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2

Zwei Frauen ruderten das Kanu ans Ufer, und als sich der Ausleger aus dem Wasser hob, traten Dick und Katafa näher. Er legte eine Hand auf die Maststützen, die am Gitterwerk des Auslegers befestigt waren, und wandte sich an die Frauen, die ans Ufer sprangen, mit den Rudern in der Hand vor ihm standen und von ihm zu Katafa schauten.

»Wo sind die alten Männer, die die Boote bauen können?« fragte er.

Die kleinere der beiden machte ein merkwürdiges Geräusch mit der Zunge und blickte zur Lagune; die größere sah Dick offen ins Gesicht.

»Sie wollen nicht kommen«, erwiderte sie. »Sie sagen, Uta Matu allein war ihr König, und der ist tot. Auch sagen sie, daß sie zu alt sind. ›A mataya ayana‹ – sie sind schwach und können kaum noch fischen, nicht einmal in ruhigem Wasser.«

Die kleinere Frau unterdrückte mühsam ein Lachen, dann wandte sie sich an Dick.

»Sie wollen nicht kommen, Taori. Alles andere ist nur Gerede.«

Sie hatte recht. Dick hatte ihnen den Befehl geschickt, sofort herüberzukommen, und sie hatten sich geweigert. Sie wollten den neuen Ankömmling nicht als ihren Häuptling anerkennen; alles andere war nur Gerede, Vorwand, Ausflucht.

Verschiedene Dorfbewohner hatten das rückkehrende Kanu gesehen, rannten nun herbei und hörten zu. Andere folgten ihnen. Schon flüsterten sie sich zu und tuschelten darüber, daß die alten Männer nicht kommen wollten. Dick hatte den Fuß auf den leicht gebogenen Ausleger gestellt und blickte unverwandt auf die Kokosfasertaue, mit denen der Ausleger an dem Gestänge befestigt war, als ob er sie genau untersuchen müßte.

Als er die Nachricht hörte, ging ein zorniger Ausdruck über sein Gesicht, aber nun glätteten sich seine Züge wieder, und er dachte angestrengt nach.

Das war keine gewöhnliche Angelegenheit. Dick hatte noch niemals die Worte »Revolte« oder »Autorität« gehört, aber seine Gedanken beschäftigten sich augenblicklich trotzdem mit diesen Begriffen, wenn er auch keinen Ausdruck dafür wußte. Die einzigen Männer, die den Bau der großen Kriegskanus beaufsichtigen konnten, hatten sich geweigert, die Arbeit aufzunehmen, und an dem Ton und Verhalten der beiden Frauen, die die Botschaft gebracht hatten, erkannte er deutlich, daß er etwas tun mußte, um die alten Leute zum Gehorsam zu bringen. Sonst verlor er jede Gewalt über die Eingeborenen.

Dick verschwendete keine Zeit mit weiterem Nachgrübeln. Er wandte sich von dem Kanu ab und eilte zu dem Haus, in dem er die kleinen Schiffe sorgsam aufgestellt hatte. Mit einem Fischspeer kam er zurück.

Dann rief er die Frauen, half ihnen, das Boot wieder ins Wasser zu schieben, sprang an Bord und zog das Segel auf. Er benützte den Wind, der von der Öffnung im Osten kam.

»Ich komme bald wieder«, rief er Katafa zu. Seine Stimme schallte laut über das sprühende Wasser. Die Frauen duckten sich, um das Kanu zu belasten, während er mit dem Steuerruder in der Hand den Kurs setzte.

Als Katafa vor vielen Jahren zur Insel der Palmbäume gekommen war, hatte der Junge das erste Südseeboot gesehen. Das fremdartige Fahrzeug hatte ihn fasziniert. Das Kanu, in dem er jetzt fuhr, war größer und hatte mehr Raum. Und das lange, schlittschuhförmige Holzstück, das den Ausleger bildete, war nicht nur durch Stangen mit dem Boot, sondern noch durch eine fortlaufende Brücke verbunden.

Während Dick steuerte, beachtete er jede Einzelheit – die Rattanruten, aus denen die Brücke zusammengeflochten war, die Befestigung der Maste an dem Stangenwerk, die Art, wie der Mastbaum eingesetzt wurde, den Ausleger und seine geschwungenen Enden, das Mattensegel und seine Anbringung.

Obwohl er früher niemals ein Kanu gesteuert hatte, half ihm doch seine angeborene Seetüchtigkeit. Die Frauen beobachteten ihn genau. Nichts entging ihnen. Aber er gab sich keine Blöße und zeigte sich nicht unentschlossen oder wankelmütig.

