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9

Le Moan hatte niemals Mitleid gekannt. Sie hatte unter Menschen gelebt, die ohne Mitleid waren, und wenn eine solche Regung in ihrem Herzen schlummerte, so war sie bisher nicht an die Oberfläche gekommen. Sie hatte gesehen, wie ihr Volksstamm überfallen und vernichtet wurde. Die Überlebenden waren mit den Kriegern des nördlichen Stamms unter Uta Matu in den großen Kriegsbooten auf die See hinausgefahren. Sie hatte Kampf und Mord, plötzlichen Tod, Sturm und Zerstörung gesehen; sie hatte beobachtet, wie Schwertfische miteinander kämpften und wie Haie Menschen verschlangen. Aber all dies hatte sie ungerührt gelassen. Auch Rantan wäre nicht davon bewegt worden. Aber zwischen dem Verhalten dieser beiden mitleidlosen Menschen lag eine Kluft, die größer war als die Entfernung zwischen zwei Sternen.

Le Moan hatte sich für Taori geopfert; sie war dem Unbekannten entgegengetreten, um den Mann zu retten, den sie mit aller Glut ihres Herzens liebte. Und dann hatte sie nicht den Tod gefunden, sondern ein viel schrecklicheres Los – die Trennung von ihm.

Um nach Karolin zurückzukehren und Taori wiederzusehen, hätte sie, wenn es notwendig gewesen wäre, die Kermadec und ihre ganze Besatzung vernichtet, ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken, ebenso wie sie sich selbst geopfert hätte, nur um ihn zu retten. Rantan hätte das nicht verstehen können, selbst wenn es ihm noch so eingehend erklärt worden wäre.

Den ganzen Tag dachte er über seinen schwarzen Plan nach und musterte im Geist die Hilfskräfte, die ihm zur Verfügung standen. Sru, Carlin, die Mannschaft, die Kermadec und nicht zuletzt Le Moan, die das Schiff lenken sollte. Aber das einzig Wichtige an ihr war das absolute Orientierungsvermögen, das sie mit den Fischen und den Vögeln teilte. Sonst hatte sie seiner Meinung nach keine Bedeutung.

Die Kermadec hatte in Soma Schildkrötenschalen geladen und sollte in Levua eine Ladung Sandelholz an Bord nehmen. Von dort fuhr der Schoner dann nach San Franzisko. Aber Rantan glaubte jetzt, daß sie diesen amerikanischen Hafen nie mehr erreichen würde. Alles hing von Carlin ab. Er allein konnte den Plan nicht zur Ausführung bringen, auch wenn Sru ihm half. Carlin war aber ein verantwortungsloser Geselle; aus jedem anderen Schiff wäre er längst hinausgeflogen. Aber wenn er auch ein noch so heruntergekommener Mensch war, er blieb immerhin ein weißer Mann, und Rantan hielt es für unbedingt notwendig, auf der abenteuerlichen Fahrt, die er plante, einen Weißen bei sich zu haben. Am Abend nahm er deshalb Carlin beiseite und horchte ihn aus.

»Morgen kommen wir in Levua an«, begann er. »Waren Sie schon einmal dort?«

»Nein, ich kenne die Insel nicht, und ich habe auch gar keine Sehnsucht danach. Der Alte hat schon genügend davon erzählt. Es ist ja niemand dort als der verdammte alte Sandelholzhändler und die Kanakas, die er zum Baumfällen braucht. Ich möchte nach Tahiti. Wenn wir nach Frisco kommen, finde ich viele Dampfer, die dorthin fahren.«

»Schon möglich. Aber meiner Meinung nach ist in Tahiti nicht viel los. Haben Sie nie daran gedacht, daß man hier auf den Südseeinseln viel Geld machen und bessere Arbeit tun kann, als sich an der Küste herumzutreiben? Ich meine keine harte Arbeit, ich meine Geld, das einem zufließt und das man nur aufzuheben braucht! Viel Geld.«

Der große Mann lachte und spuckte über die Reling.

»Das glaube ich nicht. Leute wie Sie und ich können das jedenfalls nicht machen. Leere Muscheln kann man hier die schwere Menge auflesen, aber weiter nichts. Die Austern haben schon andere verzehrt.«

»Wie würde es Ihnen gefallen, wenn Sie zehntausend Dollars auf einen Schlag verdienen könnten?« fragte Rantan. »Nicht nur zehn-, zwanzig-, dreißigtausend, vielleicht noch mehr. Und Sie hätten weiter nichts zu tun, als die Kanakas zu beaufsichtigen, wenn sie nach Perlen tauchen.«

Carlin sah ihn von der Seite an.

