd und seinen Rock – alles. Er versuchte, nicht mehr daran zu denken, aber das gelang ihm nicht.

Es war neun Uhr morgens, und der Tag endete erst mit Sonnenuntergang. So würde es nun weitergehen ohne Unterbrechung, Monat um Monat, denn die Regenzeit war noch nicht zu erwarten. Einsam und verlassen saß er auf diesem Riff, fern der Schiffsstraßen.

Er erhob sich, sah sich um und wählte dann sorgsam seinen Weg zwischen den Korallenklippen nach der äußeren Küste. Von dort aus schaute er über das Meer.

Weit und breit regte sich nichts. Karolin mit seinen ungeheuren Schätzen an Perlen mußte im Nordosten liegen, aber es war so weit entfernt, daß er nicht einmal das Licht der Lagune am Himmel sah.

Er wandte sich nach Südosten. Irgendwo in dieser Richtung lagen die Paumotu-Inseln.

Sollte er in dem Kanu fortfahren und versuchen, dorthin zu kommen?

Seitdem er am Morgen erwacht war, beherrschte ihn eine zweifache Zwangsvorstellung. Einmal lähmte ihn der Gedanke an seine Nacktheit, und außerdem litt er unter dem Wahn, daß Peterson ihn verfolgte und ihm Unglück brachte. Er glaubte weder an Gott noch an Gespenster, aber er glaubte an sein Glück; und sein Glück hatte ihn seit dem Mord an Peterson verlassen.

Dieser Alpdruck raubte ihm seine Energie, und der Gedanke, mit dem Kanu fortzusegeln, verschwand sofort wieder. Er ging zu den Bäumen zurück und legte sich im Schatten nieder, während die Möwen über ihm schrien.

Nun war er vollkommen ausgeschlossen von der Welt; niemand wußte etwas von seinem Schicksal, und niemand interessierte sich für seinen Aufenthalt. Auch seine Umgebung nahm keinen Anteil an ihm, weder der Wind noch die Sonne noch die Bäume oder die Möwen.

Wenn er am Ufer tot niederfiele, würden sich wenigstens die großen Raubvögel für ihn interessieren. Aber solange er lebte, wußten sie nichts mit ihm anzufangen.

Dies war kein vorübergehender Gedanke, seine Nacktheit brachte ihn immer wieder darauf zurück, denn nicht nur äußerlich, auch innerlich war er der Kleider beraubt, da er sich nicht mehr in gewohnter Umgebung bewegen konnte. Und diese beiden Gefühle, die Nacktheit seines Körpers und die Nacktheit seiner Seele, verstärkten gegenseitig ihre Wirkung; die eine war wie das Echo der anderen.

Aber dann wiegte ihn allmählich das gleichförmige Rauschen der Brandung in Schlaf. Im Traum stand er wieder an Bord des Schiffes, das in der Lagune von Karolin verankert lag, und die Kanakas tauchten nach Perlen. An Deck waren viele Haufen von Muscheln ausgebreitet, und Carlin zeigte ihm eine große Perle. Es war die letzte; sie hatten die ganze Bank geräumt, und nun wollten sie Segel nach Frisco setzen, wo Reichtum, Wein und Weiber auf sie warteten. Er ging nach unten in die Kabine, und wohin er blickte, lagen Perlen auf dem Fußboden und in den Schlafkojen. Und als das Schiff rollte, rollten auch die Perlen, und er kroch auf Händen und Füßen, um sie aufzusammeln. Aber wenn er sie gefaßt hatte, verwandelten sie sich in Kieselsteine oder in weiße Mäuse und hüpften über Carlin fort, der tot in seiner Koje lag. Und dann steckte Poni den Kopf durch die Deckenluke und rief: »Kä-kä-kä!«

Rantan erwachte unter den Bäumen, als eine Möwe über ihn wegflog.


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