Man kann ein solches Kanu auf zwei verschiedene Arten zum Umkippen bringen: wenn man den Ausleger zu hoch aus dem Wasser kommen oder ihn zu tief eintauchen läßt. Dick schien das zu wissen, und als sie die große Woge passierten, die mit der Flut von dem Tor zum Meer hereinkam, vermied er beide Gefahren.

Die Bucht, an der die Reste des südlichen Stammes lebten, lag der Küste des Nordstammes genau gegenüber. Beide befanden sich verhältnismäßig nahe an der Lücke in dem Korallenriff, und die Entfernung zwischen beiden betrug etwas mehr als eine Seemeile. Als sie näher und näher ans jenseitige Ufer kamen, konnte Dick deutlich die wenigen übriggebliebenen Hütten erkennen, die im Schutz großer Bäume lagen. Drei schlanke Kokospalmen hoben sich scharf von dem hellen Horizont ab.

Das Kanu stieß ans Ufer, und Dick sah die Rebellen. Im Schatten eines mächtigen Baumes nahe der östlichsten Hütte saßen sie im Sand. Zwei hatten die Knie hochgezogen, einer ruhte mit untergeschlagenen Beinen. Dicht bei ihnen, an einer kleinen Quelle, lag ein Mädchen.

Als Dick, gefolgt von der größeren Frau, näher kam, schaute das Mädchen auf, das bis dahin in das Wasser gesehen hatte.

Es war Le Moan, die Enkelin von Le Juan, der toten Zauberin von Karolin, die viel Unheil angerichtet hatte. Le Moan zählte erst vierzehn Jahre. Auch sie hatte schon von der Ankunft des neuen Häuptlings erfahren, der die längst totgeglaubte Katafa mit sich brachte. Sie hatte den Befehl gehört, den die Frauen ihrem Großvater Aioma überbrachten, und sie wußte, daß er sofort zum nördlichen Ufer fahren sollte, um Kanus für den neuen Häuptling zu bauen. Sie hatte auch die Weigerung des alten Mannes gehört. Le Moan hätte gern gewußt, wie dieser neue Häuptling wohl aussehen mochte. Sie dachte an den großen, starken Uta Matu, den letzten König von Karolin. Und nun, als das Kanu an Land gezogen wurde und die Frauen riefen: »Er kommt!«, sah sie Dick.

Die Sonne schien ihm ins Gesicht und ließ seine rotgoldenen Haare aufleuchten. Er war braungebrannt, schlank wie ein Panther und hochgewachsen wie ein Wurfspeer. Dick sah nur die drei alten Männer, die ihm den Blick zuwandten.

Le Moan hielt den Atem an, als dieser ungewöhnliche Mann näher kam. Ohne ein Wort ging er an ihr vorüber und blieb vor Aioma stehen, dem ältesten und größten der Kanubauer.

Le Moan zählte erst vierzehn Jahre, aber sie war beinahe so groß wie Katafa. Sie war keine reine Polynesierin, obwohl ihre Mutter von der Insel Karolin stammte. Ihr Vater war ein Matrose auf dem spanischen Schiff gewesen, das Uta Matu vor vielen Jahren zerstört hatte. Von ihm hatten sich so viele europäische Merkmale auf sie vererbt, daß sie sich von den anderen Inselbewohnern wie eine Fichte von Palmen unterschied.

Sie war schön wie eine Knospe, die sich zu entfalten beginnt; sie hatte dunkle Augen und dunkles Haar, und ihr Wesen war so rätselhaft und seltsam wie die Tiefe des Meeres selbst. Manchmal saß sie allein unter den Bäumen und neigte den Kopf, als ob sie einer geheimen Stimme lauschte, die ihr aus dem Rauschen der Brandung entgegentönte. Es waren Worte, die sie nicht ganz verstehen konnte. Und manchmal saß sie an den kleinen Teichen und schaute in das Wasser, das kristallklare Wasser, in dem Korallenriffe blühten und Fische schwammen. Aber sie schien mehr zu sehen als nur dieses.

Die Mischung zweier vollkommen fremder Rassen bringt manchmal merkwürdige Menschen hervor. Zuweilen war es, als ob Le Moan Stimmen und Visionen verwirrten, die aus den weit entfernten Ländern ihrer Vorfahren kamen.

Sie ging mit Aioma auf den Fischfang, und wenn der Alte das Mädchen an Bord hatte, fürchtete er niemals, das Land außer Sicht zu verlieren, denn Le Moan war ein Pfadfinder.

Wenn man ihr auf den Korallenriffen die Augen verbunden hätte, würde sie doch den Heimweg gefunden haben. Und hätte man sie auf die hohe See hinausgebracht, so wäre sie zum heimatlichen Ufer zurückgekehrt wie eine Brieftaube, denn wie diese Vögel hatte sie einen Kompaß in ihrem Gehirn.