»Worauf wollen Sie denn hinaus?«

»Ich werde es Ihnen sagen. Ich kenne eine Perleninsel. Sie liegt nicht weit von hier. Eine Lagune, die noch niemand entdeckt hat. Dort gibt es genug Perlen, um ein Dutzend Leute steinreich zu machen. Aber um hinzukommen, brauche ich ein Schiff. Nun habe ich aber keins und auch nicht genügend Geld, um eins zu chartern. Ich bin ebenso mittellos wie Sie.«

»Worauf wollen Sie hinaus?« wiederholte Carlin, dessen Interesse nun erwacht war.

»Ich habe nur gesagt, daß ich kein Schiff habe. Aber ich wüßte, wie ich eins bekommen könnte, wenn ich einen Partner fände, der mir helfen würde, es zu nehmen.«

Carlin lehnte sich weiter über die Reling und spuckte wieder ins Meer. Mit unheimlichem Instinkt hatte er sofort begriffen, was Rantan wollte.

»Haben Sie aber auch an die Kanakas gedacht?« fragte er. »Wenn die verdammten Kerle vor Gericht gestellt und verhört werden, blubbern sie alles heraus. Ich habe es schon erlebt«, sagte er und wischte mit dem Handrücken über den Mund. »Es handelte sich um die Versenkung eines Schiffs, und der Junge, der es getan hatte, bekam zehn Jahre, nur weil diese verdammten Kanakas den Schnabel nicht halten konnten.«

Rantan lachte. »Überlassen Sie die Kanakas nur mir. Ich habe schon den nötigen Mut, die Sache durchzuführen. Wollen Sie mir helfen?«

»Ich will nicht sagen, daß ich nicht mitmache«, entgegnete Carlin. »Wie steht es denn mit der Navigation? Sie können doch nicht viel machen – oder doch? Vielleicht haben Sie nur so getan, als ob Sie nichts davon verstünden?«

»Ich kann das Schiff schon an Ort und Stelle bringen. Überlegen Sie sich die Sache. Wir haben noch Zeit genug und brauchen nichts zu überstürzen. Aber bedenken Sie, daß eine Menge Geld dabei zu verdienen ist. Und wenn es tatsächlich dazu kommen sollte, brauchen Sie sich nicht um das Risiko zu sorgen. Ich bin nicht waghalsig und bringe schon alles in Ordnung.«

Er wandte sich ab, ging nach hinten und ließ Carlin allein an der Reling.

Was Carlin früher auch gewesen sein mochte, jetzt war er vollständig heruntergekommen. Die besten Männer erschlaffen, wenn sie auf den Südseeinseln leben; sie haben zuviel Sonne und zuwenig zu tun. Die Sonne tötet oder demoralisiert mehr Menschen als der Whisky. Um ihre Glut auf die Dauer aushalten zu können, muß man in den Tropen geboren sein wie Katafa, Dick oder Le Moan, und man muß niemals Kleider getragen haben.

Manchmal, aber sehr selten, ist ein weißer Mann innerlich und äußerlich dem Aufenthalt in jener Gegend gewachsen. Carlin war äußerlich gegen die Sonne gefeit; er fühlte sich sogar wohl in der Hitze. Aber innerlich war er vollständig zerbrochen. Er kannte nur noch ein Ziel im Leben: Whisky – oder Rum oder Genever oder auch Samschu, den Reisschnaps der Chinesen. Aber wenn er wählen konnte, trank er am liebsten Whisky.

Auch an Bord der Kermadec gab es Whisky, aber nicht für Carlin. Peterson, der ebenso nüchtern war wie Rantan, verwahrte ihn genau so gut wie die Viterli-Gewehre in dem Waffenschrank, die nur im äußersten Notfall gebraucht werden durften. Die Flaschen waren unter Verschluß, aber Carlin hatte doch herausgebracht, wo sie standen.

Dieser Alkohol an Bord wirkte wie ein böser Genius auf ihn, unsichtbar, aber doch unheilvoll. Er erinnerte ihn dauernd an das Gespräch mit Rantan, und selbst im Schlaf arbeitete sein Einfluß weiter. Carlin sah im Traume die Kermadec, die zu der unbekannten Perleninsel fuhr; er sah Reichtum und zahllose Whiskyflaschen. Mit Rantan als Führer befand er sich an Deck des Schiffes; von Peterson war nichts zu sehen.

Am nächsten Tag hatte Sru die Morgenwache und stand am Steuer. Rantan lehnte mit der Pfeife im Mund an der Reling. Die Sonne war gerade aufgegangen und streute Gold auf die Meeresfläche.

