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5

Der Morgen brach an. Von Südosten wehte ein warmer, stetiger Wind über die Lagune, und die Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten das Riff.

Möwen umkreisten das große Segelschiff, auf dem Aioma, Dick und die ganze Mannschaft geschlafen hatten, um beim Frühlicht zur Abfahrt bereit zu sein.

Mit lauter Stimme rief Aioma die Kanakas aus ihren Quartieren, und bald darauf hörte Katafa, die am Ufer wartete, daß der Anker mit der Winde gelichtet wurde.

Poni war unter Sru Vormann gewesen und wußte genau, wie man die Kermadec bedienen mußte. Er überwachte das Setzen der Segel, sprach mit Aioma und erklärte ihm alles. Als alle Segel gesetzt waren, gab er den Befehl, den Anker zu lichten.

Le Moan beobachtete, wie Poni das Steuerrad in die Hand nahm, und wie sich das Hauptsegel mit Wind füllte. Der Schoner bewegte sich langsam gegen die kleinen Wellen der abfließenden Ebbe, näherte sich dem Dorf, wandte dann in einem großen, kühnen Bogen nach Süden und fuhr zu dem Tor des Morgens.

Le Moan konnte Katafa sehen, die in der Ferne neben den großen Bäumen an der Küste stand. Kleiner und kleiner wurde die schlanke Gestalt, als sich das Tor des Morgens vor ihnen weitete und der Donner der Brandung immer stärker wurde.

Die Sonne hatte sich über den Horizont erhoben, und der Wind wehte den Gischt über die Korallenfelsen am südlichen Ufer. Aioma stand aufrecht an Deck, hypnotisiert, aber auch von Furcht erfüllt. Er zeigte jedoch nicht, was in ihm vorging. Endlich, endlich verwirklichte sich sein Traum!

Aber es gab ihm einen Stich ins Herz, wenn sich das Schiff nach Steuerbord überlegte und ihm zum Bewußtsein brachte, daß an Backbord kein Ausleger war. Wenn der Ausleger fehlte, konnte auch die Mannschaft nicht hinausklettern, um durch ihr Gewicht das Gleichgewicht wieder herzustellen. So oft sich das Schiff nach der anderen Seite neigte, packte Aioma ein Schrecken, daß der Ausleger zu tief ins Wasser untertauchen könnte.

Er wußte ganz genau, daß dem schönen, stolzen Schoner dieser wichtige Bestandteil fehlte; aber sein Traumschiff besaß nun einmal einen Ausleger, und er konnte sich von dieser Vorstellung nicht freimachen.

Und während er nun an Deck stand und den Blick über die ungeheuer großen, vom Wind geschwellten Segel gleiten ließ, hätten seine Zähne vor Entsetzen und Angst geklappert, wenn er die Kiefer nicht fest aufeinandergebissen hätte.

Bei Ebbe und Südwind ein Schiff aus der Lagune von Karolin zu steuern, erforderte für den Führer kühlen Kopf und unbedingt ruhige Nerven. Der innere See leerte sich wie ein großes Bad, und das auslaufende Wasser stieß bei der Ausfahrt mit der nördlichen Strömung zusammen. Dicht vor dem Tor des Morgens kam ein Punkt, an dem es nicht mehr auf das Steuer allein ankam. Wenn die Flut das Schiff zu stark packte, mußte es den richtigen Kurs haben, sonst wurde es gegen die Korallenwand geschleudert.

Aber Poni war an die Südsee und an Lagunen gewöhnt; die Kermadec war sicher in seiner Hand, als er sie direkt durch die Mitte der Öffnung steuerte. Dann faßte die Ebbe das Schiff, und wie ein Pfeil flog es an den Korallenriffen vorüber mitten in die Brandung des Meeres hinein. In großem Bogen fuhr es vom Land weg und drehte nach Norden ab.

»Die Segel werden allen Wind fressen«, hatte Aioma einmal gesagt, »daß keiner mehr übrigbleibt für all die Kanus auf den Inseln.« Und als nun Poni den neuen Kurs gesetzt hatte und sich das Hauptsegel zur anderen Seite legte, bewahrheiteten sich seine Worte. Der Schoner kämpfte nicht mehr gegen die Wellen an, er fuhr mit dem Wind und den langrollenden Wogen. Es wurde ruhig; nur das Knarren der Rahen, der Segelstangen und des Takelwerks unterbrach die Stille.

Le Moan sah zurück. Hinter ihnen im Süd-Südwesten lag Karolin in der Morgensonne. Noch vergoldeten ihre Strahlen die hochragenden Palmen, die sich im Winde wiegten und die Möwen, die über den Wassern kreisten, um sich auf ihre Beute zu stürzen.