Das war die einzige Gabe, die sie von ihrer Mutter Le Jenabon geerbt hatte, und diese verdankte sie den seetüchtigen Vorfahren einer längst vergangenen Zeit.

Und nun sah Le Moan Dick, der vor Aioma stand, und sie hörte seine Stimme.

»Du bist Aioma?« sagte der weiße Mann, der durch Instinkt sofort den Führer der drei erkannte.

Die drei alten Männer erhoben sich. Die schlanke, sehnige Gestalt des Fremdlings hatte schon tiefen Eindruck auf sie gemacht, aber daß er Aioma herausfand, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte, zeigte ihnen, daß sie einen Häuptling vor sich hatten.

»Ich bin Aioma«, entgegnete der Alte. »Was willst du von mir?«

»Das haben dir die Frauen schon gesagt«, erwiderte Dick, der es haßte, viele Worte zu machen oder sich zu wiederholen.

»Sie erzählten mir von dem neuen Häuptling, der zum Nordufer gekommen ist und befohlen hat, Kanus zu bauen«, antwortete Aioma. »Und ich sagte, daß ich zu alt bin. Uta ist tot, und ich kenne keinen Häuptling außer Uta. Auch sind in dem letzten Krieg auf jener Insel im Norden alle Männer von Karolin gefallen und nicht mehr mit ihren Kanus zurückgekehrt. Welchen Zweck hat es also, daß wir noch mehr Kanus bauen, wenn wir keine Krieger zur Bemannung haben?«

»Die Krieger wachsen heran«, sagte Dick.

»Ja, sie wachsen heran«, brummte Aioma, »aber es wird noch viele Monate dauern, bis sie Ruder und Speere gebrauchen können – und selbst wenn sie es können, wo ist denn der Feind? Das Meer ist klar.«

»Aioma, ich bin von dort gekommen.« Dick zeigte nach Norden. »Das Meer ist nicht klar.«

»Bist du von Marua gekommen?«

»Ja, von der Insel der Palmbäume. Eines Tages landete Katafa dort in ihrem Kanu, und wir lebten zusammen, bis vor kurzem fremde Männer an unser Ufer kamen. Sie haben gemordet, geplündert, gebrannt, selbst das große Kanu, in dem sie kamen, haben sie in Flammen aufgehen lassen. Dann segelten Katafa und ich nach Karolin, denn Karolin hat mich gerufen, sein Volk zu regieren.«

»Und die Männer in Marua, die gelandet sind, um zu morden und zu brennen?« fragte Aioma.

»Die sind noch auf der Insel. Sie haben keine Kanus, aber mit der Zeit werden sie Boote bauen, und dann kommen sie bestimmt hierher.«

Aiomas Gefährten sagten kein Wort, während er den Bück zu Boden senkte, als ob er dort Rat finden könnte. Dann richtete er sich auf und sah Dick an. Alter und Krieg hatten Aioma weise gemacht. Er kannte die Menschen, und er wußte, wann die Wahrheit gesprochen wurde.

»Ich will das tun, worum du mich bittest, Taori«, sagte er schlicht. Dann wandte er sich zu den anderen, sprach einige Worte mit ihnen, gab Anweisung, was sie bis zu seiner Rückkehr tun sollten, und ging zum Kanu voraus.

Le Moan saß noch bei der Quelle. Sie schwieg, aber ihr Blick hing gebannt an dem fremden Mann, der so anders war als die Menschen, die sie bisher gesehen hatte. Vielleicht sagte ihr eine Ahnung, daß auf wunderbare Weise ein Mann nach Karolin gekommen war, der zu der Rasse ihres Vaters gehörte; vielleicht fesselte sie auch nur die Anmut und die Jugendkraft dieses Fremdlings – wer weiß das?

Als Dick sich umwandte, sah er sie zum erstenmal, und als sich ihre Blicke begegneten, blieb er einen Augenblick stehen. Ihre merkwürdige Erscheinung zog ihn an. Aber dann senkte er die Augen, ging weiter, nahm das Steuerruder und stieß ab. Wieder füllte der Wind das Segel, der von dem Tor im Korallenriff kam.

Le Moan erhob sich, beschattete die Augen mit der Hand und beobachtete, wie das Segel auf der glitzernden Wasserfläche immer kleiner wurde, wie sich das Kanu auf den Wellen hob und senkte, als die Flut von Osten in die Lagune strömte, und wie es die weiße Brandung der nördlichen Küste erreichte, wo Katafa auf die Rückkehr ihres Liebsten wartete. Der Wind spielte mit den Locken Le Moans und enthüllte die schimmernde Doppelperle, die sie hinter dem linken Ohr ins Haar gebunden hatte.


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