Sru fühlte den warmen Schein auf dem Rücken, Rantan auf der Wange. Von weither hörten sie einen Möwenschrei, und gleich darauf rief der Kanaka aus dem Mastkorb: »Land!«

Rantan ging nach vorn. Rechts vor ihm erhob sich über der unendlichen See die Insel Levua, in leichte Dunstschleier gehüllt.

Sie waren noch weit von der Insel entfernt, die im Glast der aufgehenden Sonne zwischen der blauen See und dem Himmel zu schweben schien.

Als Rantan wieder nach hinten ging, sah er, daß Le Moan neben Sru stand. Der Kanaka erklärte ihr, wie das Rad das Steuer selbst lenkte. Die Kermadec lag vor dem Wind und hatte alle Segel gesetzt. Sru sprach auch darüber mit dem Mädchen und zeigte ihr, wie er durch das Steuerruder den Kurs ändern und dadurch entweder die Segel mit Wind füllen oder den Wind aus ihnen herausnehmen konnte. Le Moan verstand, denn Seetüchtigkeit war ihr angeboren. Sie hatte sich inzwischen an die weiten Strecken gewöhnt, die der Schoner durchfuhr, und fühlte keine Furcht mehr; schließlich war die Kermadec nur ein großes Kanu.

Einen Augenblick übergab er ihr das Steuerrad. Er legte die Hand leicht darauf und leitete sie, aber nach einer Weile trat er zur Seite, und Le Moan steuerte allein.

Sekundenlang merkte man nicht, daß die Kermadec einen neuen Führer hatte, dann flatterten die Segel plötzlich unruhig. Aber gleich darauf waren sie wieder vom Wind gefüllt. Instinktiv hatte Le Moan alles verstanden, und gefühlsmäßig wußte sie, wie sie steuern mußte, um das Schiff am Wind zu halten.

Taori, Karolin und Sru waren vergessen, auch die Worte, die Sru kurz vorher zu ihr gesagt hatte. »Kleines Mädchen, du wirst Taori wiedersehen. Aber erst mußt du lernen, wie man ein Steuer regiert.« Alles war vergessen in diesem ersten Machtrausch, der über sie kam, als sie erkannte, daß sie dieses Schiff allein lenken konnte.

Aioma hatte sie gelehrt, ein Fischerkanu zu steuern. Aber das war schon so lange her, daß sie sich kaum daran erinnerte, wann sie zum erstenmal selbst das Ruder geführt hatte. Dies war ganz anders. Es unterschied sich davon wie der Kuß eines Geliebten von dem eines Freundes, wie das Bild Taoris von dem eines anderen Mannes. Ihre Seele war ganz davon erfüllt; ein berauschendes Gefühl packte sie, und sie wuchs über sich selbst hinaus.

Sru und Rantan beobachteten sie scharf. Die beiden Männer erkannten sofort, daß das Schiff sicher war, wenn das Steuer Le Moan anvertraut wurde. Man hätte annehmen können, daß sie die schlanke Mädchengestalt bewunderten, die sich von dem blauen Himmel und dem Glanz des Morgens abhob. Aber sie hatten kein Auge für Le Moans Schönheit; ihre Gedanken beschäftigten sich mit anderen Dingen.

Plötzlich kam Peterson von unten herauf.

Rantan wurde bleich und starrte auf den Kapitän. Sru wischte sich mit dem Rücken der Hand über die Nase und trat verwirrt von einem Fuß auf den anderen. Le Moan sah nichts.

Ohne daß sie vergaß, das Steuer zu handhaben, nahmen ihre Gedanken einen kühnen Flug. Sie sah sich, wie sie die Kermadec nach Karolin steuerte; ihre Phantasie zeigte ihr das Korallenriff, die Seemöwen und den großen, klaren, tiefblauen Spiegel der Lagune.

Peterson beobachtete sie einen Augenblick, ohne weiterzugehen. Er verstand nicht, um was es sich handelte; er sah nur, daß man ihr erlaubt hatte, das Steuer zu führen. Als dann Sru in die Speichen des Rades griff und sie leicht zur Seite schob, wandte sich der Kapitän an Rantan. Aber der Fluch auf seinen Lippen erstarb halb, als er das Gesicht des Mannes sah.

»Machen Sie so etwas nie wieder«, sagte er. »Das ist eine unverzeihliche Dummheit.« Brummend ging er zum Vorderschiff, stieß einen Kanaka zur Seite, der ihm im Weg stand, und sah nach Levua hinüber, das jetzt opalfarben mitten in dem blauen Meer aufglänzte.


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