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6

Als das Gewehrfeuer aufgehört hatte und das Boot zum Schiff zurückgekehrt war, kamen die verängstigten Leute heraus, die sich zwischen den Büschen und Bäumen versteckt hatten. Sie umgaben Aioma und Taori, der sie durch seine kühne Tat für den Augenblick gerettet hatte. Er war jetzt nicht nur ihr Häuptling, er war ihr Gott. Und doch ahnten sie instinktiv etwas von der Schlechtigkeit und der Energie der weißen Männer, und sie wußten, daß die Gefahr nicht vorüber war.

Aioma und Katafa verteilten Nahrung. Unter den anderen saßen still und reglos zwei Frauen, Nanu und Ona, und jede hielt ein totes Kind in ihren Armen. Das eine war sofort tot gewesen; Onas Kind dagegen war langsam gestorben. Es hatte sich zu Tode geblutet, während es leise klagte und weinte.

Die beiden Frauen sahen unheimlich aus. Teilnahmslos starrten sie vor sich hin und rührten weder Speise noch Trank an. Die anderen waren durch die unerwarteten Ereignisse so sehr erschreckt und verstört, daß sie sich selbst kein Essen hatten zubereiten können, aber doch verzehrten sie begierig alles, was Aioma und Katafa ihnen gaben. Als dann die Dunkelheit hereinbrach, krochen sie in die Verstecke in den Gebüschen zurück, während sich Dick im Schutz der Finsternis am Ufer entlangschlich. Katafa hatte er in der Obhut Aiomas zurückgelassen. Er kam zu dem Strand, wo die Möwen noch an den Leichen fraßen, und ging lautlos weiter, bis er in gleicher Höhe mit dem Schoner stand.

An Deck zeigten sich keine Lichter, und nichts rührte sich. Nur die beiden Messingrahmen der Kabinenluken leuchteten im Mondlicht.

Dick setzte sich auf einen Teil des Korallenriffes, den Sand und Wellen glattgewaschen hatten, und beobachtete die Kermadec. Schließlich erschienen im Vorderschiff zwei Gestalten: Le Moan und Kanoa. Sie näherten sich einander, dann verschwanden sie wieder, und aufs neue war das Deck vollkommen verlassen. Aber Dick wartete. Seine Gedanken arbeiteten, und er ahnte dunkel den Plan Rantans voraus. Morgen würden sie nicht mit dem Boot kommen, sondern mit dem großen Schiff näher segeln und direkt dem Dorf gegenüber haltmachen. Und mit diesen schrecklichen Stöcken, die so laut brüllen und so weit treffen konnten, würden sie wieder feuern. Und wo sollten die Leute dann hingehen? Das langgestreckte, kreisförmige Riff bot keinen Schutz. Wenn sie von den Bäumen und den kleinen Purakafeldern abgeschnitten wurden, mußten sie verhungern. Auch mangelte es dann an Trinkwasser. Um zu leben, mußten sie in der Nähe des Dorfes bleiben.

Dick hatte das Kinn in die geballten Fäuste gestützt und sah zu dem Schoner und den beiden bösen, golden glänzenden Lichtern hinüber, die ihn unheimlich wie die Augen eines wilden Tieres anstarrten.

Wäre nur ein einziges Kanu übriggeblieben, so wäre er mit Aioma an das Schiff herangerudert und hätte die bösen weißen Männer angegriffen. Aber die Kanus waren alle zerstört – auch sein Ruderboot.

Während er hilflos am Ufer saß und Haß und Wut wie höllisches Feuer in seinem Herzen brannten, verschwanden die goldenen Augen plötzlich. Rantan hatte das Licht in der Kabine ausgemacht.

Der Mond stieg höher und höher, und Dick wurde nun von weitem Zeuge der Tragödie, die sich an Bord abspielte. Er sah, wie die Besatzung aus ihren Quartieren an Deck kam, wie sie hinter der Reling verschwanden, als sie sich am Boden niederkauerten. Einige Zeit darauf schlich sich Le Moan nach der Tür, die zu den Kabinen führte. Wie ein Schatten folgte ihr Kanoa. Dann gellte der Schrei des tödlich verwundeten Carlin durch die Nacht.

Schließlich versammelten sich die Kanakas hinten. Carlins Leiche wurde an Deck gezerrt und über Bord geworfen. Hoch spritzte das im Mondschein glitzernde Wasser auf und leuchtete phosphoreszierend. Dann brachten die Leute auf ihren Schultern etwas Weißes und legten es an Deck nieder.