Allmählich verschwand das Riff hinter der weißen Schaumlinie, aus der sich die Bäume erhoben, als ob sie mitten im Meer stünden. Bis jetzt hatte Le Moan noch keine Hand gerührt; auf Aiomas Geheiß war sie an Bord gekommen. Ohne ihre Mitwirkung hatte das Geschick sie für ein paar Stunden mit Taori zusammengeführt und ihn von Katafa getrennt, und doch erschien es ihr, als ob dies ein Teil der Botschaft wäre, die sie durch die Cassiblumen erhalten hatte. Es mußte so sein, weil sie Taori liebte. Die Kraft ihrer Leidenschaft, die sie noch für immer mit ihm vereinen würde, hatte dieses Zusammensein ermöglicht.

Le Moan war nicht kleinlich; wenn sie auch in manchen Dingen nicht vollkommen war, so zeigte sie doch keine Schwäche. Sie war erbarmungslos, aber nicht grausam. Taori leuchtete als Sonnengestirn über ihrem Leben, und es zeigten sich Höhen und Tiefen in ihr, die ohne seinen Einfluß niemals in Erscheinung getreten wären. Um Taoris willen war sie mit Peterson gegangen, um seinetwillen hatte sie Carlin getötet, und für ihn würde sie sich wieder opfern, obwohl sie die Bedeutung der Worte »selbstlos« und »Mitleid« nicht kannte.

Sie hätte Katafa leicht umbringen können, sogar auf geheime Weise, so daß niemand etwas davon erfahren hätte. Aber dadurch konnte sie Taoris Liebe nicht erringen. Es hatte keinen Zweck, Katafas Körper zu töten, wenn ihr Bild in Taoris Seele weiterlebte.

Katafa war wie eine Mücke, die ihre Träume störte; aber das ging vorüber, bestimmt würde es vorübergehen.

Sie wandte sich um und sah, daß Aioma in einer plötzlichen Aufwallung Dick umarmte. Er hatte seine Zuversicht und Fassung wiedergewonnen.

Der alte Mann freute sich wie ein kleines Schulmädchen. Wenn er in Erregung und Ekstase geriet, hatte er etwas entschieden Weibliches. Er fürchtete jetzt nicht mehr, daß das Schiff umschlagen könnte, er dachte auch nicht mehr an den Ausleger. Die neuen Sensationen hoben ihn über sein bisheriges Leben hinaus. Und während er in Begeisterung schwelgte, erinnerte er sich an die große Wolke der Seemöwen, an das Riff von Marua und an seinen Plan.

»Taori«, rief er, »die Kanus, die ich gebaut habe, selbst die größten unter ihnen, sind zu diesem großen Schiff wie junge Seemöwen, die eben aus dem Ei gekrochen sind, zu ihrer Mutter. Wir wollen vor dem Winde herfahren bis zum Sonnenuntergang, dann sehen wir Marua.«

Zum erstenmal schaute Dick zurück; er konnte nur noch die höchsten Baumwipfel von Karolin sehen, und sie schienen unheimlich weit entfernt zu sein.

Zum erstenmal dachte er an Katafa. Sie hatte kein Wort zu ihm gesagt, daß er nicht zu weit fahren sollte. Aioma hatte nur vorgeschlagen, das Schiff auf das Meer hinauszufahren. Wasser, Kokosnüsse und Früchte waren nur an Bord genommen worden, um gegen die Gefahren des Meeres gerüstet zu sein. Sie hatte sich vor dieser Ausfahrt gefürchtet, aber kein Wort darüber gesprochen, um seine Freude nicht zu stören. Und sie war sicher, daß er um ihrer Liebe willen keine unnötigen Gefahren herausfordern würde. Aber sie hatte ohne seine Jugend gerechnet und ohne den kühnen Wagemut, der in den Herzen der Männer lebte. Auch ahnte sie nicht, daß das herrliche Schiff auf seiner schnellen Fahrt Taori vollständig bezauberte und in Bann schlug, und sie wußte nichts von Aiomas Plänen.

Katafas Liebe band Taoris Herz an die ferne Küste von Karolin, und es zuckte leise in ihm, als er an sie dachte.

»Aber Marua liegt fern«, sagte er.

Aioma lachte. »Unsere großen Kriegskanus sind oft dorthin gefahren, und was für kleine Fahrzeuge waren sie im Vergleich zu diesem großen Schiff! Außerdem will ich keine müßige Fahrt machen, Taori. Denke an die ungeheure Schar der Seemöwen, die den Mond über Karolin verdunkelten, als sie mit den anderen Möwen kämpften! Die suchten eine neue Heimat. Warum?«

»Das wissen nur die Möwen«, entgegnete Dick. »Und auf Marua hausen die schlechten Männer, die ich eines Tages schlagen und töten will, aber noch nicht jetzt. Wir haben nicht genug Männer, und wir haben nicht einen einzigen Speer bei uns.«