Laternen wurden jetzt angezündet; die beiden Kabinenluken leuchteten auf und wurden wieder dunkel, als die Kanakas die Lampe aus dem Halter nahmen und sie oben zum Schmuck in den Wanten aufhingen. Der Vollmond strahlte so hell, daß sie genau sehen konnten und kein anderes Licht brauchten; aber die Kanakas waren nicht nüchtern, sondern trunken und erregt von ihrem Erfolg. Wenn sie auch angeblich freie Männer waren, so fühlten sie sich doch wie Sklaven, deren Fesseln plötzlich gesprengt waren. Außerdem hatten Rantan und Carlin sie ja töten wollen, wie sie Sru und die anderen getötet hatten. Und obendrein hatten sie noch eine Flasche Ingwerwein gefunden, die in dem Medizinschrank aufbewahrt wurde. Peterson hatte ihn für ein gutes Mittel gegen Kolik gehalten. Carlin hatte von der Existenz dieser Flasche nichts erfahren, aber Poni, der auch die Dienste eines Stewards verrichtete, wußte darum. Er hatte vorher schon heimlich davon probiert und den Inhalt vorzüglich gefunden.

Die Kanakas tranken aus einem Zinnbecher, der die Runde unter ihnen machte.

Dann klangen laute Stimmen über das Wasser, eine Eingeborenengeige ertönte, und die Kanakas führten unter ausgelassenem Gelächter einen Freudentanz auf. Hin und wieder mischte sich der Schrei einer Raubmöwe dazwischen.

Dick erhob sich und wanderte zu den Bäumen zurück. Er war nicht mehr so bedrückt und fühlte sich freier. Er wußte zwar nicht genau, was sich zugetragen hatte, aber auf jeden Fall waren seine Feinde untereinander uneinig. Sie hatten einen Streit gehabt, und einer war dabei getötet worden. Er legte sich an Katafas Seite nieder und fiel bald in Schlaf, während Taiepu Wache hielt.

Beim Morgengrauen schrie Taiepu wie eine Möwe und eilte zu den Bäumen, während die Leute aus dem Gebüsch hervorkamen. Sie liefen zur Küste und sahen Le Moan. Der Schoner hob sich von dem Morgenrot im Osten als dunkle Silhouette ab. Hundert Meter entfernt lag das Boot am Ufer.

Le Moan kniete vor Taori und erzählte, was sie erlebt hatte. Ab und zu sah sie in sein Gesicht, mit schnellen Blicken, als ob sie in das Licht der Sonne selbst schaute, das ihn strahlend umflutete.

Dick hörte ihre schlichten Worte und ahnte, welche Opfer sie gebracht hatte und mit welchem Heldenmut sie den Feind geschlagen hatte. Aber er ahnte nichts von ihren wirklichen Motiven, nichts von der wilden Leidenschaft, die sie fast tötete, als Katafa sie umarmte, auf die Stirn küßte und zärtlich wie eine Schwester zu den schützenden Bäumen führte.

Die Menge der Leute hatte bald die große Gefahr und die Rettung vergessen. Sie liefen alle an das sandige Ufer, bis sie zu dem wartenden Boot kamen. Frauen, Jünglinge und Kinder begrüßten mit lauten Willkommenrufen die Kanakas.

Poni, der hinten am Steuer saß, erhob sich und winkte mit den Armen. Nach ein paar Ruderschlägen knirschte der Kiel im Sand, und im nächsten Augenblick verbrüderte sich die Besatzung der Kermadec mit den Einwohnern von Karolin. Sie umarmten sich wie Verwandte, die einander verloren geglaubt hatten.

Dick beobachtete alles. Er stand abseits von den anderen und war in diesen Augenblicken freudiger Erregung etwas ausgeschaltet. Aber er blieb der Häuptling, auch wenn ihn die Leute für kurze Zeit vergaßen. Er trat an das Boot heran, sah hinein und entdeckte die nackte Gestalt Rantans, der mit dem Bettuch gefesselt auf dem Boden des Bootes lag.

Dick ging noch näher, und die Blicke der beiden Männer trafen sich.

Rantan war ein weißer Mann.

Der Schiffsmaat kannte die Inseln und ihre Bewohner genau. Er wußte, daß es mit ihm vorbei war. Deshalb lag in seinen harten Augen auch kein Bitten und Flehen. Goldbraun erhob sich vor ihm die Gestalt Taoris, dessen Gesicht nicht dem eines Kanakas glich und der doch ganz wie einer der Inselbewohner aussah. Rantan schaute auf ihn, wie ein weißer Mann auf einen Eingeborenen schaut.

Einen Augenblick schienen die beiden ihre Rassenverwandtschaft zu erkennen, aber nur einen Augenblick, dann schwand die leise Erinnerung wieder.

Dick wußte nicht, daß er selbst ein Weißer und von demselben Blut war wie der Mann, der im Boot lag, aber es überkam ihn eine seltsame Unruhe. Er wandte sich an Aioma.

»Wird er sterben?«

»Natürlich wird er sterben«, erwiderte der alte Mann kichernd. »Wir töten doch auch den Hundsfisch, wenn wir ihn fangen. Er hat unsere Kanus zerstört und die Kinder umgebracht. Ist es nicht gerecht, daß er auch stirbt?«

Dick nickte stumm. Dann drehte er sich zu Nanu und Ona um, die am Ufer standen und immer noch ihre toten Kinder in den Armen hielten.

»Es ist gerecht, und es soll so sein«, sagte er. »Sieh zu, daß es geschieht, Aioma.« Ohne noch einen Bück auf das Boot zu werfen, ging er an den zertrümmerten Kanus und den von den Möwen zerhackten Leichen vorbei den Bäumen zu.

Aioma war nicht länger er selbst. Ein böser Geist fuhr in ihn. Er lief zu dem Boot, stieß gurgelnde Laute aus, rieb seine Hände und schlug sich vor Erregung auf die Hüften.

Die Ebbe war auf ihrem Höhepunkt angelangt, und der alte Korallenblock, auf dem die Opfer Naniwas in früheren Zeiten für die Haifische angebunden wurden, war trocken und wartete nur auf Beute. Die Stelle lag halbwegs zwischen dem Dorf und dem Tor des Morgens. In alten Zeiten wußte man immer, wann eine Hinrichtung stattfand, denn es zeigten sich auf der Oberfläche der Lagune die Rückenflossen der Tigerhaie. Aber heute morgen war nichts davon zu sehen.

Rantan sollte einen schlimmeren Tod finden. Aioma stand bei dem Boot und rief das Volk zusammen, um Rache zu nehmen. Aber plötzlich trat Nanu mit ihrem toten Kind zu ihm, und hinter ihr erschien Ona.

»Er gehört uns«, sagte Nanu.

Aioma fuhr sie an wie ein wütender, alter Hund und wollte sie schon unter die Menge zurückstoßen, als Ona einen Schritt vortrat.

»Er gehört uns«, sagte auch sie und sah auf den gebundenen Weißen, als ob er ein Paket oder ein Stück Ware wäre, das sie für sich beanspruchte.

Die Leute mischten sich ein, und alle riefen durcheinander.

»Er gehört ihnen! Er hat ihre Kinder gemordet. Gib ihnen den weißen Mann für ihre Kinder.«

»So soll es sein«, entgegnete Aioma. Er war zu sehr Diplomat, um in einer solchen Angelegenheit gegen die Meinung der Menge zu handeln. Er selbst war neugierig, in welch schrecklicher Form sich die Frauen rächen würden. »Was wollt ihr mit ihm machen?«

»Wir wollen ihn mit uns zum Südufer nehmen. Wir ganz allein«, erklärte Nanu bestimmt.

»Wir wollen mit ihm allein sein«, sagte Ona und setzte ihr totes Kind von der rechten Hüfte auf die linke.

»Aber wie wollt ihr ihn denn dorthin bringen?«

»In einem Kanu.«

»Dann müßt ihr erst eins bauen«, erwiderte Aioma.

»Das ist doch dummes Geschwätz. Ihr wißt sehr gut, daß die Kanus vernichtet sind.«

»Aioma«, sagte Nanu, »wir haben noch ein kleines Kanu, das ganz ist. Es liegt in dem letzten Kanuhaus, so tief verborgen, daß es bisher übersehen wurde. Es gehörte meinem Mann, dem Vater meines Kindes, der mit den anderen Männern fortgezogen ist. Ich habe nicht davon gesprochen, und niemand hat es gesehen, denn es geht keiner mehr in die Kanuhäuser, nachdem die Kriegsboote nicht mehr zurückgekommen sind.«

»Gut, dann soll man es herbringen«, antwortete Aioma. Er blieb am Ufer stehen, während ein Dutzend Leute fortlief, um das Boot zu holen. Es dauerte nicht lange, bis sie das Kanu mit einem Ausleger auf das Wasser der Lagune gebracht hatten. Zwei Knaben saßen an den Rudern und brachten es langsam zu der Stelle, wo Aioma stand. Die toten Kinder wurden mit Kokosstricken auf die Brücke gebunden. Dann packten die Leute Rantan und hoben ihn in das Kanu. Gleich darauf schoben es die Frauen ins Wasser, sprangen hinein und richteten das Segel auf.

Das Steuerruder glänzte im Sonnenschein, und die Menge beobachtete, wie sie sich immer weiter entfernten und wie das Boot kleiner und kleiner wurde.


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