»Wir haben aber die Stöcke der Papalagi, die so furchtbar laut sprechen, und ich weiß, wie man sie gebraucht. Le Moan hat mich darin unterrichtet. Aber um die schlechten Männer müssen wir uns ja nicht kümmern. Wir brauchen nicht näher an Marua heranzufahren, als wir jetzt von Karolin entfernt sind, oder nur ein wenig näher. Ich möchte nur die Küste sehen, und was jetzt darauf lebt, denn Möwen verlassen ihre Heimat nicht, weil der Wind stark weht und die See wild wird. Sie sind vertrieben worden, Taori. Aber was hat sie vertrieben? Eine größere Art von Möwen? Oder eine neue Art von Menschen – wer kann das wissen? Aber ich möchte es sehen.«

Dick dachte darüber nach. Er hatte zuerst nur die Absicht gehabt, ein kleines Stück auf das Meer hinauszufahren. Er wollte sehen, wie sich der Schoner auf der offenen See bewegte, er wollte das Deck des schönen Schiffes unter seinen Füßen fühlen, und er wollte es steuern. Aber beim Essen kam ihm nun der Appetit, und als er sah, welche Macht er besaß, stieg auch der Wunsch in ihm auf, diese Macht zu nützen. Wegen der Rückkehr machte er sich keine Sorgen. Das Licht der Lagune von Karolin, das am Himmel zu sehen war, würde sie zurückführen, wie es Katafa und ihn dorthin geleitet hatte. Aiomas Worte über die Möwen störten ihn auf.

Was mochte wohl geschehen sein, daß diese Vögel ihre Heimat verlassen hatten? Von dieser Seite aus hatte er noch niemals darüber nachgedacht, und als er es sich nun genauer überlegte, erkannte er die Wahrheit in Aiomas Worten. Und da er einen schärferen Verstand besaß als der Kanubauer, brachte er die großen Wogen in ursächlichen Zusammenhang mit dem Ereignis.

»Aioma, die großen Wellen, die unsere Häuser zerbrachen, haben auch die Möwen fortgetrieben«, sagte er.

»Aber die kamen doch vor den Möwen.«

»Vielleicht haben sich die Möwen auf dem Wasser ausgeruht und sind erst später nach Karolin geflogen. Die Wogen mögen das Riff von Marua zerbrochen haben wie unsere Häuser.«

»Aber das Riff von Karolin ist doch auch nicht zerbrochen worden.«

»Die Wogen können aber bei Marua größer gewesen sein. Vielleicht sind sie nachher kleiner geworden, als sie zu uns kamen.«

»Ich habe auch schon über die Wogen nachgedacht«, gab Aioma zu. »Wir wollen es abwarten. Wenn das Riff von Marua zerstört ist, dann ist es eben zerstört. Und wenn größere Möwen oder Seevögel dort sind, werden wir sie ja sehen.«

Dick schaute noch einmal zurück. Die Baumwipfel von Karolin waren jetzt so weit entfernt, daß sie nur noch Stecknadelköpfen glichen. Aber das Licht der Lagune am Himmel konnte er klar und deutlich erkennen, und vor dem Schiff sah er die nördliche Strömung, haya e amata. Sie zeigte ein tieferes Blau als das andere Meer, ähnlich wie die Kuro Shiwo-Strömung bei Japan. Diese ist jedoch viele Meilen breit und läuft quer durch den Stillen Ozean bis zu den Küsten von Amerika. Die haya e amata dagegen ist so schmal, daß ihre Grenzen nur von den geübten Augen der Kanuleute gesehen werden können. Vom Deck des Schiffes aus zeigten sie sich nur dem Kundigen, der sie an dem Unterschied in der Farbe zu erkennen wußte.

Dick konnte die Strömung so deutlich wie eine breite Straße vor sich sehen. Sie diente ihnen als Wegweiser, und das Licht der Lagune von Karolin würde ihnen den Heimweg zeigen. Unter diesen Umständen war es unmöglich, daß sie in die Irre fuhren. Außerdem war Le Moan an Bord, die das Schiff zurücksteuern konnte, selbst wenn das Licht der Lagune nicht mehr am Himmel leuchtete.

Das Wetter war gut, der Wind beständig. Le Moan hatte das Steuerrad von Poni übernommen, der nach vorn gehen wollte. Sie, die den Schoner nach Karolin gebracht hatte, war nach Aioma und Dick die Hauptperson an Bord. In gewisser Weise war sie ihnen sogar überlegen, denn weder Dick noch Aioma hatten gelernt, das Steuerrad zu handhaben.

Auf dem Vorderschiff, neben dem Eingang zur Küche, standen die Kanakas. Dick betrachtete sie eine Weile und wandte sich dann an Aioma. »Ja, wir wollen hinfahren und uns umsehen«, erklärte er entschieden.

Die Baumkronen waren jetzt nicht mehr zu entdecken, und die Landmöwen waren verschwunden, aber Karolin sprach noch immer zu Taori durch das große Licht, das wie ein treuer Wegweiser am Himmel strahlte, schön, herrlich und klar.


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